Eine literarische Kathedrale
Das Buch Jesaja
Das Buch Jesaja ist nach den Psalmen das am meisten zitierte Buch im Neuen Testament. Keine andere Schrift der Hebräischen Bibel hat so tiefe Spuren in den frühchristlichen Versuchen hinterlassen, das Wirken Jesu von Nazareth auf der Grundlage des ersten Bundes JHWHs mit seinem Volk Israel zu interpretieren.
Ausgangspunkt dieser einzigartigen prophetischen Schrift ist Jesaja ben Amoz am Ende des 8. Jhd. v. Chr., der in Jerusalem gewirkt hat. Sein Name ist Programm: Jeschajahu, das bedeutet „JHWH rettet“. Die nach ihm benannte Schriftrolle wurde über einen Zeitraum von 500 Jahren immer wieder erweitert und fortgeschrieben. Bildlich gesprochen ist das Buch Jesaja eine biblische Kathedrale, an denen unzählige Baumeister, d.h. schriftkundige Dichter mitgearbeitet haben.
Entstanden in Zeiten vielfältiger sozialer Spannungen und militärischer Bedrohungen fasziniert diese Schrift mit der Hoffnung auf eine Zukunft des Friedens unter den Völkern. Wüste und Exilierung, Trost und Neuanfang, Erwartung des messianischen Herrschers und der leidende Gottesknecht, das kinderlose Jerusalem und Zion als Mutter vieler Völker, diese literarische Kathedrale gilt es zu entdecken – und zu bestaunen.
Wir freuen uns auf Sie!
Ihre Referenten/innen und Tagungsleitung
Samstag, 6. Mai 2023
14.00 Uhr
Das Buch Jesaja
Vom prophetischen Wort zum prophetischen Buch
Die Sichtweise auf prophetische Bücher hat sich in den letzten 30 Jahren grundlegend gewandelt. Standen zuvor Einzelsprüche im Vordergrund, die auf charismatische Prophetengestalten zurückgeführt wurden, hat sich die Aufmerksamkeit auf die Komposition des Gesamtbuchs verlagert. Nur im Kontext der gesamten 66 Kapitel entfalten die einzelnen Aussagen ihr theologisches Gewicht. Der Rundgang durch die literarische Kathedrale wird zeigen, wo die zentralen Pfeiler zu finden sind, die dieses biblische Kunstwerk tragen. Nur im Resonanzraum des ganzen Buchs erklingen die Einzelstimmen und ergeben eine faszinierende Symphonie alttestamentlicher Gottesbegegnung.
15.30 Uhr
Kaffee- und Teepause
15.45 Uhr
Die Bedrohung und Errettung Jerusalems und Zions
In keiner zweiten biblischen Schrift stehen Jerusalem und Zion so im Zentrum wie im Buch Jesaja. Die prophetische Geschichtsschau, die sich von der neu-assyrischen über die neu-babylonische, persische bis hin zur hellenistischen Periode erstreckt, hat immer mit dem Schicksal der Stadt JHWHs zu tun, die nicht allein ein geographischer Ort, sondern als Braut und Mutter Zion personifiziert ist und damit in eine sehr persönliche Beziehung zu ihrem Schutzgott tritt. Als Braut JHWHs und Mutter ihrer Bewohnerschaft vermittelt sie zwischen Gott und Volk, trägt sowohl die Schwere des Exils als auch die Hoffnung auf einen Neubeginn: „Tröstet, tröstet mein Volk, sprecht zum Herzen Jerusalems“ (Jes 40,1a).
18.00 Uhr
Abendessen
19.00 Uhr
Die Gottesknechtslieder und der Gottesknecht
Von Schuld, Stellvertretung und Versöhnung
„Gott hat ihn treffen lassen die Schuld von uns allen“. Dieser Vers aus dem so genannten vierten Lied vom Gottesknecht in Jes 53 ist einer der prägenden Aussagen, die in christlicher Leseweise auf Jesus von Nazareth gedeutet werden. Aber wer stand historisch hinter dem Gottesknecht und den Texten, die von ihm handeln? Ist es eine anonyme Einzelgestalt oder ein Kollektiv?
Muss Schuld immer persönlich verantwortet werden oder kann man Schuld ebenso stellvertretend tragen, ja wegtragen? Doch gibt es ohne Zweifel auch kollektive Schuldzusammenhänge, die Gesellschaften im Innersten bedrohen und keinen wirklichen Neuanfang zulassen. Das vierte Lied vom Gottesknecht, in kollektiver Perspektive gedeutet, liefert wichtige Hinweise für die Bereitschaft, Schuldverstrickungen wahrzunehmen und Versöhnungsstrategien zu eröffnen.
21.15 Uhr
Ende des Veranstaltungstages
Sonntag, 7. Mai 2023
ab 7.00 Uhr
Frühstück für Übernachtungsgäste
8.00 Uhr
Gelegenheit zum Besuch eines katholischen Gottesdienstes in der Edith-Stein-Kapelle
9.30 Uhr
Das „Messianische Triptychon“
Altorientalische Gesellschaften können sich keine heilvolle Ordnung ohne einen gerechten Herrscher vorstellen. Dies gilt auch für das biblische Israel und so entwickelt es gerade im Buch Jesaja eine Herrschererwartung, die auf eine Durchsetzung des Gotteswillens zum Schutz der Schwachen und Wehrlosen drängt. In der neueren Jesajabuch-Forschung gelten Jes 7 – 9 – 11 als das „messianische Triptychon“ und zeichnen ein beeindruckendes Herrscherbild, das für die neutestamentliche Christologie und die adventliche Erwartung prägend wurde.
11.00 Uhr
Kaffee- und Teepause
11.30 Uhr
Das neue Jerusalem als Zentrum für Israel und die Völker
Am Ende des Jesajabuchs steht nicht etwa die messianische Hoffnung (vgl. Jes 7; 9; 11), sondern die Erwartung eines neuen Jerusalems als einer sozialen Ordnung des Friedens und der Gerechtigkeit (Jes 60–62; 65–66). Dieses neue Jerusalem fällt aber nicht vom Himmel, sondern bedarf einer Gemeinschaft derer, die sich als Gottes Knechte und Mägde verstehen. Sie sind die wahre Nachkommenschaft Zions und des Gottesknechts, ohne sie kann Jerusalem nicht als Licht der Nationen in die Welt hineinscheinen. Soziale und kultische Vergehen haben in ihr keinen Platz mehr, womit sich der Bogen zu Jes 1 schließt. Zur Völkerwallfahrt zum Zion (vgl. Jes 2; 4) kann es nur kommen, wenn in Jerusalem Frieden und Gerechtigkeit vorgelebt werden. Dies ist nicht zuletzt der christlichen Kirche ins Stammbuch geschrieben, will sie „lumen gentium“ sein, Licht für die Welt.
13.00 Uhr
Mittagessen
14.00 Uhr
Ende des Seminars
Änderungen im Programmverlauf und in der Organisation bleiben vorbehalten.