Das große Kunstmosaik – Vorstellung der Kunsthistorikerin Judith Graefe
Kunsthistorikerin Judith Graefe aus Bonn ist neu im externen Team der Thomas-Morus-Akademie. Sie ist spezialisiert auf die Kunst der Antike, des Mittelalters und der Renaissance. Ihr besonderes Interesse liegt auf der Architektur.
Nun, das ist ein weites Feld. Welche Architektur? Alte? Neue? Was ist eigentlich „alt“, und wo fängt „neu“ an. Noch weiter gedacht: Wo fängt Architektur an? Wo hört sie auf? Hängt nicht alles mit allem zusammen? Sicher, alles hängt mit allem zusammen. Und es gibt niemanden, der alle Zusammenhänge begreift.
Vielleicht suchte Goethe genau das, als er erkennen wollte „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Und er stünde nicht allein. Ich allerdings sehe den Reiz gerade darin, dass ich – ganz im sokratischen Sinn – weiß, dass ich nichts weiß. Das hält mich nicht davon ab, zu suchen und immer weiter zu suchen und sicher auch viel zu finden.
Da kann meine universitäre Ausbildung mit dem Feld der Antike begonnen haben, über das Mittelalter gegangen und bei der Renaissance angekommen sein. Aber schon hier ist doch mit aller Deutlichkeit erkennbar, dass das kein Endpunkt ist. Ein Muster zeichnet sich bereits ab. So ist die Renaissance doch die Wiederaufnahme der Antike, und der Barock führt die Formen der Renaissance weiter. In der klassizistischen Architektur springen uns die Epochen der Antike und der Renaissance gleichzeitig an. Und noch immer endet es nicht. Überall können wir Wellen des ästhetischen Interesses beobachten – für jedermann am deutlichsten sichtbar: In der Mode. Und trotzdem verschwindet die Vergangenheit nicht in den Wellentälern. Sie macht eine Pause, macht sich rar, und wir können uns schon freuen – sie kommt wieder.
Ich stellte die Architektur während meines Studienaufenthaltes an der Università degli Studi di Pisa ins Zentrum meines Interesses. Die Piazza dei Miracoli ist für jeden Touristen eine Sensation. Der Turm von Pisa „ist ja wirklich schief“. Und natürlich ist dieser Ort der Wunder auch für jede Kunstgeschichtsstudentin ein Muss. Gut, der Turm ist schief, aber was ist mit dem Dom? Dem Baptisterium? Dem Camposanto? Magische Orte mit überraschenden Augenöffnern, findet man nicht nur einmal Hinweise auf die Vergangenheit der Menschen, der Zeit VOR der Piazza dei Miracoli.
Von schräg nach quer, vollkommen zufällig, so scheint es, wurden Spolien in die Fassaden eingelassen. Alte Architekturteile vergangener Gebäude. Das ist gut erkennbar, denn es steht sozusagen drauf. Fragmente alter Inschriften, die dort enden, wo der Stein endet, dem man an seinem neuen Platz nur noch eine Funktion zuschreibt: Wand sein.
Doch gleich in der nächsten Querstraße öffnet sich eine ganz andere Welt der Architektur. Hier ein zugemauerter Spitzbogen, dort eine geschnitzte Holztür, schief stehend, gleich neben der Hochsicherheitstür des Nachbarhauses. Innenhöfe mit Stolperpflaster, Torbögen zu klein für den durchschnittlichen Besucher des 21. Jahrhunderts. Nicht minder beindruckend, als Dom und Campanile, auch hier werden Geschichten erzählt.
Was ist also alte Architektur? Alter liegt doch im Auge des Betrachters. Die ägyptischen Pyramiden sind alt, der Kölner Dom ist alt, und, meine Güte! Frank O. Gehrys Guggenheim Museum in Bilbao ist auch schon alt.
Und wo fängt Architektur an, wo hört sie auf? Man denke an die begehbaren Plastiken beispielsweise eines Jean Dubuffet oder einer Niki de Saint Phalle. Die gotischen Kathedralen werden zu Recht als Gesamtkunstwerke gefeiert. Die architektonischen Rahmenelemente lassen speziell Platz für die Skulpturen, die den Innenraum bevölkern und mit ewiger Lebendigkeit füllen sollen. Die leeren Fensteröffnungen werden mit Malerei gefüllt, die durch ihre Motive göttliche Botschaft übermitteln und durch ihre Farbenpracht göttliches Licht im Innenraum sichtbar machen sollen. Ein sehr gutes Beispiel ist auch ein Museumsbau wie der in Bilbao. Von außen wirkt er wie eine riesige Skulptur, begehbar natürlich. Gefüllt ist er mit Malerei, Plastik, Skulptur, Installationen und vielem mehr, denn bis heute hat sich die Kunstwelt täglich vergrößert. Mal in kleinen Schritten, die wir kaum bemerkten, mal in großen, die einen Namen bekommen haben, wie zum Beispiel „Dada“.
Ich suche also weiter und findet täglich neue Steinchen für ihr großes Mosaik. Dass es nicht fertig wird, macht mir nichts aus. Der Weg ist das Ziel.
Ich freue mich, nun bei Veranstaltungen der Akademie gemeinsam mit interessierten Gästen weiter auf Spurensuche zu gehen.
24. Juli 2021 || ein Beitrag von Judith Graefe, Kunsthistorikerin