Der Harrison-Moment
Die Mutter aller Benefizkonzerte und ihre Geschichte. Dritter und letzter Teil.
Was bisher geschah
Im Frühjahr 1971 ereignet sich in Ostpakistan eine von der Welt wenig beachtete humanitäre Katastrophe: Paktistanische Militärs und Milizen unterdrücken die Unabhängigkeitsbestrebungen im heutigen Bangladesch mit großer Brutalität. Millionen Menschen sind auf der Flucht. Der bengalische Musiker Ravi Shankar leidet unter den Entwicklungen in seinem Heimatland und wendet sich an einen befreundeten Schüler, den Ex-Beatle George Harrison. Der wiederum hat eine Idee ….
Gebucht: Madison Square Garden, 1. August 1971
Shankar hatte gehofft, mit einem eigenen Benefizkonzert etwa 25.000 Dollar zu erlösen, um den Menschen in Ostpakistan zu helfen. Aber nun ist ein Ex-Beatle an Bord. Mit seiner Teilnahme würde das Konzert ein ganz anderes Gepräge bekommen. Zudem kann Harrison über den von den Beatles gegründeten Unterhaltungskonzern Apple Corps auch eine Live-Platte und sogar eine Verfilmung des Konzerts ermöglichen. Jetzt soll das Konzert auch nicht irgendwo stattfinden, sondern im renommiertesten Veranstaltungsort der Vereinigten Staaten: dem Madison Square Garden in New York City. Ein indischer Astrologe ermittelt den Anfang des Monats August als einen günstigen Zeitpunkt, so dass die Wahl auf den einzigen noch kurzfristig verfügbaren Tag fällt: 1. August 1971 – ein Sonntag.
Aus der Beatles-Reunion wird nichts
Zunächst spielt Harrison mit dem Gedanken, seine ehemaligen Bandkollegen zu einer einmaligen Reunion zu bewegen. Doch daraus wird nichts. Paul McCartney lehnt umgehend ab. Zu frisch sind die Erinnerungen an den Streit mit den ehemaligen Freunden. Mit Lennon liefert er sich nach dem Ende der Beatles einen medialen Kleinkrieg, an dem Harrison auf Lennons Seite sogar mitwirkt. Man kann kaum glauben, dass Harrison fast zeitgleich auf Lennons gehässigen Machwerk „How do you sleep?“ ein Gitarrensolo spielt und McCartney zum gemeinsamen Musizieren einlädt.
John Lennon wiederum erklärt sich zwar spontan bereit, an dem Konzert teilzunehmen, verlässt New York aber zwei Tage vor der Veranstaltung nach einem Streit mit seiner Frau Yoko Ono, die Harrison nicht auf der Bühne sehen (und hören!) wollte. Einzig Ringo Starr, die gute Seele der Beatles, reist aus Spanien an, wo er mitten in Dreharbeiten für einen Film steckt.
With a little help from my friends
Jetzt kommen Harrisons persönliche Kontakte zu Musikern in Europa und den USA ins Spiel. In den Jahren mit den Fab Four hat der „stille Beatle“ zahlreiche Freundschaften geschlossen: Aus Hamburger Tagen rührt die Verbindung mit Klaus Voormann, der mittlerweile ein gefragter Studiomusiker ist. Den Gitarristen Eric Clapton hatte Harrison 1968 mit ins Tonstudio gebracht und auf seinem Song „While my guitar gently weeps“ eines der wohl schönsten Soli der Pop-Musik einspielen lassen. Claptons Liebe zu Harrisons Frau Pattie sorgte zwar kurzzeitig für Irritationen (und stürzte den sensiblen Clapton in eine langanhaltende Heroin-Abhängigkeit), aber die Freundschaft zu Harrison blieb bestehen. Auch der Pianist Billy Preston war auf Betreiben Harrisons in der Spätphase der Beatles bei Aufnahmesessions in der Abbey Road dabei.
Und dann ist da natürlich noch Bob Dylan. Ihn hatten die Beatles bei ihren Auftritten in den USA kennengelernt. Es ist erstaunlich, dass dieser poet laureate der Pop-Musik zu keinem Beatle so enge Beziehungen pflegen sollte wie zum schüchternen Harrison. Bis zu dessen Tod im Jahr 2001 werden die beiden immer wieder an Projekten zusammenarbeiten. Aber im Sommer 1971 liegt Dylans letzter Live-Auftritt zwei Jahre zurück. Seine jüngsten Studioalben haben bei Publikum und Kritik gemischte Reaktionen hervorgerufen. Dylan zögert daher und sagt Harrison einen Auftritt im Madison Square Garden nur mit großem Vorbehalt zu.
Die Proben gestalten sich angesichts des vielköpfigen Starensembles schwierig. Erst bei der Generalprobe am Vorabend der Show sind alle Musiker dabei. Zu diesem Zeitpunkt ist Claptons Teilnahme jedoch aufgrund seiner Heroinabhängigkeit mehr als fraglich. Harrison hat bereits Ersatzleute engagiert – für den Fall, dass Clapton nicht auftreten kann. Der Heroinentzug macht dem Gitarristen auch während der Probe zu schaffen. Er sei lediglich physisch anwesend gewesen, wird sich Clapton später erinnern.
Es wird ernst
Am Morgen des 1. August erscheint Clapton nicht. Nachdem man ihn vergeblich gesucht hat, muss schließlich der Sicherheitsdienst sein Hotelzimmer öffnen, wo Clapton und seine damalige Freundin Alice – Tochter eines angesehenen englischen Aristokraten – regungslos auf dem Bett liegen. Ein Arzt wird gerufen. Nur mithilfe illegal besorgten Methadons schafft man es schließlich, den angeschlagenen Clapton für den Auftritt am Nachmittag halbwegs herzustellen.
Schon seit Tagen vibriert New York vor Erwartung wie seit der letzten Beatles-Tour im Sommer 1966 nicht mehr. Sämtliche Karten waren innerhalb kürzester Zeit ausverkauft, so dass ein zweites Konzert am gleichen Tag angekündigt wurde.
Die Fans werden nicht enttäuscht. George Harrison überwindet seine Scheu und gibt einen freundlichen, wenngleich zu Beginn noch etwas angespannten Zeremonienmeister. „Tatsache ist, dass George nie ein Frontmann war“, wird sich Klaus Voormann später erinnern, „er stand vor dem Publikum und sprach zu ihnen, und man kann sehen, wie unwohl er sich dabei fühlte. Das war nicht sein Ding. Er wollte es nur für seinen Freund tun. Deshalb finde ich es so stark.“
Zunächst spielen Ravi Shankar und sein Ensemble. Das Publikum reagiert schon bei den ersten Klängen begeistert, woraufhin ein sichtlich amüsierter Shankar feststellt: „Wenn Ihnen schon das Stimmen unserer Instrumente so gut gefällt, bin ich gespannt, was Sie zu unserer Aufführung sagen werden“ – die sensiblen indischen Instrumente hatten sich unter der Hitze der Scheinwerfer verstimmt.
Dann betreten Harrison (im weißen Anzug) und seine All-Star-Band unter donnerndem Applaus die Bühne und spielen einige Stücke. Aber erst der irrwitzige Auftritt des vor Energie sprühenden Pianisten Billy Preston bricht das Eis. Jetzt gibt es kein Halten mehr. Das Publikum feiert Ringo Starr, obwohl dieser den Text seines gemeinsam mit Harrison komponierten Songs „It won’t come easy“ vergisst. Leon Russell bietet ein starkes Medley, woraufhin Harrison mit seinem auf akustischen Gitarren gespielten Klassiker „Here comes the sun“ einen Gang herunterschaltet.
Spielt er oder spielt er nicht?
Jetzt wird es spannend. Auf Harrisons Setlist steht an dieser Stelle „Bob?“. Das Fragezeichen ist bis zuletzt geblieben. Wird Bob Dylan auftreten oder doch im letzten Moment kneifen? Das Konzert braucht Dylan nicht. Nirgendwo war sein Auftritt angekündigt, niemand im Publikum rechnet mit ihm. Aber Harrison weiß: Dylan würde dem Ganzen eine besondere Aura verleihen, allein seine Anwesenheit würde die gedankliche Brücke zur Protestbewegung der frühen 1960er Jahre schlagen, als Dylan bei Martin Luther Kings March on Washington aufgetreten war. Als Harrison sich umschaut, sieht er Dylan am Büheneingang stehen. „Er war so nervös, hatte seine Gitarre umgeschnallt und seine Sonnenbrille aufgesetzt“ erinnert sich Harrison. Unsicheren Schrittes betritt Dylan die Bühne. „Erst in diesem Moment wusste ich mit Sicherheit, dass er es tun würde“ so Harrison später, der Dylan jetzt einem völlig erstaunten Publikum ankündigt: „I‘d like to bring on a friend of us all, Mr Bob Dylan.“ Der Überraschungsgast spielt einige seiner großen Klassiker. Es wird ein Höhepunkt des Konzerts. Bis heute gilt Dylans Auftritt beim Concert for Bangladesh als eine seiner besten Live-Darbietungen. Dylan selbst scheint vom Zuspruch des Publikums elektrisiert zu sein, nach der Abendshow reckt er seine Fäuste in die Höhe. Hinter der Bühne umarmt er seinen Freund Harrison, ohne dessen gutes Zureden er wohl nie die Bühne betreten hätte, und ruft aus: „Hätten wir doch nur drei Shows gemacht!“
Für Dylan ist das Konzert eine triumphale Rückkehr aus der Versenkung, bald schon wird er wieder auf Tournee gehen, und mit seiner Rolling Thunder Revue eine der maßgeblichen Bühnenshows der 1970er Jahre initiieren.
While our guitars gently weep
Und Eric Clapton? Er hat durchgehalten, an Harrisons Seite auf einer ungeschlachten halbakustischen Gibson Byrdland-Gitarre spielend. Jahre später wird sich Clapton für die Wahl des Instruments, das eher für Jazz oder Country geeignet ist als für Rockmusik, wie auch für sein als mangelhaft empfundenes Spiel entschuldigen. Dabei gilt die Darbietung von While my guitar gently weeps völlig zu Recht als eine der besten Live-Aufführungen dieses Songs. Auf den Filmaufnahmen sieht man einen im Hintergrund agierenden Mann im Jeans-Dress, seltsam abwesend, so als wäre er eher zufällig in diese Show hineingeraten. Seine brennende Zigarette hat er unter die E-Saite geklemmt, seine Augen meist auf den Boden gerichtet. Fast regungslos spult Clapton das berühmte Solo ab, das er nur drei Jahre zuvor mit den Beatles aufgenommen hatte.
Gegen Ende des Songs tritt Bandleader Harrison dann zwei Schritte zurück, stellt sich neben seinen Freund Clapton, mischt dessen Spiel seine eigenen Töne bei. Dabei hält er den Blick fest auf Clapton gerichtet, bis dieser ihn schließlich erwidert. Nun kommunizieren die beiden über ihre Instrumente in hohen, klagenden Tönen. Sie bedürfen keiner Worte mehr, um das Drama zum Ausdruck zu bringen, das sich zwischen ihnen und ihrer gemeinsamen Liebe Pattie in diesen Jahren entfaltet. Anders als Dylan wird sich Clapton nach dem Konzert sofort wieder zurückziehen, Modellflugzeuge basteln und immer tiefer in der Heroinsucht versinken. Erst Mitte der 1970er Jahre wird er von der Droge loskommen (und Pattie Boyd heiraten, die sich mittlerweile von Harrison getrennt hat), aber sogleich dem Alkohol verfallen. Seit 1987 gilt Clapton nach zahlreichen Entziehungskuren als geheilt.
Der Harrison-Moment
Für George Harrison indes war das Konzert zweifellos ein Höhepunkt seines öffentlichen Lebens. „Der Geist, den er durch sein eigenes Auftreten erzeugt, ist inspirierend. Vom persönlichen Standpunkt aus gesehen war das Konzert für Bangladesch Georges Moment. Er hat es auf die Beine gestellt und er hat es durchgezogen“ urteilte der Musikkritiker Jon Landau.
Das Concert for Bangladesh erreichte sein Ziel, wenn auch auf einigen Umwegen: Unmittelbar erbrachte der Kartenverkauf knapp 250.000 Dollar, die UNICEF übergeben wurden. Über das Live-Album und den Film kamen bis Mitte der 1980er Jahre schätzungsweise weitere 15 Millionen Dollar zusammen. Dabei hatte es um die Einnahmen aus dem Plattengeschäft noch lange Streitigkeiten gegeben. Zudem hatte Manager Allen Klein es versäumt, eine Steuerbefreiung zu beantragen, so dass große Teile der Erlöse über Jahre auf einem Treuhandkonto bei den amerikanischen Steuerbehörden eingefroren waren, bis eine zufriedenstellende Regelung gefunden wurde. So können die Einnahmen aus den Verkäufen von Tonträgern und Filmaufzeichnungen des Konzerts über den George Harrison Fund for UNICEF auch weiterhin gemeinnützigen Zwecken zugutekommen.
Neben diesem direkten finanziellen Erfolg ist aber auch ein indirekter Effekt nicht zu vernachlässigen: Harrison war seiner Zeit voraus und schuf mit dem Concert for Bangladesh die Blaupause für alle folgenden Benefizkonzerte wie Band Aid (1984), Live Aid (1985) oder Live 8 (2005).
Mindestens ebenso wichtig wie die finanzielle Unterstützung für die Menschen in Bangladesch war für Ravi Shankar die mediale Aufmerksamkeit, die seiner Heimat nun zuteilwurde: „Von diesem Tag an kannte die ganze Welt den Namen Bangladesch. Es war ein fantastisches Ereignis.“
Wer rettet die Rockmusik?
Nicht zuletzt war das Concert for Bangladesh auch für die populäre Musik ein Segen. So stellte Geoffrey Cannon im englischen Guardian fest: „Das Bangladesch-Konzert im Madison Square Garden war das, was Woodstock sein sollte. Das Konzert wird als der größte Akt der Großherzigkeit gelten, den die Rockmusik je vollbracht hat“. Sicherlich muss man die Entwicklung der immer größeren Benefizkonzerte kritisch sehen. Auch die Rolle des Pop-Philanthropen, die sich nach dem Bangladesch-Konzert entwickelte und von Leuten wie Bob Geldof und Bono verkörpert wird, gefällt nicht jedem. Aber im Sommer 1971 öffnete George Harrison der Rockmusik eine Tür aus dem Schlamassel, in das sie Ende der 60er Jahre geraten war. Natürlich entwickelte sich die Musik nicht zur Weltverbesserungsmaschine, ging die Kommerzialisierung weiter, wurden auch weiterhin Musiker – darunter nicht wenige, die beim Concert for Bangladesh dabei waren – Opfer des Rock’n’Roll-Lifestyles mit Drogen und Alkohol. Aber es gibt eben auch die andere Seite: Musik kann punktuell, ohne verzweckt zu werden, dem Guten dienen. Das hat das Concert for Bangladesh deutlich gemacht. So ist dem Musikkritiker Tom Moon zuzustimmen, der das Konzert als „das erste groß angelegte Beispiel für Rock-Aktivismus“ lobte, das gezeigt habe, wie Stars ihren Ruhm für wohltätige Zwecke einsetzen können. So könne man auch in Zukunft die Aufnahmen des Konzerts von 1971 herausholen, wenn der „Glaube an die Macht der Musik zu schwinden beginnt“.
Bilder
Ein Rock-Konzert, nicht für Bangladesch, Jay Wennington auf Unsplash, gemeinfrei
Werbung für Harrisons Song „Bangla Desh“, August 1971, via Wikimedia commons, public domain
Bob Dylan, 1960er Jahre, RV1864 auf Flickr (CC BY-NC-ND 2.0)
Eric Clapton, Bonnie und Delaney Bramlett, George Harrison, Dezember 1969, Diego Sideburns auf Flickr (CC BY-NC-ND 2.0)
Billy Preston, George Harrison, US-Präsident Gerald Ford, Ravi Shankar im Oval Office 1974, U.S. Government via Wikimedia commons, gemeinfrei
31. Juli 2021 || ein Beitrag von Akademiereferent Dr. Matthias Lehnert