Architektur in Bewegung – Das Marta in Herford von Frank O.Gehry

Wer 1990 an Herford dachte, hatte sicherlich eine idyllische Fachwerkstadt im Kopf, eine Stadt voller Kirchtürme mit einem spätromanischen Münster und zweier wunderbar im Stil der Spätrenaissance ausgestatteter Pfarrkirchen. An Avantgarde hätte man eher nicht gedacht.

Heute ist das eine ganz andere Geschichte, denn die Stadt besitzt heute einen Museumsbau von großer Strahlkraft, der von Frank O. Gehry entworfen wurde und seit 2005 immer wieder mit zwar relativ kleinen, aber originellen Ausstellungen von sich reden macht.

Begonnen hatte die Geschichte 1996 mit einem Besuch des Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Wolfgang Clement, der die Möbelindustrie der Stadt fördern wollte und deshalb ein „Haus des Möbels“ und eine Designsammlung anregte, die ursprünglich 2000 zur Expo öffnen sollten. Durch die Wahl des Kurators Jan Hoet und den Erwerb einer großen Privatsammlung veränderte sich das Projekt allerdings wesentlich und das Museum wurde zu einer Multifunktionsarchitektur, die momentan vor allem für Sonderausstellungen verwendet wird. In diesen Monaten findet eine große Sonderausstellung zu den Materialien Beton und Glas in der zeitgenössischen Kunst statt, an der so bekannte Künstler wie Isa Genzken oder Isa Melsheimer teilnehmen. Die Ausstellung wiederholt in ihrer Themenwahl eine Diskussion, die schon der Bau selber anregte, der in einer seltsamen Spannung zwischen dünnen Materialschichten und wuchtig skulpturalen Bauelementen changiert.

Das Museum erinnert an eine gigantische Plastik. Es ist schwer zu lesen und verlangt vom erkundenden Besucher ein wenig Fußarbeit. Man muss den Bau umrunden, um ihn zu ergründen. Von der Seite gesehen wirkt es asymmetrisch und hat auf den ersten Blick keine Fenster. Nähert man sich dem Gebäude jedoch frontal, öffnet sich die Fassade in einer doppelten Wellenbewegung nach rechts und links und erlaubt den Zugang zu einer teils verglasten, teils mit hochpoliertem Metall verkleideten mittleren und planen Eingangswand. Auch hier wird der Betrachter von der vorgelagerten Piazza in den Bau regelrecht hineingesogen durch einen wellig gestalteten Windfang über der Tür.

Dieser Eingangsbereich besteht aus Glas und Edelstahl und verweist auf das dahinterliegende, hier einbezogene historische Gebäude, eine ehemalige Textilfabrik aus der Nachkriegszeit, die unter Denkmalschutz steht. Die vielen konvexen und konkaven Bauteile, die gewellt ansteigenden Dächer setzen Assoziationen von Wasser und sich darin bewegenden organischen Wesen frei – Fische oder sogar Quallen. Die emporragenden Schächte, welche die seitlich nicht durchfensterten Ausstellungsräume mittels Oberlichtern erhellen, erinnern vielleicht an Schornsteine von Dampfern, sind aber ebenfalls äußerst dynamisch gestaltet. Die Bewegung gipfelt im rechts vom Eingang liegenden Ausstellungsgebäude in einer 22 m hohen bekrönenden Glasspitze. Um diesen Gipfel liegen 5 Galerien von unterschiedlicher Höhe. Im Vergleich zum Guggenheim-Museum in Bilbao ist der Herforder Bau nicht ganz so skulptural gestaltet, da er nicht solide wirkt. Gehry lässt die aus rotem Ziegelstein, Edelstahl, Titan und Glas bestehenden Bauteile so scharfkantig aufeinandertreffen, dass Baunähte sichtbar bleiben und der Betrachter erspüren kann, wie dünn die Hülle dieses Gebäudes ist – als sei es nur eine Haut, die sich nervös über eine wild gewellte Stahlträgerkonstruktion spannt. Auch innen bestehen die Wände und Decken aus dünnem Gipskarton, sind ebenfalls schräg und rundlich. Der Eingangsbereich erscheint zunächst schockierend niedrig, leitet dann über in den geradlinigen Vorgängerbau aus der Nachkriegszeit, seitlich in die extrem hohen Ausstellungs- und Veranstaltungsräume. Besonders auffallend sind im Foyer die Holzvertäfelungen und leicht geschwungenen Holztreppen, die die Obergeschosse erschließen. Das Gebäude bietet eine Ausstellungsfläche von 2500 m², dazu kommen Räumlichkeiten für den Verkauf und für Konzertveranstaltungen. Eine Besonderheit im Marta stellt die sogenannte Kupferbar dar, die sich mit einer kantigen Glasfassade zum Gewässer hinter dem Haus öffnet und andererseits eine kurvig gestaltete in warmrotem Kupfer verkleidete Empore birgt. Ausgerechnet hier lässt Gehry die Versorgungstechnik des Baus wie etwa Abluftrohre sichtbar.

Die Zeit schrieb anlässlich der Eröffnung des Museums 2005 etwas bösartig, der Bau reiche an Gehrys dekonstruktivistischen Standard in Bilbao und Weil am Rhein diesmal nicht ganz heran. Dazu sehe Marta „doch zu gestückelt, ein wenig zusammengeklebt, nicht ganz aus einem Guss aus“ und die „museale Hardware aus 5000 Quadratmetern Edelstahl und 180.000 Klinkersteinen“ habe als „Ereignis“ zu gelten. Tatsächlich fehlt dem Herforder Museum die kompakte organische Stringenz des Guggenheim. Es transportiert aber eine andere Botschaft, die Gehry immer wichtig gewesen ist. Schon Gehrys Wohnhaus in Santa Monica, das als Geburtsort des Dekonstruktivismus gilt, erweckte den Eindruck einer kleinen Siedlung, nicht den einer kompakten Form. Auch das Marta in Herford ist ein solcher Bau aus zellenartig oder kapellenartig nebeneinander positionierten einzelnen Elementen, die hier aber eine parallele Choreographie durchführen. Wenn „Ginger und Fred“, ein berühmtes Bauensemble Gehrys in Prag an ein tanzendes Paar erinnert, so lässt Herford an eine ganze Chorus Line denken.

Um das Museum herum befindet sich ebenfalls eine Reihe von Kunstobjekten, etwa ein Helikopter von Michael Sailstorfer, vor allem aber eine Edelstahlkugel von Luciano Fabro, Teil einer Bodenskulptur auf der Goebenstraße, die einen Ausschnitt aus dem Gedicht „Der Ball“ von Rilke wiedergibt:

„Du Runder, der das Warme aus zwei Händen, im Fliegen, oben fortgiebt, sorglos wie sein Eigenes; was in den Gegenständen nicht bleiben kann, zu unbeschwert für sie, zu wenig Ding und doch noch Ding genug…“

Die Auswahl dieser Bodenplastik kommentiert intelligent das eigentliche Skandalon dieses Baus – die Verweigerung gegenüber allem, was statisch ist und damit unbelebt. Gehrys Bau ist wie ein Manifest für Bewegung und damit als Rahmen für die darin auszustellende Kunst eher problematisch. Die bewegten organischen Formen setzen eine Traditionslinie der Moderne fort, die mit Künstlern wie Hans Arp oder Architekten wie Le Corbusier beginnt. Überraschend ist allerdings eine Selbstaussage des Baumeisters zu seinen formalen Quellen.

Laut Gehry ist nämlich eine seiner zentralen Inspirationen die Begegnung mit dem Mittelalter und mit der Antike während eines Europaaufenthaltes gewesen.

Man lasse sich nicht von Gehrys Aussagen über das antike Griechenland täuschen. Nicht die Architektur, sondern die Plastik scheint einen wichtigen Einfluss auf seine Baukunst auszuüben. So hängt etwa ein Bild des Wagenlenkers von Delphi aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. in seinem Atelier in Santa Monica. Diese Arbeit scheint einen besonderen Platz in Gehrys Leben einzunehmen, da ihre Schönheit, wie er sagt, ihm „Tränen in die Augen trieb“.

Das Innere der linken geballten Hand des Wagenlenkers und die Bewegung der Seile waren für den Architekten interessant bei der Gestaltung des Guggenheim-Museums in Bilbao. Er machte in dieser alten Bronzeskulptur Bewegung aus, „die den Materialien innewohnte“. Während Kollegen die Ingenieurstechnik, die auf Säulen basierenden Gestaltungsprinzipien des Parthenon betrachteten, bewunderte er die Skulpturen des Tempelfrieses, die „Elgin Marbles“. Gehry überträgt die Bewegtheit dieser Friesfiguren in seine Bauten, um Schmuck zu ersetzen und dem Bau Leidenschaft zu implantieren. „[Phidias] konnte ein Gefühl der Bewegung vermitteln, indem die Schilde der Krieger in den Stein drückten. Wenn man das im britischen Museum sieht, spürt man den Druck. “

Das Bilbao-Museum überführt diese Bewegung in eine architektonische Form. Unabhängig davon, ob sich der Betrachter in Bilbao an ein Schiff erinnert, das sich dem Hafen nähert oder an einen Fisch, der dem Wasser entsteigt: Die gewundene Fassade des Gebäudes hat Vorläufer in den Seilen des Wagenlenkers von Delphi und den Kriegern des Parthenon-Frieses. Tatsächlich lässt sich auch das Herforder Museum wie ein Fries lesen. Wer die Erzählung dieses Frieses verstehen möchte, muss, wie gesagt, am gesamte Museumsbau entlangwandern.

Eine weitere Quelle für Gehrys Bauten sind barocke Architekturen der Zeit um 1650. Nicht von der Hand zu weisen ist eine gewisse Ähnlichkeit zu Bauten des römischen Architekten Borromini, beispielsweise der heftig geschwungenen Fassade von San Carlo alle Quattro Fontane in Rom. Auch hier scheint sich die Fassade der Kirche in der Mitte zu teilen und dem Betrachter entgegen zu kommen. Die seitlichen Fassadenteile bewegen sich ebenfalls auf den Besucher zu und scheinen ihn umarmen zu wollen. Bezeichnenderweise sind gerade auch die römischen Architekten des Hochbarock sich sehr ihrer römisch-antiken Vorläufer bewusst gewesen, so etwa bestimmter Bauten in der Villa Hadriana in Tivoli.

Nicht nur Gehry und Le Corbusier gehören also demselben Gentlemen’s Club an, sondern auch Phidias, Bernini und Borromini. Hoffen wir, dass man Zaha Hadid auch in diesen Club aufgenommen hat. Deren Bau des MAXXI Museums in Rom widmet sich Dr. Till Busse demnächst in einem weiteren Beitrag in der Akademie in den Häusern.

19. September 2020 || ein Beitrag des Kunsthistorikers Dr. Till Busse