Renovabis – Das Osteuropa-Hilfswerk
Sehr geehrter Herr Schumann, auch wir hier in der Akademie sind fassungslos und bestürzt über die aktuellen Ereignisse in der Ukraine. Ein Land, das schon länger zu den Hauptförderländern von Renovabis zählt. Allein von 2014 bis 2021 haben Sie dort rund 500 Projekte unterstützt: im Bereich von Zivilgesellschaft und Gemeinwohlorientierung, aber auch um die Situation von Inlandsvertriebenen zu verbessern. Nun hat sich die Lage durch den Krieg im ganzen Land nochmals dramatisch verschlechtert.
Wie blickt Renovabis auf die aktuelle Lage in der Ukraine – gerade nach dem nun erfolgten Angriff durch Russland?
Wir verurteilen die Invasion Russlands in das Staatsgebiet der Ukraine auf das Schärfste; Krieg ist immer ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wir sind fassungslos angesichts der sinnlosen russischen Kriegshandlungen gegen die Menschen in der Ukraine. Wenn jetzt auf beiden Seiten Soldaten ihr Leben verlieren werden, ist das unnötig und unmenschlich. Und genauso müssen zivile Opfer erwartet werden: Wir machen uns allergrößte Sorgen um die Männer, Frauen und Kinder im ganzen Land, nicht nur im Donbass. Viele Projektpartner von Renovabis tragen in der Ukraine seit fast drei Jahrzehnten dazu bei, dass Menschen eine Perspektive haben. Wir hoffen, dass dies nicht vergeblich war.
Wie erleben die Menschen in der Ukraine die aktuelle Lage?
Die Menschen haben Angst. Das weiß ich vor allen Dingen aus wiederholten Telefonaten mit Projektpartnern vor Ort. Grundsätzlich war der Kriegszustand in der Ostukraine ja seit 2014 fast Alltag geworden. Seit mehr als acht Jahren leben die Menschen in der Kontaktzone, das heißt also in dieser Pufferzone zwischen besetzten und nicht besetzten Gebieten in der Ostukraine, im Krieg. Die Menschen haben seit acht Jahren Gewalt, Bombenanschläge und Granateneinschläge als tägliches Leben wahrnehmen müssen. Und das gilt natürlich zumal für die Kinder, welche ebenfalls Opfer wie andere vulnerable Gruppen sind. Die sind an den Krieg mittlerweile fast gewöhnt! Andererseits herrscht natürlich jetzt die wachsende Angst, dass nicht nur die tägliche Bedrohung, sondern auch der Verlust der Heimat durch den Krieg zu einer Realität werden kann.
Was wird aus Ihrer Sicht aktuell am dringendsten benötigt und in welcher Form unterstützt Renovabis vor Ort?
Vor Ort werden sicher Geld und auch Sachspenden benötigt. Die Koordination übernehmen Hilfsorganisationen vor Ort und mit bereits seit Jahren eingeübter Struktur von Ort. Verlass ist insbesondere auf unsere Projektpartner von der Caritas der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche und genauso auf die römisch-katholische Caritas Spes. Es ist möglich, über diese unsere Partnerorganisationen die Einrichtung mobiler Küchen für Flüchtlings-Auffangorte bereit zu stellen; schon seit längerem unterstützen wir Projekte für vulnerable Gruppen, die besonders von der Situation in der Kontaktzone in der Ostukraine betroffen sind – alte, alleingelassene Menschen; Kinder, die verhaltensauffällig werden und gute menschliche Beziehungen nicht mehr eingehen können. Sie werden mit sozialpädagogischer und psychosozialer Hilfe von unseren Partnerorganisationen und dank der Finanzierung durch Renovabis unterstützt. Insbesondere die Caritas-Organisationen der Ukraine, sowohl der griechisch-katholischen wie der römisch-katholischen Kirche, sind da sehr engagiert mit vielen Haupt- und auch ganz vielen Ehrenamtlichen. Sie stehen den Menschen in ganz praktischer Hinsicht bei. Jetzt gilt es neben der Hilfe für die wahrscheinlich mehr als drei Millionen Binnenflüchtlinge, ebenso in Moldova, das im Verhältnis zu seiner eigenen Einwohnerzahl bereits die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat, zunächst in den unmittelbaren Nachbaraufnahmeländern in Polen (mit derzeit -19.3.- mehr als zwei Millionen Geflüchteten), in Rumänien, der Slowakei und in Ungarn zu unterstützen. Gefragt ist jetzt eine echte „Willkommenskultur der Nächstenliebe“ in allen Ländern Europas.
Anfangs dachten auch diesmal viele Einwohner, die Flucht sei nur vorübergehend und für kurze Zeit. Diese Hoffnung, so muss man mittlerweile befürchten, wird sich so schnell wohl nicht bewahrheiten. Wo sehen Sie vor dem Hintergrund dieser neuen Entwicklungen mittel- und langfristig die Schwerpunkte aber auch die größten Hürden des Ukraine-Engagements von Renovabis?
Renovabis wird jeweils vor Ort seinen Partnern dabei helfen, damit sich die Menschen in ihrer Heimat wieder neu einrichten können. Wenn das nicht möglich ist, werden wir den mittel- und osteuropäischen Gastgebern der Geflüchteten helfen, diese Herausforderung menschlich zu bewältigen. Wir werden zunächst im Schulterschluss mit Caritas International die Nothilfe der dafür bestimmten Organisationen flankieren und uns bereits dabei orientieren, was womöglich über Jahre hinweg an nachhaltiger, mittelfristiger Hilfe notwendig sein wird. Damit dies bereits jetzt gut abgestimmt, schnell und effektiv grundgelegt werden für eine spätere längerfristige Projektplanung ist mit den deutschen Bischöfen und den katholischen Hilfswerken – initiiert von Renovabis und Caritas International – soeben eine Koordinierungs-Plattform ins Leben gerufen worden. Wir haben uns angesichts der brutalen Verwüstungen auch ziviler Infrastruktur in Städten und von ganzen Landstrichen wohl auf eine längere Periode des Wiederaufbaus einzustellen. Schwerpunkte werden für Renovabis bei der ganzheitlichen Betreuung der Menschen bleiben: es geht um psychologische Hilfe zur Verarbeitung traumatischer Erlebnisse bei allen Bevölkerungsgruppen, besonders aber verwaisten Familien und Kindern. Dafür hat Renovabis mit seinen Partnern bereits ein tragfähiges Fundament. Die Hilfe wird allen Menschen gewährt werden.
Welche Reaktionen erwarten Sie vom Westen?
Das vermag ich nur schwer zu artikulieren, denn wir handeln ja nicht politisch. Aber wir sehen zumindest in Deutschland, dass viele Verantwortliche in der Politik jetzt leider zugeben müssen, dass gewisse Grundannahmen in der Außenpolitik in den letzten Jahre offensichtlich nicht gestimmt haben: Wandel durch Handel, Wandel durch Annäherung, Frieden schaffen durch immer weniger Waffen und vieles mehr; dass alle Versuche, sich bei jemanden, der Aggression plant, auf einen friedlichen Weg der Verhandlungen zu beschränken, zum Scheitern verurteilt sind; und dass in solchen Fällen nur eine Position der Stärke – auch der militärischen – zählt. Jetzt werden in der Tat Sanktionen – und zwar deutliche, auch für uns alle schmerzhafte Sanktionen – notwendig.
Die EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson sagte dieser Tage „Migration ist etwas, das man bewältigen muss, nicht etwas, vor dem man Angst haben muss.“. Sie selbst haben es noch kürzer formuliert: „Beten allein reicht nicht.“ Noch ist der Wunsch, zu helfen, bei vielen Mitmenschen groß. Haben Sie Angst, dass die große Welle der Hilfsbereitschaft in Deutschland irgendwann auch nachlassen könnte?
Zunächst sind die vielen Friedensgebete im ganzen Land beeindruckend. Und von unseren ukrainischen Freunden in Deutschland und auch aus deren Heimat, auf die seitens des Aggressors immer massiver auf zivile Einrichtungen und ohne Rücksicht auf Menschenleben gebombt wird, hören wir: „Wir sind euch dankbar für Euer Gebet; es bestärkt uns!“ Natürlich bleibe ich dabei: Beten und auch demonstrieren ist großartig, reicht aber natürlich nicht. Es braucht helfende Solidarität. Noch gibt es keine Anhaltspunkte, dass diese Hilfsbereitschaft stockt. Nein, die Menschen helfen wie selten. Derzeit besteht kein Anlass, ein Nachlassen zu befürchten. Im Gegenteil. Die Menschen sind betroffen und helfen ihren Nachbarn in Europa, wofür auch seitens Renovabis sehr zu danken ist – für tatkräftige Solidarität und solidarisches Beten und Demonstrieren für den Frieden!
Wie können die Leserinnen und Leser unseres Blogs am besten konkret helfen? Häufig wird betont, dass Geldspenden derzeit am effizientesten sein, dennoch sind viele skeptisch. Wie garantieren Sie, dass die Hilfe auch zu 100% dort ankommt, wo sie dringend benötigt wird?
Wie gesagt, wir arbeiten mit Strukturen, auf die in den letzten 30 Jahren Verlass war. Die genannten koordinierenden inländischen Caritas-Organisationen, wissen wo die Hilfe am nötigsten ist. Die dort beschäftigten Hauptamtlichen beziehen reelle Gehälter und haben es nicht nötig, sich für ihre Arbeit an Projektmitteln zu bereichern. Wir haben die beste Erfahrung und auch aktuell hören wir, Geld- und Sachspenden seien angekommen und hätten verteilt werden können. Das Caritas-Netzwerk trägt ganz offensichtlich.
Wir danken für das Gespräch!
Das Gespräch führte Sandra Gilles, Teamleiterin Referat Ferienakademien, am 19. März 2022.
Mehr über das Osteuropa-Hilfswerk Renovabis
Das Hilfswerk Renovabis ist die „Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa“. Diese Aktion wurde 1993 auf Anregung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) von der Deutschen Bischofskonferenz gegründet. Seither gibt es jedes Jahr eine mehrwöchige bundesweite Pfingstaktion. Die Kampagne endet jeweils am Pfingstsonntag mit einer Kollekte in den katholischen Kirchengemeinden in Deutschland. Der lateinische Name des Hilfswerks geht auf den Bibelpsalm 104 zurück und bedeutet „Du wirst erneuern“.
Die Organisation mit Sitz in Freising bei München unterstützt Projekte zur Erneuerung des kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens in 29 ehemals kommunistischen Ländern Osteuropas. Renovabis vermittelt Partnerschaften und will darauf hinwirken, „dass Menschen in Ost und West voneinander lernen, miteinander glauben und so eine vertrauensvolle Nachbarschaft entsteht“. Seit ihrer Gründung hat die Solidaritätsaktion Renovabis mit gut 820 Millionen Euro rund 25.400 Projekte von Partnern unterstützt.
Allein in der Ukraine waren es bisher seit 1993 mehr als 4.000 Projekte der dortigen Partner mit einer Gesamtfördersumme von mehr als 125 Millionen Euro. Das Spektrum reicht von kirchlich-seelsorglichen über sozial-karitative Projekte bis hin zu Bildungs-und Medienvorhaben. Entscheidend ist stets das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe. Renovabis wurde das Spendensiegel des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen zuerkannt.
Mehr Informationen über Renovabis finden Sie hier.
Es fühlt sich seltsam an, sich an einem solchen Zeitpunkt überhaupt mit etwas anderem als der aktuellen Lage in der Ukraine zu beschäftigen. Man kommt im Kopf kaum hinterher, die täglich neuen Entwicklungen sind verstörend. Der Krieg verschiebt unser Koordinatensystem. Das Blog-Redaktionsteam möchte in ganz unterschiedlichen Beiträgen den Krieg in der Ukraine in den Blick nehmen.
29. März 2022 || ein Interview mit Thomas Schumann (58 Jahre), Referent für Presse- und Öffentlichkeitarbeit, gelernter Tageszeitungsredakteur, der später für Presse, Hörfunk und Fernsehen tätig war und seit bald 26 Jahren als Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit / Pressesprecher für das Osteuropa-Hilfswerk Renovabis, die Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa, wirkt.