Festwoche zum 275. Geburtstag von Johann Wolfgang von Goethe
Er kommt nicht!
Wie würde Goethe seinen Geburtstag begehen, wenn er (Goethe) noch unter uns weilte? Vielleicht wie Lili Schönemann, seine Verlobte, deren 17. Geburtstag am 23. Juni 1775 im Kreise von Freunden und Familie im Hause der Familie ihrer Mutter in Offenbach begangen werden sollte. Im 17. Buch seiner Autobiographie „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“ schildert Goethe, aus dem Abstand eines halben Jahrhunderts, Vorfreude und Vorbereitungen, aber auch die Verzögerungen und Hindernisse, die die Festfreude beinahe getrübt hätten. Vielleicht war es aber auch gar nicht so, und der alte Goethe gibt uns nur ein Lehrstück über die Macht der (seiner?) Dichtung?
Am Vorabend nämlich tritt Lilis Bruder Georg in Goethes Zimmer, „die Schwester lasse sagen, dass es ihr völlig unmöglich sei, morgen Mittag nach Offenbach zu kommen und an dem ihr zugedachten Feste teilzunehmen; erst gegen Abend hoffe sie ihre Ankunft bewirken zu können.“ Sie bitte ihn, sich etwas auszudenken, um Ärger und Enttäuschung der Festgesellschaft zu dämpfen. Die Stimmung sinkt, Goethe sinnt.
Die Nacht über schreibt er, so berichtet/behauptet er in „Dichtung und Wahrheit“, ein Gelegenheitsgedicht:
„Sie kommt nicht!
Ein jammervolles Familienstück, welches, geklagt sei es Gott, den 23. Juni 1775 in Offenbach am Main auf das allernatürlichste wird aufgeführt werden. Die Handlung dauert vom Morgen bis auf`n Abend.“
Alle Glieder der kleinen Festgesellschaft, aber auch das Hauspersonal treten auf in dem kleinen Stück, das Goethe per Boten nach Offenbach voraussendet, so dass es die Familie schon gelesen hat, als Goethe mittags selbst eintrifft, und sich in ihren Eigenheiten, typischen Gesten und Redewendungen so gut abgespiegelt findet, dass die Enttäuschung über Lillis Ausbleiben fast vergessen wird: „Ein fröhliches Mittagsmahl, eine Mäßigung aller Feierlichkeiten gab uns die Stimmung, Lili ohne Prunk, aber vielleicht um desto lieblicher zu empfangen. Sie kam und ward von heiteren, ja lustigen Gesichtern bewillkommt, beinah betroffen, dass ihr Ausbleiben so viel Heiterkeit erlaube.“
Auch am 28. August 2024 gilt wohl (geklagt sei es Gott): Er kommt nicht! Aber zumindest hat auch dieser Anlass Gelegenheit gegeben, sich mit einem kleinen Text zu unterhalten und ein wenig ohne ihn zu feiern.
Über die Festwoche
Am 28. August 2024 jährt sich der Geburtstag von Johann Wolfgang von Goethe zum 275. Mal. Dieses besondere Datum nehmen wir zum Anlass, eine festliche Woche in unserem Blog zu gestalten. Vom 26. August bis 31. August erwartet Sie täglich ein neuer Beitrag, in dem verschiedene Autorinnen und Autoren ihre Vorstellungen davon teilen, wie Goethe seinen Geburtstag in der heutigen Zeit feiern würde. Wie würde er diesen besonderen Tag begehen? Wen würde er einladen? Wo würde die Feier stattfinden? Freuen Sie sich auf sechs facettenreiche Beiträge. Feiern Sie mit uns und lassen Sie sich von den kreativen Beiträgen inspirieren!
31. August 2024 || ein Beitrag von Dr. Robert Steegers, Germanist, veröffentlichte mit Norbert Oellers „Weimar. Literatur und Leben zur Zeit Goethes“, Geschäftsführer des Bonner Zentrums für Lehrerbildung, Universität Bonn