Buchempfehlung von Prof. Dr. Hans-Joachim Wagner
Beethovn
Albrecht Selge
2020, Rowohlt
Richard Wagner beschreibt in seiner Novelle „Eine Pilgerfahrt zu Beethoven“, wie sich ein junger Komponist auf den Weg nach Wien macht, von dem drängenden Wunsch beseelt, sein großes Idol Ludwig van Beethoven zu treffen, um mit ihm über‘s Komponieren zu philosophieren. Beethoven aber macht sich rar, und erst nach vielen gescheiterten Versuchen mag die Kontaktaufnahme gelingen.
Albrecht Selge schließt sich in seinem Roman „Beethovn“, der passend zum 250ten Geburtstag des Komponisten 2020 veröffentlicht wurde, dieser Erzählstrategie an und treibt sie zugleich auf die Spitze. Genauso wie in dem Romantitel „Beethovn“ ein Buchstabe fehlt, müssen wir als Leser*in einem Fehlenden nachspüren – und dieses Fehlende ist niemand anderer als Beethoven selbst. Beethoven tritt in Selges Roman nie in Erscheinung, und doch ist er allgegenwärtig.
„Beethoven war nicht da“ – so beginnt konsequent das mit der Jahreszahl „1822“ überschriebene erste Kapitel. Beethoven wird umkreist, eingekreist, markiert die dunkle Mitte für seine Mitmenschen, die ihre Existenz, ihr Leben, ihren Lebenssinn auf ihn und aus ihm beziehen. Beethoven ist Projektionsfläche all’ ihrer Wünsche und Sehnsüchte. Wer aber sind jene Anderen, deren ganz unterschiedliche Blicke auf Beethoven von Albrecht Selge zu einem ebenso komplexen wie schillernden Bild des Komponisten zusammengefügt werden?
Ein Musikstudent, der durchs nächtliche Wien streift; Beethovens Neffe Karl, der seinen Onkel bei einem Spaziergang in Baden begleitet; eine italienische Gräfin, die einer Aufführung eines Beethovenschen Streichquartetts beiwohnt; eine Vorfahrin aus Flandern, die Haushälterin, eine Sexarbeiterin … Selge verfolgt die verschlungenen Pfade der Projektion mit Akribie und großem musikalischen Sachverstand. Dabei hebt er sich wohltuend vom gängigen Beethoven-Bild ab, das den Komponisten stets im Kontext des Genialen, des Heroischen und des Pathetischen diskutiert.
Humor und satirische Zuspitzung sind demgegenüber wesentliche Ingredienzien des Schreibens von Albrecht Selge. Wenn er beispielsweise im letzten Kapitel notiert: „… unter einer vielleicht fünfzehn Zentimeter hohen weißen Statue des Brutus , hatten sich sieben Bankaktien von gehörigem Wert gefunden, außerdem ein Jahrzehnte altes, in Heiglnstadt verfasstes und längst ungültiges Testament sowie zwei kleine Frauenporträts und ein mit Bleistift geschriebener, wirrer Brief an eine unbekannte Frau.“ – dann wird uns einmal mehr vor Augen geführt, wie sich für uns Nachfahrende Beethoven ins Idealische verflüchtigt hat; sei es mit der Glorifizierung des Heiligenstädter Testaments als Zeugnis von Beethovens Künstlertum oder der Deutungsschwere zum Brief „An die unsterbliche Geliebte“, der Generationen von Beethoven-Biograf*innen zur Exegese herausgefordert hat. Papier unter vielen, für den Komponisten selbst längst ohne Bedeutung. Selges „Beethovn“ konfrontiert uns augenzwinkernd mit unserem „falschen“ Beethoven.
Anlässlich der Frankfurter Buchmesse (20. bis 24. Oktober 2021) haben wir uns im Redaktionsteam über die Bücher ausgetauscht, die wir gerade lesen und/oder empfehlen können. Für uns ist Lesen eine der schönsten Beschäftigungen, auch – oder vor allem gerade – im digitalen Zeitalter. Die Lektüre eines Romans am Feierabend wirkt entschleunigend und entspannend.
Außerdem geben uns die Geschichten Einblick in das Leben anderer. Wir schauen über unseren Tellerrand, die Menschen fremder Länder, anderer sozialer Schichten oder divergierender Einstellungen kommen uns näher. Das entfaltet unser Verständnis füreinander.
Daraus ist die Idee entstanden, Personen, die mit der Akademie verbunden sind, nach einer Buchempfehlung für unseren Blog „Akademie in den Häusern“ zu fragen. Zusammengekommen sind 14 besondere Beiträge: Romane, Biografien und Kochbücher, Klassiker und neu erschienene Werke, die wir Ihnen bis zum 24. Oktober 2021 in unserem Blog vorstellen.
Wir wünschen Ihnen eine inspirierende Lektüre.
Haben Sie ein Buch, das Sie gerne in unserem Blog empfehlen möchten? Schreiben Sie uns an:
20. Oktober 2021 || eine Buchempfehlung von Dr. Hans-Joachim Wagner, Professor am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität zu Köln
Hans-Joachim Wagner ist seit etwa 20 Jahren Referent in der Thomas-Morus-Akademie, u.a. bei Seminaren zur Musikgeschichte, Veranstaltungen zu Opernaufführungen, Tagungen zum Musikfestival „Spannungen“ oder auch zum Beethovenfest in Bonn.