Sergej Rachmaninow in der Schweiz-Mehr im Blog der Akademie

Sergej Rachmaninow in Hertenstein bei Luzern

Im Jahre 2000 legt Alexandre Rachmaninow, der Enkel des Komponisten, in der Villa „Senar“ in Hertenstein den Grundstein für eine Stiftung, die sich um eine bessere Verbreitung der Musik seines Großvaters kümmern und das Haus am Vierwaldstättersee mit all den Dokumenten und Requisiten aus Rachmaninows Aufenthalt zwischen 1931 und 1939 betreuen sollte.

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Weggis (rechts) und Hertenstein mit Rachmaninows Anwesen (links) © AntonovClubAvianna ANC

Alexandre lebt bis zu seinem Tod 2012 in der Villa Senar am See. Testamentarisch wird von ihm der Kanton Luzern als Miterbe festgelegt. Bis Ende 2021 soll dieser sich für oder gegen die Annahme dieses Erbteils entscheiden. Das Kantonsparlament hat sich nun für einen 15 Millionen-Kredit entschieden, mit dem die Villa gekauft (8 Mio.), saniert und für 10 Jahre unterhalten wird (7 Mio.). Somit verfügt der Kanton Luzern über die Villa Senar, die seit 2018 unter Denkmalschutz steht. Hier soll ein musikalisches Kulturzentrum für die Allgemeinheit entstehen und zur Ausstrahlung der Stadt Luzern als Musikstadt (Lucerne Festival) seinen Teil beitragen. Vor Jahren meldeten sich zwei Investoren mit je einer anderen Vorstellung: Wladimir Putin wollte hier eine Gedenkstätte für Rachmaninow und ein russisches Musikzentrum errichten, ein deutscher Professor plante eine gigantische Burnout-Klinik mit 400 Betten: Beide Projekte haben sich zerschlagen, Gott sei Dank!

Alexandres Witwe Natalia ist es zu verdanken, dass in der Senar-Villa alles so erhalten ist, wie Rachmaninow sie 1939 verlassen hat: Briefe, Fotos, Partituren, ein ganzer Anzug, Möbel, und natürlich der Flügel, ein Geschenk von Steinway & Sons zu seinem 60. Geburtstag.

Ukraine – Amerika – Zentralschweiz

Nach seiner Flucht während der Revolutionswirren 1917 aus seinem Landsitz Ivanovka in der Ukraine – ein Erbe mütterlicherseits – lebt Rachmaninow 13 Jahre in Amerika, wo er als Konzertpianist zu Reichtum kommt, allerdings auf Kosten seiner kompositorischen Inspiration.

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Foto undatiert (gemeinfrei)

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Halbinsel: Foto 1934 von W. Mittelholzer (gemeinfrei)

Ende der 1920er Jahre möchte er zurück nach Europa und dort angesichts der Weltwirtschaftskrise sein Geld investieren. In Erinnerung an seine damalige Hochzeitsreise 1902 in die Zentralschweiz reagiert er auf einen Wink eines dortigen Bekannten auf ein Verkaufsangebot auf der Halbinsel von Hertenstein: eine grosse Parzelle am See, am Fuss der Rigi, des in der Literatur verewigten Berges (Mark Twain, Alphonse Daudet). Er beauftragt zwei einheimische Architekten, die dem „Neuen Bauen“ in der Innerschweiz, in der Nachfolge des deutschen „Bauhauses“, zuzuzählen sind. In diesen Tagen, wo hier überall der Chalet-Bau floriert, erzeugt das moderne Gebäude einige Verwunderung. Das umliegende Gelände wird ausgeebnet und Rachmaninow plant eigenhändig die Gestaltung des Parks: hier sollen Bäume und Blumen wachsen, die er aus seiner Zeit in der Ukraine kennt. Während der Bauzeit ab 1930 bezieht die Familie – mit seiner Frau Natalja und den Töchtern Irina und Tatjana – das kleine Gartenhaus am Rande des Anwesens und 1934 kann in die prächtige Villa „Senar“ (Se=Sergej, na=Natalja, r=Rachmaninow) eingezogen werden.

Nun findet der Meister endlich wieder zur Komposition zurück, dank dieses Rückzugs an einen idyllischen Ort mit Blick auf den See und die umliegenden Berge (Pilatus gegenüber, Rigi im Rücken). Das Klima ist in dieser Ufergegend besonders mild und das Getriebe der urbanen Welt sowieso weit weg. Zudem liegt Luzern nur 15 Min. Bootsfahrt entfernt, wo mit dem Bau des Konzerthauses 1933 sich ein bedeutender Musikbetrieb entwickelt, bis hin zum ersten Festival, den „Luzerner Musikfestwochen“ 1938 mit Arturo Toscanini und dem Orchester der Scala Mailand.

In diesen Jahren entstehen zwei große Klavierwerke und eine Symphonie während seiner jährlichen Aufenthalte über Sommer und Herbst.

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Villa SENAR heute (von Norden her)  © Kanton Luzern

Corelli-Variationen op. 42 für Klavier (1930)

In der allgemeinen Rezeptionsgeschichte werden diese Variationen oft den drei „Senar“-Kompositionen zugerechnet. In Wirklichkeit sind sie während eines Zwischen-Aufenthaltes in der Nähe von Paris nach seiner Rückkehr aus Amerika entstanden und womöglich hier in Herteinstein zum endgültigen Abschluss gebracht (?). Die Komposition geht auf die Freundschaft mit dem Geiger Fritz Kreisler zurück, der ihm das Thema vermittelt hat.

Es handelte sich ursprünglich um einen wilden Fruchtbarkeitstanz des 15. Jahrhunderts in Portugal. Spanische und italienische Barockmeister haben ihn „La Follia“ genannt und in gezähmter Form wiederverwendet. So auch Archangelo Corelli in seiner Sonate op. 15 No. 5, weshalb er als „Corelli-Thema“ in die Musikgeschichte eingegangen ist.

Bei Rachmaninow kommt das barocke Eingangsthema wie ein Cembalo-Interludium bei Kerzenlicht daher:

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In der Folge lotet Rachmaninow eine breite Palette technischer und stilistischer Raffinessen aus: von der Art eines Bachschen Präludiums (Var. 1) bis hin zu Liszt-ähnlichen Sturzbächen (Var. 16), dazwischen stampfende Schläge im Oktavengriff und Taktwechsel nach Strawinski-Manier (Var. 5):

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Var. 5

Überraschend wiederum die Des-Dur Barcarolle wie nach Chopin oder Mendelssohn in Var. 15:

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Var. 15

Nicht überraschend andererseits der Verweis auf Schumann (Rachmaninow übt im Moment gerade dessen Novelette no. 8) mit dem kräftigen Galopp-Rhythmus:

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Var. 18

Ein meditatives Innehalten gelingt ihm in Var. 9, wo mysteriöse Akkordfolgen mit Sechzehntel-Girlanden und einem sehr hohen Cantus Firmus an Debussy erinnern. Die Coda (Var. 20) endet nicht mit einem rauschenden Höhepunkt, sondern in einem träumerischen, Nocturnen-ähnlichen Perlenspiel.

Diese Corelli-Variationen gelten bei einigen Kommentatoren als Vorstudie zu der darauffolgenden Paganini-Rhapsodie.

Rhapsodie über ein Thema von Paganini op. 43 (1934)

Die letzte Violin-Caprice von Paganini hat viele Romantiker zu Bearbeitungen inspiriert (Schumann, Liszt, Brahms). Wo Brahms seine Paganini-Variationen mit satten Akkordreihen beginnt, schlägt Rachmaninow einen ungewöhnlichen Weg ein: statt mit vollem Orchestersound tastet man sich mit spröden Unisono-Einwürfen als Eckpfeiler des harmonischen Gerüsts an das Thema heran (s. auch die Eroica von Beethoven, letzter Satz), bis es ohne Unterlage erstmals von den Violinen vorgetragen wird:

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Die ganze Anlage hat anfänglich einen neckischen Unterton. Rachmaninow scheint seinen Aufenthalt hier in Hertenstein in vollen Zügen zu genießen und zeigt – im Gegensatz zu seinen früheren düsteren oder pathetischen Werken – seine humorvolle Seite: Bevor der Solist später in Fahrt kommen wird, darf er zu Beginn wie ein Anfänger bloß die Eckpfeiler des Themas mit zwei Fingern antupfen und ein paar Unisono-Bögen einstreuen, insgesamt Begleit-Partikel. Bis zur 5. Variation beschränkt sich das Klavier auf filigrane Arpeggien oder auf hüpfende Terz-Griffe, die das Thema quasi umspülen. Diese Leichtfüßigkeit kontrastiert in der 7. Variation mit einem dunklen „Dies Irae“ aus der gregorianischen Totenmesse, und dies unvermittelt in das launische Zwiegespräch zwischen Orchester und Solist einbrechend. Weshalb hier plötzlich dieses Memento Mori? Vielleicht will es Rahmaninow Berlioz gleich tun (Symphonie phantastique, Requiem): Tod und Lebensfreude miteinander zu verschränken. In Variation 10 dröhnt das Todesthema aus den fortissimo-Bassoktaven des Klaviers, dazu eine verballhornte Umwandlung des Paganini-Themas im Orchester, das Klavier danach mit einer jazzig-synkopierten und akkordischen Dies Irae-Zugabe! Die Skurrilität eines solchen Übereinanderstülpens der Kontraste scheint auf wahre Spielfreude des Komponisten hinzuweisen. Mit der 18. Variationen landet er einen hochromantischen Ohrenwurm in Des-Dur, wo das Thema auf den Kopf gestellt zu einem schmachtenden Song umgestaltet und bis heute in Film und Pop-Kultur wirkungsvoll eingesetzt worden ist. Im letzten Teil der Rhapsodie zieht der Solist dann doch noch alle Register: akrobatische Sprünge, Oktaven-Donner, Saltarello-Triolen als pianistische Pizziccato-Einlage, pralle Akkordreihen und horrende Läufe über die ganze Klaviatur.

Kaum ist die Komposition vollendet verlässt Rachmaninow die Villa Senar und reist nach Amerika, wo er sie im November 1934 in Baltimore unter Stokowski uraufführt. Der große Erfolg ermutigt ihn zu einer choreographischen Zusammenarbeit mit dem russischen Ballettmeister Michail Fokin, dem er in einem Brief vorerst sein Werk über „Liebe und den bösen Geist“ (Dies Irae) erläutert.

  1. Symphonie op. 44 (1935/36)

Nach einer ausgedehnten Konzertreihe in Amerika und Europa kehrt Rahmaninow mit seiner Familie erschöpft nach Hertenstein am See zurück. Hier erwarten ihn sein Steinway, ein bezauberndes See-Ufer mit Privatboot, dazu der märchenhafte Park. Die entspannte Situation drängt ihn wieder zum Komponieren, zu einer neuen Symphonie, 28 Jahre nach der zweiten von 1907.

Die dritte Symphonie beginnt mit einer dünnen, horizontalen Pianissimolinie des abgedämpften Horns, vergleichbar mit einem „Introitus“ eines gregorianischen Psalms, schüchterne Töne, die plötzlich brutal hinweggefegt werden: Wie ein Tsunami schlägt die Brandung ans Ufer, mit Tonleitern und Fortissimo-Akkorden, bevor sich der Sturm verzieht und einem ersten Thema der Holzbläser Platz macht, das sich wie ein Aeolus-Gesang auf penetrantem Quinten-Klang gebettet hinzieht und überleitet zum zentralen, zweiten Thema des Satzes, einem aus der Tiefe aufsteigenden Cello-Gesang:

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„Introitus“ und 2. Thema (Cello) des ersten Satzes

Die schmachtend-melancholische Melodie steigt hinauf bis in die höchsten Register des Orchesters und wird von einer Beschleunigung fortgerissen, um sich in eine martialische Marschmusik zu verwandeln, ein Vorgang, den wir auch bei Schostakowitsch in seinen Symphonien kennen. In der Folge wird das Geschehen unübersichtlich: Schlageffekte bei den Streichern, Chromatik, verminderte Akkordreihen, das Echo des ersten Themas in dissonierender Gestalt, das eingangs pianissimo hingehauchte Motiv hier nun plötzlich dröhnend vom Blech vorgetragen, sodann die Verschachtelung von Thema 1 und 2, bevor der Satz im leisen Akkord und einem diskreten Pochen in den Bässen verklingt.

Das adagio lässt im Horn wieder das „Introitus“-Thema erklingen, bevor mäandrische Flötenlinien

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vom Himmel herab eine Märchenwelt mit Harfenklängen hervorzaubern, die an Rimski-Korsakows „Scheherazade“ erinnern.

Danach sind durchaus dramatische und dissonierende Passagen zu finden, die Rachmaninow auch einem modernen Diskurs annähern, streckenweise Richard Strauss ähnlich, den er besonders verehrt.

Zu Beginn des finalen allegro braust wieder die Flutwelle des ersten Satzes heran, bevor die Musik in einen unaufhörlichen Galopp übergeht:

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Auf schrille Akkorde mit viel Schlagwerk folgt in der Tiefe der Klarinette ein Trauergesang, danach aber wiederum die vorwärtsdrängende Galopp-Figur, bis hin zum ultimativen Schlussknall.

Gelangen ihm die Paganini-Rhapsodie in nur wenigen Wochen, so fordert ihm diese Symphonie enorme Kräfte ab, sodass er am Ende der Partitur notiert: „Vollendet, ich danke Gott. Senar.“

In einem Brief an seinen Freund Wladimir Wilshau berichtet er von der mässigen Begeisterung der Symphonie beim amerikanischen Publikum: Sie wurde in New York, in Philadelphia und in Chicago gespielt…. und ich wohnte den beiden ersten Aufführungen bei. Die Interpretation war makellos (…) doch das Publikum hat sie säuerlich aufgenommen (…) Ich bin aber sicher, dass es ein gutes Werk ist (…). Wie dem auch sei, ich bleibe bei meiner Überzeugung.“

Immerhin hat die 3. Symphonie überlebt und bis heute ein begeistertes Publikum gefunden, was gewisse Stimmen schon damals vorausgesagt haben, wie z.B. der Engländer Henry Wood 1938: «Das Werk beeindruckt mich als Paradebeispiel echter russischer Romantik. Man wird von der Schönheit der melodischen Linien und ihrer logischen Entwicklung eingenommen (…) Ich würde sogar behaupten, daß diese Symphonie ebenso beliebt sein wird wie die Fünfte von Tschaikowsky.“

Auch 1937 und 1938 kehrt Rachmaninow an den Vierwaldstätter See zurück. Als Komponist beschäftigt er sich bloß noch mit den Ballettprojekten zu seiner „Paganini-Rhapsodie“ und mit der Revision der dritten Symphonie. Nach dem „Abschiedskonzert“ als Pianist bei den Luzerner Festwochen spielt er am 11. August 1939 unter Ernest Ansemets Stabführung Beethovens erstes Klavierkonzert und seine „Paganini-Rhapsodie“. Danach verlässt er im August die „Senar“ kurz vor Kriegsausbruch und wird nie mehr zurückkehren. In Kalifornien werden noch seine „Symphonischen Tänze“ entstehen und eine revidierte Fassung des 4. Klavierkonzerts, dazu letzte Plattenaufnahmen. Rachmaninow stirbt am 28. März 1943 in Beverly Hills.

Quellen:

Andreas Wehrmeyer, Sergej Rachmaninow, Rowohlts Monographien, Hamburg 2000

Ewald Reder, Sergej Rachmaninow, Leben und Werk, Triga-Verlag Gründau, 3e Aufl. 2007

Diverse Pressebeiträge

Die Illustrationen sind, wenn nicht anders vermerkt, gemeinfrei.

23. Juli 2022 || ein Beitrag von Josef Zemp, Studium der Romanistik und Musikologie in der Westschweiz und in Frankreich (Doktorat). Parallel dazu Berufsausbildung am Konservatorium (Cello und Klavier) – Cello-Diplom.

Geboren in einer Familie von Amateur-Musikern. Volksmusikforschung in Madagaskar, danach Unterricht am Gymnasium (französische Sprache und Literatur, Musik). Leitung von Weiterbildungskursen für Gymnasiallehrer. Publikationen in Feuilletons und Zeitschriften zur französischen Literatur. Vortragsreihen an Volkshochschulen zu Literatur und Musikgeschichte.