Der Prometheus-Mythos. Einige Bemerkungen zu einem komplexen literarischen Zeugnis der Kulturgeschichte
In der klassischen Mythologie gilt der aus dem vorolympischen Geschlecht der Titanen stammende Prometheus als Schöpfer der Menschen, die er – so schildert es der römische Dichter Ovid im ersten Buch seiner Metamorphosen – Lehm mit Regenwasser mischend, „nach dem Bilde der alles lenkenden Götter formte“. Das erinnert an die Genesis, die davon berichtet, dass Gott den Menschen (hebräisch: Adam) nach seinem Bilde aus einem „Erdenkloß“ schuf und ihm Leben gab, indem er ihm „den lebendigen Odem in seine Nase blies“ (1. Mose 1.27; 2.7). Der beseelende göttliche Hauch oder Funken führt – hierin stimmen die meisten Schöpfungsmythen überein – zur Belebung des Menschen; zu seinem Überleben sind jedoch weitere Gaben vonnöten, wie z. B. die des Feuers, die ihm kulturelle Entfaltung ermöglicht und im Grunde erst zu wahrem Leben verhilft. Von daher ist es nur konsequent, dass Prometheus, der Demiurg, der die Welt ‚bevölkert‘, seinen Geschöpfen auch das Feuer bringt, dessen Gebrauch ihnen Zeus verweigert hat. Der Herrscher im Olymp bestraft ihn grausam für den Feuerraub: Er lässt ihn an einen Felsen im Kaukasus schmieden und täglich von seinem Adler heimsuchen, der die Leber des Gefesselten zerhackt, die des Nachts wieder nachwächst. Den gefiederten Peiniger erlegt schließlich Herakles mit einem Pfeilschuss und befreit den wehrlosen, aber unbeugsamen Titanen nach schier endloser Qual von seinen eisernen Fesseln. –
So lässt sich in Kürze der Mythos vom Menschenbildner Prometheus wiedergeben, wie ihn der altgriechische Epiker Hesiod erzählt; seine Version wirft allerdings einige grundlegende Fragen auf: Warum wird z. B. den Geschöpfen des Prometheus vom Göttervater Zeus das Feuer vorenthalten und die Kunstfrau Pandora mit ihrer berüchtigten Büchse zu ihnen geschickt? Oder: Wieso wird die fürchterliche Bestrafung des Feuerdiebs im Kaukasus-Gebirge vollzogen? Und aus welchem Grund frisst der Adler allnächtlich gerade seine Leber? Mögliche Antworten ergeben sich aus der Gestaltung des Stoffs in der deutschen Literatur in den Jahrzehnten vor und nach 1800.
Im Grunde setzt deren Rekurs auf den Prometheus-Mythos erst mit der Aufklärung ein (während die Komponisten sogar erst im 19. Jahrhundert auf ihn aufmerksam werden, hat ihn die bildende Kunst schon in der Renaissance aufgegriffen). Dabei folgen die Schriftsteller der vom englischen Philosophen und Essayisten Anthony A. C. Earl of Shaftesbury geprägten Formel, dass der echte Poet „indeed a second maker: a just Prometheus, under Jove“, sei. Dem „eigentlichen Sinn“ von ‚poet‘, nämlich das ‚poiein‘, das Machen, Schaffen, sei, so die gängige Annahme des 18. Jahrhunderts, aufgrund der Lebendigkeit seiner dramatischen Gestalten vor allem Shakespeare nachgekommen: Diese zeigten, wie Goethe 1771 ausführt, dass aus Shakespeare die Natur selbst spreche: „Er wetteiferte mit dem Prometheus, bildete ihm Zug vor Zug seine Menschen nach“. Der Kontext lässt keinen Zweifel daran, dass für den jungen Goethe der Dichter den Menschen in seiner Natürlichkeit, Ursprünglichkeit wiederzugeben habe, und in dieser Hinsicht ist ihm Prometheus eine mythologische Leitfigur. Das offenbart der lyrische Monolog seiner berühmten „Prometheus“-Hymne durch die selbstbewusste Haltung des Sprechers, die auf der „genialischen“ Fähigkeit ursprünglichen Schaffens beruht: Dank ihrer thematischen Dichte und formalen Gewagtheit verleiht sie dem Selbstwertgefühl des Poeten als eines schöpferisch Tätigen bezwingenden Ausdruck, dem leidenschaftliche Bewegtheit eigen ist und der sich dem untätigen „schlafenden“ Göttervater widersetzt. –
Wenn nun Prometheus das schöpferische Künstler-Genie repräsentiert, das ein gewachsenes bürgerliches Selbstbewusstsein auszeichnet, für wen steht dann Zeus? Es ist nicht zu verkennen, dass um 1775 ein Angriff auf den Despoten im Olymp in erster Linie politisch verstanden wurde – wer hätte sich auch damals, d. h. in den Zeiten des Absolutismus, in allen Belangen so gut zur Identifikation mit dem Herrn der Götter geeignet wie der regierende Fürst?
In den Jahren nach 1800 tritt der bürgerliche Dichter offensichtlich aus den Spuren des Prometheus; so kann dieser für andere soziale Gruppen oder Berufe vorbildhaft werden. Öfter noch als der geschichtsmächtige Staatsmann, Napoleon z. B., wird im Titanen der Arbeiter als Vertreter einer neuen Klasse gesehen, was bis in die Zeit des mehr oder weiniger real existierenden Sozialismus gegen Ende des 20. Jahrhunderts gültig war. Seinen Anfang nimmt dieser Identifikationsprozess im Vormärz. In seinem Gedicht mit dem Titel „Von unten auf!“ (1845) stellt der rheinische Lyriker Ferdinand Freiligrath die Schiffsreise Friedrich Wilhelms IV. von Preußen nach der restaurierten Burg Stolzenfels dar. Den Dampfer, der herkömmlicherweise zum Staatsschiff allegorisiert wird, setzt das Feuer in Bewegung, das der „Maschinist“ im Kesselraum entfacht und kontrolliert, weshalb er in einem stummen Zwiegespräch mit dem Herrscher die Feststellung treffen kann: „Du bist viel weniger ein Zeus als ich, o König, ein Titan!“ Er versteht sich als Vertreter des Standes, den er selbst „das Proletariat“ nennt: „Wir sind die Kraft! Wir hämmern jung das alte morsche Ding, den Staat!“
Und schließlich wird der Titanensohn Prometheus auch noch unter die Naturwissenschaftler versetzt, womit ihm neben dem Atelier und der Manufaktur bzw. Fabrik ein weiterer Arbeitsplatz zugewiesen wird, nämlich das Labor. Für diesen Transfer hat im Wesentlichen die junge englische Autorin Mary W. Shelley mit ihrem Roman Frankenstein. Or the Modern Prometheus (1818) gesorgt. Dieser dürfte heutzutage wohl am ehesten in den Laboratorien der Biotechnologen und Reproduktionsmediziner zu finden sein, die spezifisch menschliche Fähigkeiten technisch nachbilden und ins menschliche Leben eingreifen. Dabei besteht allerdings ein entscheidender Unterschied zwischen dem „modernen Prometheus“, dessen Geschöpfe bei allen Feinheiten ihrer konkreten körperlichen Ausstattung letztlich nie den Bereich der Fiktion und Fantasie verlassen haben, und dem postmodernen Demiurg – und zwar darin, dass mit ihm der Mythos der künstlichen Menschenschöpfung den unaufhaltsamen Weg in die Wirklichkeit angetreten hat.
Zum Schluss sei noch eingestanden, dass hier weder die explizit gestellten und etliche weitere Fragen beantwortet noch manche unverzichtbaren Belege geliefert werden können. Das muss der Akademie-Tagung über den ‚Prometheus-Mythos in den Künsten‘ vorbehalten bleiben.
Wir freuen uns auf Ihre Anmeldung zur Akademietagung
Menschenschöpfer, Kulturstifter und Rebell
Der Prometheus-Mythos in den Künsten
13. bis 14. November 2021 (Sa.-So.)
Ausführliche Informationen zur Veranstaltung finden Sie hier.
9. September 2021 || ein Beitrag von Prof. em. Dr. phil Rudolf Drux
Nach seinem Studium der Germanistik, Latinistik, Philosophie und Sprach- und Literaturwissenschaft war von 1996-2014 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literaturgeschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln.
Welche Aspekte des Mythos für uns besonders wichtig sein können und inwiefern auch die moderne Technologie Prometheus aufnimmt und was das noch mit dem ‚klassischen Mythos‘ zu tun hat, darüber war Akademiereferentin Julia Steinkamp im Oktober 2020 im Gespräch mit Prof. em. Dr. phil Rudolf Drux.