Aus dem Vergessen holen
Elisabeth Peters stellt das Werk des Blechplastikers Hans Wissel vor
Der erste Eindruck von diesem Buch mag ein haptischer sein. Auf dem mattglänzenden Papier spüren die Finger das Relief der Lettern. Die Bildgründe sind glatt. Der 120 Seiten starke Quartband scheint in einem Verfahren der Vor-Offset-Zeit hergestellt worden zu sein und ähnelt so Kunstbänden der 1920er/30er Jahre. Und damit sind wir beim Thema, bei Hans Wissel, Blechplastiker und von 1925 bis 1931 Professor an den Kölner Werkschulen.
Wenig bis gar nichts mehr ist über den vor 1933 weit beachteten Künstler bekannt. In Köln wundert das, insofern hier Wissels einzige im öffentlichen Raum erhaltene Arbeit schon einmal Jeder und Jedem vor Augen gekommen sein dürfte. Der kupfergrüne, Industrie, Handel und Handwerk symbolisierende monumentale Dreikopf auf dem Messeturm ist die Bekrönung des unter Oberbürgermeister Konrad Adenauer und von Stadtbaudirektor Adolf Abel für die PRESSA 1928 völlig neu gestalteten Messegeländes. Mag sein, dass sich die immerhin fünfeinhalb Meter hohe Metallblecharbeit für eine nähere Beschäftigung nicht eignet, da sie nur aus großer Entfernung betrachtet werden kann. Das eklatante Desinteresse an ihrem Schöpfer dürfte aber auch dem Umstand geschuldet sein, dass Kunst am Bau immer noch als ein der Architektur untergeordnetes Genre gilt. Selbst einschlägige Publikationen zur Skulptur in der sich ansonsten in maximaler Diversität präsentierenden Rheinstadt erwähnen Wissels Allegorie nicht einmal.
Dazu kommen die enormen Lücken, die der 2. Weltkrieg auch in Wissels Oeuvre gerissen hat. Ihn und sein Werk „aus der Vergessenheit zu holen“, dieser Aufgabe stellten sich ein Sohn des Künstlers und die Bonner Kunsthistorikerin Elisabeth Peters. Christian Wissel, Professor für Physik in Marburg, öffnete für die in der vorzüglichen Verlagsgruppe arts + science weimar erschienene Monographie „Hans Wissel. Blechplastiken“ das Familienarchiv und steuerte zahlreiche Abbildungen, das Vorwort und einen Exkurs zur Technik des Kupfertreibens bei. Peters verfasste mit großer Kenntnis über das künstlerische Umfeld und mit kritischem Verstand auch gegenüber den Abwegen, die Wissel nach 1933 ging, die Werkbiographie.
Hans Wissel, 1897 in Magdeburg geboren, ließ sich im väterlichen Atelier zum Goldschmied, Graveur und Ziseleur ausbilden. Nach Studien an der Kunstgewerbeschule Magdeburg bei Rudolf Bosselt und Teilnahme am 1. Weltkrieg führte er mit seinem Bruder Peter den Familienbetrieb unter dem Namen „Werkstätten für Metallkunst, Gebrüder Wissel“ fort. Ab 1921 arbeitete er im Eigenauftrag an ersten großen Vollplastiken in getriebenem Kupferblech. Monumentale Blechstandbilder hatten in Gestalten der barocken Quirinusfigur auf dem Neusser Münster oder der 1901 vor dem Bremer Rathaus aufgestellten Herolde zwar prominente Vorgänger. Doch gerade bei Letzteren wird deutlich, dass das Kupferblech, wenn überhaupt, dann nur als kostengünstige Alternative zur Bronze verwendet wurde. Eine materialgerechte sowie der künstlerischen Moderne verpflichtete Ausführung von Blechstandbildern, welche dann sogar Lehrinhalt an Kunsthochschulen werden konnte – das alles muss wohl als Lebenswerk Hans Wissels begriffen werden.
Hans Wissels Materialstudien führten zu raschem Erfolg. 1925 wurde er zum Professor und Leiter einer neugeschaffenen Klasse für „Monumentale Plastik und Metall-Treibarbeiten“ an die von Emil Thormählen im Sinne des Deutschen Werkbunds umstrukturierte Kölner Kunstgewerbe- und Handwerkerschule berufen. OB Adenauer beförderte die Institution 1926 in den Rang einer Hochschule, benannte sie in „Kölner Werkschulen“ um und holte als Leiter der Abteilung für christliche Kunst den Altmeister des katholischen modernen Sakralbaus, Dominikus Böhm, nach Köln. In die nun folgenden Jahre – es war die reifste Zeit des Wisselschen Schaffens – fallen die gemeinsamen Projekte mit Böhm, mit Otto Bartning, dem evangelischen Baumeister und eigentlichem Genius des Bauhauses, und eben mit Adolf Abel. Wissels erste direkt aus seiner Kölner Tätigkeit erwachsene Arbeit war die Gestaltung zweier Blechplastiken für Martin Elsaessers Kriegerehrenmal in der Görlitzer Nikolaikirche.
In der Zusammenarbeit mit Böhm kam Wissels Metalltreibtechnik erstmals zur vollen Entfaltung. Zu sehen ist dies seit bald 100 Jahren in der fulminanten Christkönigkirche in Bischofsheim. Für die nackte Altarwand des murnauscher Schlagschattengotik ebenso wie frühestem Béton brut frönendem Bauwerk schuf Hans Wissel ein vier Meter hohes Blechkruzifix. Mittels der auf dem Corpus zur Schau gestellten Lötnähte erreichte er eine enorme Stilisierung der Gestalt. Wie ein vom Umriss der Figur unabhängiges Gerüst liegen die Nähte auf der Gestalt des Gekreuzigten und geben ihm so eine unverstellte materielle und gleichzeitig eine hieratische, entrückte Präsenz. Solch ein die Spuren seiner Bearbeitung zur Schau stellender Körper, der dennoch ganz Geist zu sein scheint, war die perfekte Ergänzung zum unverputzten, brutalistischen Innenraum.
Ausführlich geht Elisabeth Peters auf die Kölner Werkschulen sowie deren und Hans Wissels Beitrag zur PRESSA 1928 ein. Einen Fünftteil des Textes verwendet sie darauf, und das zu Recht. Die PRESSA war nach der Sonderbundausstellung von 1912 und der Werkbundausstellung 1914 das dritte große Ereignis von internationaler Strahlkraft im jungen Köln des 20. Jahrhunderts und darf bis heute als bedeutendste Veranstaltung der Kölner Messe seit deren Bestehen gelten. 14 Jahre nach dem 1. Weltkrieg und zwei Jahre nach dem Ende der britischen Rheinlandbesetzung standen mehr als 100 auf dieser Druckmedienmesse vertretene Nationen für die Wiederanerkennung Deutschlands in der Welt.
Mit den von Erich Mendelsohn, Hans Schumacher oder Wilhelm Riphahn geschaffenen Pavillons war die PRESSA auch eine Art Leistungsschau der architektonischen Avantgarde im Weimarer Deutschland. Otto Bartning hatte für die evangelische Sonderschau der PRESSA eine Kirche im Montageverfahren bauen lassen. Die „Stahlkirche“ wurde bereits zeitgenössisch als Meilenstein auf dem Weg zur Moderne im Kirchenbau wahrgenommen und gilt beiden Kirchen in Deutschland noch heute als richtungsweisend. Für diese Inkunabel auch gegenwärtigen Sakralbaus hatte Wissel „‘ohne jede geldliche Beihilfe‘ aus purer Begeisterung für das Projekt“ die Prinzipalstücke Kanzel und Altar sowie ein monumentales Altarkruzifix kongenial entworfen und dem Bauwerk eingefügt.
Indem Peters solche Zusammenhänge darstellt, würdigt sie nicht nur den Blechplastiker Hans Wissel. Sie geht auch in eine Art kunsthistorische Vorleistung. In vier Jahren nämlich steht der 100. Jahrestag der Gründung der Kölner Werkschulen an, die nicht nur in ihrer ersten Phase bis zur faktischen Auflösung durch die Nationalsozialisten, sondern auch in den Jahrzehnten ihres Wiederbestehens ab 1949 beispielsweise mit Daniel Spoerri, Jürgen Klauke, Elisabeth Treskow, Rosemarie Trockel, Ulrich Rückriem oder Leo Fritz Gruber eine beachtliche Zahl international bekannter und agierender Kunstlehrender wie Kunstschaffender hervorbrachte. Eine umfassende Aufarbeitung der Geschichte und Würdigung der Kölner Werkschulen gibt es aber bislang nicht. Derzeit sind in Köln auch keinerlei Anzeichen zu bemerken, dass diesem Desiderat mit Blick auf 2026 in Gestalt von Ausstellungen und Publikationen entgegnet werden soll. Der Beleg für die Relevanz solch Vorhabens ist in Elisabeth Peters und Christian Wissels Buch zu finden.
Auch in anderer Hinsicht gelingt Peters mehr, als den kaum mehr bekannten Hans Wissel aus dem Brunnen der Vergessenheit zu holen. Mit klarem Blick setzt sie sich mit einem Künstler auseinander, der, auf der Höhe seines Schaffens stehend, sich scheinbar plötzlich einem jeglicher Freiheit feindlich gesinntem Regime gegenübersah. An Hans Wissel zeigt sie, wie mit dem Machtantritt von 1933 „künstlerische Individualität [verkümmern] und der Schwung der Moderne gebrochen“ werden konnte. In der ungeheuerlichen Bandbreite der von den Nationalsozialisten verfemten, verfolgten und ermordeten Kunstschaffenden und denen, die sich dem Regime bewusst andienten, gab es eine große Zahl derer, die sich ihm durch inneres oder äußeres Exil verweigerten oder sich ihm im Gegenteil anzupassen suchten. Zu letzteren gehörte Hans Wissel.
Am 1934 bis 1936 im öffentlichen Auftrag gestalteten Ehrenmal für die SA in Magdeburg oder anhand anderer bis 1939 gefertigter Arbeiten ist zu beobachten, wie Wissel seine bisherigen Material- und Formvorlieben verleugnete. Statt Kupferblech verwendete er nun Stein oder Bronze. Konstruktive Tendenzen verließ er und wandte sich neoklassischen Idealen zu. Der damit notwendig einhergehende Mangel an kritischer Distanz gegenüber dem eigenen Werk war in seinem Fall offenbar so groß, dass ihm selbst dieser Bruch verborgen blieb. 1937 hatte er für eine Ausstellung in der Städtischen Kunsthalle Mannheim mehrere aktuelle, in regimekonformem Stil gefertigte Porträtbüsten, aber auch einen frühen, maskenhaft stilisierten Mädchenkopf von 1926 eingeliefert. Das ältere Werk wurde denn auch prompt als ‚entartet‘ beschlagnahmt. „Erstaunlich bleibt, dass Wissel die Unvereinbarkeit dieser (seiner) höchst unterschiedlichen künstlerischen Positionen nicht bemerkte. Die Kunstfunktionäre des Dritten Reiches unterschieden hingegen umso klarer.“ (Peters)
Erst unter dem Eindruck der Teilnahme am 2.Weltkrieg stellte Wissel fest, dass seine Kreativität in eine Sackgasse geraten war. „Nirgends habe ich im Kriege einen Punkt gefunden, der mir nur einen Schimmer der leisesten Wärme für meine Arbeit gebracht hätte. Das große Erleben in der Landschaft, das ich manchmal fand, vermochte nicht [zu verhindern], dass zutiefst im Innern sich immer mehr eine Abgestumpftheit festfraß“, stellte er in einem Brief vom November 1940 fest. Aber auch das war eine Folge des nationalsozialistischen Kunstdiktats, dass „die lebendige Kunst“ in Verstecken gehalten wurde und durch die Ausstellungsräume nur „billiger Brei von Farbe und Form“ floss (Brief vom 22.05.1941). Nach 1945 blieb Hans Wissel wohl zu wenig Lebenszeit, als dass er einen wirklichen künstlerischen Neuanfang hätte versuchen können.
Elisabeth Peters und Christian Wissel: Hans Wissel (1897-1948). Blechplastiken, 120 Seiten, 16 Abbildungen und 51 Tafeln, Ilmtal-Weinstraße: VDG als Imprint von arts + science weimar GmbH, 2021, 28,00 Euro.
alle Bildrechte bei Christian Wissel, Marburg
Allegorische Plastik auf dem Kölner Messeturm, 1928
Montage der Plastik auf dem Messeturm, 1928
Hans Wissel (stehend) mit Studierenden im Atelier, 1928 (auch Titelbild)
Kruzifix für die Christkönigskirche im Atelier, 1926
17. Mai 2022 || eine Rezension von Markus Juraschek-Eckstein, Kunsthistoriker und Germanist