Buchempfehlung von Prof. Dr. Jochen Golz
Die verdrängte Zeit. Vom Verschwinden und Entdecken der Kultur des Ostens.
Marko Martin
2020, Klett-Cotta, Stuttgart
Seit langem bewegt mich die Frage, wie es um das Kulturbewusstsein all jener bestellt ist, deren Lebenszeit – wie die meine – mit dem Bestehen eines Staates verknüpft ist, der unter dem Zeichen angetreten war, eine Deutsche Demokratische Republik zu sein. Mit dem Zusammenbruch dieses Staates hat sich bei nicht Wenigen die Vorstellung eingenistet, dass damit zwangsläufig auch das Absterben jener Kultur verbunden sei, die in diesem Staatsgebilde entstanden war. Mich hatte schon die Entscheidung des Bielefelder Historikers Hans Ulrich Wehler gewundert, in seiner Geschichte von Nachkriegsdeutschland die DDR einfach hinauszuwerfen, weil sie angeblich nur ein Anhängsel der Sowjetunion gewesen sei. Dabei muss jedem aufgeklärten Zeitgenossen einleuchten, dass die jüngere deutsche Geschichte nur angemessen zu verstehen ist, wenn auch die deutsch-deutschen Beziehungen einbezogen werden. Dem steht nur scheinbar das zutreffende Bonmot von Heiner Müller entgegen, dass die DDR eine „Halbkolonie Moskaus“ gewesen sei. Gewiss war es so, dass der wahre Herrscher über die DDR der in Berlin Unter den Linden residierende sowjetische Botschafter gewesen ist. Gleichwohl gab es in dieser „Halbkolonie“ auch ein politisches und vor allem ein kulturelles Eigenleben. Gerade in der Kultur spiegelte sich ein Gutteil jener Entwicklungen wider, die am Ende die Deutsche Demokratische Republik zusammenbrechen ließen.
Wer regelmäßig das Feuilleton einer überregionalen Tageszeitung liest, wird ebenso regelmäßig vom Zweifel befallen, welches von den dort besprochenen Büchern er unbedingt lesen müsse. Doppelt zweifelhaft in meinem Falle, weil ich mich mein Leben lang – teils beruflich, teils im Ehrenamt – mit den deutschen Klassikern beschäftigt habe und mir es noch heute zur Aufgabe mache, alte Lektüren aufzufrischen und die dazugehörigen wissenschaftlichen Schriften wenigstens partiell wahrzunehmen. Als Zeitungsleser stieß ich auf die Besprechung eines Buches von Marko Martin mit dem Titel „Die verdrängte Zeit. Vom Verschwinden und Entdecken der Kultur des Ostens“; es handelte sich um eine positive Besprechung aus der Feder des FAZ-Korrespondenten für Sachsen und Thüringen. Sein Urteil korrespondierte mit meinen eigenen Empfindungen und veranlasste mich, das Buch zu kaufen und zu lesen. Soviel vorweg: Ich kann es guten Gewissens weiterempfehlen.
Um mit dem aus meiner Sicht eher Ephemeren zu beginnen: Martin erweist sich als authentischer Kenner einer Jugendkultur, die mir selbst, auf alles Klassische in bildender Kunst, Musik und Literatur fixiert, eher fremd geblieben ist – nicht zuletzt deshalb, weil die beschriebene Jugendzeit nicht die meine gewesen ist. Was aber nicht bedeutet, dass ich sie unbeachtet gelassen hätte. Die Leidenschaft für künstlerisch wertvolle DEFA-Filme habe ich mit Vielen geteilt. Martin wandert mit dem Leser durch die Gefilde von Rock und Pop – die Zwischenüberschriften seines ersten Großkapitels, überschrieben „Süßer Vogel Jugend“, sprechen für sich: „Wunderbare Jahre? Von wegen“, „Mehr als ein Solo für Sunny“, „Jugend – auch jenseits der Bohème“, „Pop, ziemlich grenzenlos“, „Mit Udo Lindenberg gegen die Bonzen“, „Die Sache mit dem Sex“, „Punk never dies“, „Tusch für Bowie“, „Coming out – von nahezu allem“. Eine Stärke des Buches liegt in seiner lockeren, dabei durchaus präzisen Diktion, die Anekdotisches – wohl aus Gesprächen mit Beteiligten destilliert – und Selbsterlebtes einbezieht, keineswegs aber auf einen Ostalgie-Sound gestimmt ist.
Licht und Schatten fallen auf die kulturelle Szene, Licht fällt zum Beispiel auf Autoren, denen ich – so war es eben – mit einem gewissen kulturellen Hochmut begegnet bin. Nie habe ich ein Buch von Wolfgang Schreyer gelesen, der hochbetagt in seinem reetgedeckten Haus in Ahrenshoop gestorben ist. Martin, selbst weitgereist, Kenner von Mittel- und Südamerika, engagiert sich für Schreyers in Guatemala spielenden Roman „Das grüne Ungeheuer“, von der DEFA verfilmt, und stellt unaufdringlich Schreyers charakterliche Qualitäten heraus; hat dieser doch das Bravourstück vollbracht, der Schriftstellerin Brigitte Reimann mit Rat und Tat beizustehen, als diese sich aus einem Kontakt mit der Staatssicherheit befreien wollte; das gelang dank Schreyers Mut und Zivilcourage. Überhaupt Brigitte Reimann: Mit Takt und Einfühlungsvermögen schildert Martin ihre Rolle als ungebärdiges Kind der DDR, als Autorin radikal offener Tagebücher wie des daraus erwachsenen Romans „Franziska Linkerhand“. Ihr wäre nur Helga M. Novak an die Seite zu stellen, der Martin besondere Aufmerksamkeit schenkt. Wie hier bewähren sich im Buch überhaupt Urteilsvermögen und Objektivität des Autors bei der Behandlung all jener Künstler, die in Konflikt mit der Staatsmacht gerieten und die im Register des Buches die meisten Erwähnungen haben: Wolf Biermann, Thomas Brasch, Volker Braun, Günter de Bruyn, Jürgen Fuchs, Franz Fühmann, Stefan Heym, Peter Huchel, Uwe Johnson, Sarah Kirsch, Manfred Krug, Reiner Kunze, Monika Maron, Irmtraud Morgner, Heiner und Inge Müller, Dieter und Chaim Noll, Helga M. Novak, Ulrich Plenzdorf, Brigitte Reimann, Hans Joachim Schädlich, Wolfgang Schreyer, Lutz Seiler, Maxi Wander und Christa Wolf. Meinem Zahlenspiel mag etwas Zufälliges anhaften, doch – von Dieter Noll einmal abgesehen, dessen erster Kolportageroman parallel in der DDR und in einer bundesdeutschen Illustrierten erschien – stellt meine Übersicht so etwas wie einen Who‘s who jener Kunst dar, die im Widerspruch zu offiziellen Doktrinen entstanden ist, bei ihrem Erscheinen großen Widerhall fand und heute noch unbedingt lesens- und anschauenswert ist. Dass Autoren wie Günter Kunert oder Uwe Kolbe ein wenig unterbelichtet bleiben, dass Wolfgang Hilbig – für mich der wahrhaftigste Chronist der untergehenden DDR – nur am Rand erscheint, hängt vielleicht mit der Intention des Buches zusammen, vor allem jene Autoren zu porträtieren, die in der DDR gedruckt worden sind oder die der DDR auch in der Distanz und im Widerspruch verbunden geblieben sind. In drei Kapiteln entwirft Martin spezielle Konstellationen der DDR-Literatur. Unter der Überschrift „Frauenbild, fast ohne Gruppe“ spürt er den vielfältigen Beziehungen nach, die unter den Autorinnen von Rang existierten, ein weiteres Kapitel, das mich sehr beeindruckt hat, weil es neben anderem die Schicksale der Funktionärs- und Künstlerfamilie Brasch behandelt, trägt den Titel „Vor den Vätern sterben die Söhne – oder auch nicht“, und ein drittes widmet sich den „Sprachen des Widerstehens“ – mir will es wie ein bei aller Gewitztheit schlüssiges Resümee erscheinen.
Schließlich noch der Hinweis auf ein Kapitel, das mich besonders berührt hat, weil es eigene Kindheitserinnerungen wachrufen konnte; es ist überschrieben: „Der serbische Indianer und andere Glücksmomente“. Der serbische Indianer, das ist der aus Jugoslawien stammende Filmschauspieler Gojko Mitić, Star mehrerer DEFA-Indianerfilme, die Martin künstlerisch über die Karl-May-Verfilmungen bundesdeutscher Provenienz stellt. Ich glaube ihm das, auch wenn ich derlei Filme nur gelegentlich wahrgenommen habe; doch weiß ich aus Gesprächen, wie beliebt Mitić bei Alt und Jung war. Bei dieser Gelegenheit das Geständnis, dass ich Karl May immer langweilig gefunden habe. Umso mehr hat mich gefreut, dass Martin eine Lanze bricht für die Indianerromane von Lieselotte Welskopf-Henrich, im Brotberuf Professorin für Alte Geschichte an der Humboldt-Universität, die sogar von dem in den USA lebenden Stamm der Dakota den Ehrentitel „Schutzschal der Dakota“ erhielt. Damit nicht genug, lenkt Martin auch den Blick auf eine durchaus bewahrenswerte Kinder- und Jugendliteratur und widmet sich genauer Alex Weddings 1931 veröffentlichtem Roman „Ede und Unku“, einer im Berlin der 1920er Jahre spielenden Geschichte von der Freundschaft zwischen einem Arbeiterjungen und einem Sinti-Mädchen. Leider fehlt in Martins Panorama der Hinweis auf ein Indianerbuch, das ich guten Mutes zu den Lieblingsbüchern meiner Generation der mittlerweile späten Siebziger zählen möchte: „Blauvogel, Wahlsohn der Irokesen“ von Anna Jürgen. Vielleicht wird es bei einer neuen Auflage aufgenommen.
Im Anhang hat Martin eine Auswahl zum Nachlesen zusammengestellt. Vieles war mir bekannt, Einiges habe ich mir zu lesen vorgenommen; absolviert habe ich z.B. schon Brigitte Reimanns Tagebücher und ein dokumentarisches Buch von Jürgen Fuchs, Fortsetzung folgt. In jungen Jahren habe ich meine Lektüre anhand von Hermann Hesses Wegweiser „Eine Bibliothek der Weltliteratur“ organisiert. Es wäre nicht die schlechteste Variante, wenn ein Leser sich heutzutage Martins Vorschlagsliste zu eigen machte.
Anlässlich der Frankfurter Buchmesse (20. bis 24. Oktober 2021) haben wir uns im Redaktionsteam über die Bücher ausgetauscht, die wir gerade lesen und/oder empfehlen können. Für uns ist Lesen eine der schönsten Beschäftigungen, auch – oder vor allem gerade – im digitalen Zeitalter. Die Lektüre eines Romans am Feierabend wirkt entschleunigend und entspannend.
Außerdem geben uns die Geschichten Einblick in das Leben anderer. Wir schauen über unseren Tellerrand, die Menschen fremder Länder, anderer sozialer Schichten oder divergierender Einstellungen kommen uns näher. Das entfaltet unser Verständnis füreinander.
Daraus ist die Idee entstanden, Personen, die mit der Akademie verbunden sind, nach einer Buchempfehlung für unseren Blog „Akademie in den Häusern“ zu fragen. Zusammengekommen sind 14 besondere Beiträge: Romane, Biografien und Kochbücher, Klassiker und neu erschienene Werke, die wir Ihnen bis zum 24. Oktober 2021 in unserem Blog vorstellen.
Wir wünschen Ihnen eine inspirierende Lektüre.
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19. Oktober 2021 || eine Buchempfehlung von Professor Dr. Jochen Golz, Vizepräsident der Goethe-Gesellschaft in Weimar e.V.
Professor Dr. Jochen Golz war von 1994 bis zu seinem Ruhestand 2007 Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs der Klassik Stiftung Weimar. Er legte zahlreiche Publikationen zu Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller und Jean Paul vor und gab die historisch-kritische Ausgabe von Goethes Tagebüchern heraus. Nach 20-jähriger Präsidentschaft ist er seit 2019 Vizepräsident der Goethe-Gesellschaft in Weimar. Mit rund 2.400 Mitgliedern ist sie weltweit die größte literarische Gesellschaft.