Faszination Mittelalter
Von 500 n. Chr. bis ungefähr 1500 n. Chr. spricht man in Europa vom Mittelalter – einer Epoche, die auf Publikum wie Kulturschaffende gleichermaßen einen fast magischen Reiz ausübt. Historische Romane aus dem Mittelalter stehen regelmäßig auf deutschen und europäischen Bestsellerlisten, Fernsehfilme und Dokumentationen interessieren ein Millionenpublikum.
Es war die Epoche der Ritter, Burgherren, Minnesänger und der edlen „vrouwen“; die Epoche früher überlieferter Epen und Sagen – aber auch die Epoche der Leibeigenschaft, der Pest, der bitteren Armut und der Unfreiheit. Warum faszinieren diese auf den ersten Blick dunklen Jahrhunderte so sehr, und was genau hält dieses Interesse auch jenseits von Forschung und Wissenschaft so nachhaltig lebendig?
Keine Frage: Das Mittelalter ist eine der großen Chiffren christlich-europäischer Kultur, ihre Versatzstücke und Klischees sind allgegenwärtig. Erst langsam rücken neben dem lateinischen Mittelalter auch arabische, slawische und byzantinische Entwicklungen in den Fokus der Forschung.
Bei dem niederländischen Historiker Johan Huizinga heißt es schon 1924: „Für Elend und Gebrechen gab es weniger Linderung, sie kamen wuchtiger und quälender … die schneidende Kälte und das bange Dunkel des Winters waren wesentlichere Übel. Ehre und Reichtum wurden inbrünstiger und gieriger genossen, sie unterschieden sich noch schärfer als heute von jammernder Armut und Verworfenheit.“
Aber gerade die Fallhöhe dieser Unterschiede macht die mittelalterliche Welt für uns Heutige fremd und faszinierend zugleich: Sie war – obwohl auf den ersten Blick in Dreck und Dunkelheit getaucht – bunter, amorpher, vielgestaltiger und intensiver. Huizinga hat die Faszination so beschrieben: „Als die Welt noch ein halbes Jahrtausend jünger war, hatten alle Geschehnisse im Leben der Menschen viel schärfer umrissene Formen als heute. Zwischen Leid und Freude, zwischen Unheil und Unglück schien der Abstand größer als für uns; was man erlebte, hatte noch jenen Grad von Unmittelbarkeit und Ausschließlichkeit, den die Freude und das Leid im Gemüt der Kinder heute noch besitzen.“
Der Radius für die Reflektion der eigenen Existenz, des eigenen Handelns und auch die Einordnung von kirchlicher oder fürstlicher Gewalt endete vielfach an den Burgmauern oder an den Grenzen des heimatlichen Weilers. Lehnsherr und Bischof hatten aus Sicht der Bauern, einfachen Soldaten oder Handwerker nahezu grenzenlose Verfügungsgewalt, waren aber oft durch Fehden, Kriege und Feindschaften selbst bedroht: Eine von schicksalhafter Fügung geprägte latente systemische Instabilität, die mit der Eintönigkeit des Alltags der hart arbeitenden Bevölkerung in scharfem Kontrast stand.
Ganz anders das römische Reich. Dieses galt bis zu seinem Untergang als hochentwickelt; Rom und seine Statthalter lebten nach festen Regeln und Gesetzen. So zum Beispiel war die römische Armee ein kompaktes, strukturiertes Heer mit einem gemeinsamen Erscheinungsbild (heute würde man es „Corporate Identity“ nennen) und stand unter hierarchisch zugeordneter Regie. Die frühmittelalterlichen Stammesfürsten hingegen zogen meist mit einer wenig geordneten Schar an Kriegern in die Schlacht, für die ein einheitliches Erscheinungsbild nicht überliefert ist. In diesem Unterschied zwischen den beiden „Formationen“ liegt vielleicht ein erster Grund für die Faszination des Mittelalters: Die Römerzeit, geprägt vom Bild einer rigide und regelhaft geformten Gesellschaft, bietet wahrscheinlich weniger Projektionsfläche als das romantische Bild des Mittelalters, in dem selbst die bedrohlichen Züge dieser Epoche eine verklärte Überhöhung finden. Dass es obendrein weniger als normiertes Schulwissen daherkommt als beispielsweise die Antike, macht die breite Rezeption leichter.
Der Schweizer Historiker Valentin Groebner erklärt zur Rezeptionsgeschichte in seinem Buch „Das Mittelalter hört nicht auf“: „Mittelalterliches Material erscheint als heterogener Fundus, in dem alles je gleich weit entfernt ist und miteinander zu verschiedenen Zwecken kombiniert werden kann.“ Diese Äquidistanz zu einzelnen Fakten macht die Forschung einigermaßen „anfällig“ für die Interpretation des Forschers, Lesers oder Betrachters.
Der luxemburgische Germanist und Historiker Michel Margue kommentiert dazu: „Mich interessiert nicht nur das Mittelalter, sondern auch, wie es bis heute nachwirkt, also nicht nur die Realität des Mittelalters, sondern auch das Bild, das wir davon haben. In der Forschung hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Geschichte auch etwas ist, was zu bestimmten Zwecken gebraucht wird.“
Der Rückgriff auf Helden und Mythen des Mittelalters etwa füllte im frühen 19. Jahrhundert das Vakuum einer vielfach als „defizitär“ empfundenen Gegenwart und diente den entstehenden europäischen Nationalstaaten zur Legitimation ihrer Gründung. Der deutsche Nationalstaat unter Kaiser Wilhelm und später unter Hitler bediente sich weiterhin aus dem Fundus siegreicher mittelalterlicher Geschichte, so entlegen sie auch sein mochte, und konnte sich darin oft genug auf Wissenschaft und Forschung ihrer Zeit berufen.
Gerade Mittelalterhistoriker waren den Vorstellungen ihrer eigenen Zeit von edlen oder weniger edlen Rittern, Burgfräuleins, tüchtigen Bürgern, gelehrten Mönchen und trutzigen Bauern eng verbunden. In der Auslegung der Quellen waren Mediävisten, gleich welcher Herkunft, bis vor wenigen Jahren oft ihren Thesen verhaftet: Mittelalterforschung handelte immer auch von der Gegenwart ihrer Erforscher.
Dies wird deutlich u.a. an einem Beitrag des russischen Mediävisten Michail Bojcov (Moskau) anlässlich eines Kongresses im Jahr 2003. In Russland, so sein Vortrag, hätten Mathematiker eine sog. „Neue Chronologie“ entwickelt, die eine explizit politische Botschaft vertrete, indem sie die Geschichte eines seit der Antike existenten russischen Großreiches in den Mittelpunkt der Weltgeschichte stelle. Besorgniserregend sei, so Bojcov, die Popularität dieser Thesen, die bereits an einigen Universitäten und Militärakademien gelehrt werde und die im Land im Wesentlichen unwidersprochen blieben (aus: Tagungsband: Hans-Werner Goetz / Jörg Jarnut (Hg.), Mediävistik im 21. Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung. 2003)
An den hiesigen Universitäten hat die Forschung in den letzten zwanzig Jahren eine andere Richtung genommen. Hier steht der Versuch im Vordergrund, die eigene Wirklichkeit mit zu denken, die eigene Bedingtheit bei der Exegese zu reflektieren und – wenn möglich – Querverweise aus anderen mit dem Mittelalter befassten Disziplinen hinzu zu ziehen. Auf diesem Hintergrund definiert sich die Mittelalterforschung heute eher als „Kulturwissenschaft“ in ihrer Gesamtheit denn als Geisteswissenschaft.
Dies wird an einem besonders schönen, besonders reizvollen Teil der schriftlichen Überlieferung von Literatur besonders deutlich: Am mittelalterlichen Minnesang. Wurde er früher ausschließlich als das verstanden, was er auf den ersten Blick war – nämlich höfische Liebeslyrik, gerichtet an eine unerreichbare Angebetete – so decodiert die moderne Forschung diese stets für den öffentlichen Vortrag vorgesehene Poesie heute durchaus vielschichtiger. Ihre Implikationen fächern ein ungeahntes Panorama der mittelalterlichen Gesellschaft am Hofe auf, allem voran ein Selbstbildnis des Vortragenden.
Der Blick auf diese Rolle und auf die Narrative der hoch- und spätmittelalterlichen Gesellschaft muten auf bizarre Weise vertraut und exotisch zugleich an – ein Eindruck, der sich bei der Transkription mittelalterlicher Noten in gespielte Musik noch potenziert.
Auf dem Hintergrund der aktuellen Forschungslage freuen wir uns sehr, am 2. und 3. April 2022 ein Seminar zum Thema in Bensberg anbieten zu können: „Von Männern, Macht und Selbstmitleid – Der Minnesang des Mittelalters“. Privatdozent Dr. Silvan Wagner, Mediävist der Universität Bayreuth, ist ein ausgewiesener Kenner des Sujets. Ein vorangegangenes Mandolinenstudium befähigt ihn, nicht nur die mittelalterlichen Texte, sondern auch Noten der vergangenen Jahrhunderte wieder zum Leben zu erwecken: Ein nicht alltäglicher Vortrag im Rahmen eines spannenden Seminars steht auf unserer Agenda.
Seien Sie gerne dabei – wir freuen uns, Sie am 2. April in Bensberg zu begrüßen.
Herzliche Einladung!
2. bis 3. April 2022 (Sa.-So.)
Von Männern, Macht und Selbstmitleid
Zum Minnesang des Mittelalters
18. Februar 2022 || ein Beitrag von Felicitas Esser, Akademiereferentin für Kultur und Gesellschaft