Crippled inside – Nachdenken über ein problematisches Genie

Heute wäre John Lennon 80 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass erscheinen nun allerorten Beiträge, die an den ehemaligen Beatle als einen der größten Musiker des 20. Jahrhunderts erinnern. Die BBC sendet ein Sonderprogramm, Sammlungen mit den wichtigsten Lennon-Songs werden in Jubiläumseditionen neu aufgelegt, und die Stadt New York gedenkt ihres einstigen Bürgers mit einer speziellen Beleuchtung des Empire State Buildings.

Wie es wohl aussähe, wäre John Lennon nicht zwei Monate nach seinem 40. Geburtstag von einem psychisch kranken Mann erschossen worden? Würde er dann gemeinsam mit seiner Frau Yoko Ono und seinen beiden Söhnen eine große Party feiern? Gäbe es vielleicht gar die von der weltweiten Fan-Gemeinde herbeigesehnte Reunion mit seinem kongenialen Partner und Rivalen Paul McCartney? An einem wolkenverhangenen Oktobertag mag man diesen Gedanken nachhängen. Man mag dann auch spekulieren, was wohl aus John Lennon geworden wäre, hätte es die Beatles nicht gegeben. Im vorigen Jahr gab der vergnügliche Spielfilm „Yesterday“ darauf eine Antwort: In einer Art Paralleluniversum ohne Beatles lebt der alte John Lennon, nachdem er wie sein Vater lange zur See gefahren ist, als Maler in einem einsamen Haus am Meer. Im Gesicht mit den markanten Zügen, den langen – jetzt ergrauten – Haaren und der obligatorischen Nickelbrille erkennen wir das Bild, das wir uns vom Weltstar Lennon gemacht haben. Seine Botschaft ist die gleiche, die der Beatle John Lennon in weltberühmte Songs gepackt hat. „Liebe und sage die Wahrheit, wann immer du es kannst“ – das ist Lennons Ratschlag für den Protagonisten des Films. Sofort fühlt man sich an die Lennon-Songs erinnert, die Liebe, Frieden und Wahrheit in immer neuen Variationen fast mantrahaft beschwören: All you need is love! Gimme some truth. Love is the answer! Give peace a chance. Love is real…

Aber doch ist etwas anders: Es begegnet uns im Film ein sanfter, etwas schüchterner Lennon, der mit sich und der Welt im Reinen zu sein scheint und glücklich auf sein Leben schaut. Er hat seinen Frieden gefunden. Dies blieb dem wahren Lennon verwehrt. Er hatte zwar schon in jungen Jahren erreicht, wovon viele Menschen ein Leben lang träumen: Er hatte Ruhm und Erfolg, lebte in herrschaftlichen Häusern, fuhr luxuriöse Autos und reiste um die Welt. Aber wenn man den Zeugnissen seiner Weggefährten glauben und den eigenen Eindrücken aus zahllosen Ton-, Text- und Bilddokumenten trauen kann, dann war John Lennon zeitlebens ein rastlos suchender, im wahrsten Sinne des Wortes „un-zu-friedener“ Mensch. Mick Jagger, der Frontmann der ewig mit Lennons Beatles rivalisierenden Rolling Stones, hat einmal zu Protokoll gegeben: „Man hatte immer irgendwie gemerkt, dass er auf der Hut war. Man fühlte sich in seiner Gegenwart nie wirklich entspannt.“ Und selbst Paul McCartney äußerte sich noch nach Lennons Tod kritisch über seinen einstigen Kompagnon: „Er konnte ein Schwein sein und Menschen manipulieren […] Er war im Grunde jemand, der aus allem und jedem die Luft herauslassen musste“.

Über die Gründe für Lennons schwierige Persönlichkeit muss nicht lange spekuliert werden: John Winston Lennon wurde während eines deutschen Luftangriffs geboren, kurz nach der Entbindung detonierte eine Luftmine neben dem Krankenhaus. Die erste Nacht seines irdischen Lebens verbrachte er unter dem Bett seiner Mutter Julia – zum Schutz vor herabfallendem Schutt. Der Vater, Alfred „Freddie“ Lennon, ein Matrose und Schiffskellner, verschwand kurz vor der Geburt des Sohnes. Julia Lennon war mit der Erziehung offenbar überfordert, so dass John bei Tante und Onkel in halbwegs geordneten Verhältnissen im Liverpooler Vorort Woolton aufwuchs. Als Vater Freddie im Jahr 1946 unerwartet wieder auftaucht, stellt er den kleinen John vor die Wahl zwischen einem Leben mit ihm oder der Mutter. Hin- und hergerissen entscheidet sich der Junge für seine Mutter, die ihn sofort wieder zu ihrer Schwester Mimi bringt. Das traumatische Erlebnis macht John Lennon unsicher und misstrauisch. Wie sein Biograph Alan Posener schreibt, prägt fortan „eine panische Angst vor Liebesverlust, die er meistens durch Zynismus, Grobheit oder offene Brutalität überspielte“ Lennons Leben. Der talentierte und sensible Junge verbringt viel Zeit allein, flieht in eine Traumwelt, die er etwa in den Büchern von Lewis Carroll („Alice im Wunderland“) findet, schreibt eigene kleine Geschichten und bebildert sie mit skurrilen Zeichnungen. Als sein Onkel George an einer Gehirnblutung stirbt, wird der gute Schüler zum Klassenclown und Problemkind. Weder seine Tante Mimi, noch seine Lehrer können ihm noch Halt bieten.

In diese trostlose Situation bricht Mitte der 1950er Jahre der Rock’n’Roll. John Lennon wird zum Rocker, kopiert den fünf Jahre älteren Elvis Presley, trägt Röhrenhosen und bringt seine Tolle mit Pomade in Form. Er gründet seine eigene Band, die noch mit Waschbrett und improvisierten Teekisten-Bass „Skiffle“ spielt, eine englische Variante des Rock’n’Roll. Die Arrangements sind denkbar einfach, und doch vergisst Lennon nach ein paar Bier die Texte und Akkorde. Als die Band bei einem Gartenfest der Kirchengemeinde in Woolton auftritt, wird Lennon ein pausbäckiger Junge vorgestellt, der selbst die kompliziertesten Stücke von Little Richard und Eddie Cochran mühelos zu spielen versteht und mit seiner glasklaren Stimme effektvoll darbietet. Sein Name ist Paul McCartney. Das Talent dieses Jungen verunsichert Lennon, der den Klang seiner eigenen Stimme immer hassen und seinen technischen Fertigkeiten an der Gitarre wenig trauen wird. Erst nach Tagen des Zögerns lädt er McCartney in seine Band ein. Über den Rock’n’Roll verbessert sich auch Lennons Verhältnis zu seiner Mutter Julia, die die Musikbegeisterung ihres Sohnes fördert.

Doch schon bald folgt der nächste Schicksalsschlag: Julia Lennon stirbt bei einem Verkehrsunfall vor dem Haus ihrer Schwester. John Lennon ist paralysiert, tagelang nicht ansprechbar. Er wird noch sarkastischer, zynischer, reagiert auf Näherungsversuche mit verbaler oder physischer Gewalt. Nur die Beziehung zu McCartney, dessen Mutter 1957 an Krebs gestorben war, wird noch enger. Die beiden schreiben gemeinsam zahllose Songs und legen so den Grundstein für eine Entwicklung, die in der Musikgeschichte nicht ihresgleichen kennt. In wenigen Jahren führt der Weg der beiden jungen Songwriter und ihrer Bandkollegen George Harrison (Lead-Gitarre) und Ringo Starr (Schlagzeug) dorthin, wo Lennon immer hinwollte: „to the toppermost of the poppermost“.

Lennon ist der Wortführer der Gruppe, zeigt sich immer schlagfertig, witzig und selbst im Beisein von Mitgliedern der Königsfamilie respektlos. Trotzdem verleiht Königin Elisabeth den jungen Musikern aus der Industrie- und Hafenstadt Liverpool einen Orden. Die ganze Welt liebt die Pilzköpfe; Künstler, Politiker und Intellektuelle suchen ihre Nähe. Aber Lennon findet in all dem keine dauerhafte Befriedigung, kann anders als McCartney seinem Künstlerleben keine strukturierende Form geben. Sein Song „Help!“, geschrieben auf dem Höhpunkt der globalen „Beatlemania“, ist tatsächlich ein Hilfeschrei. Die erste Ehe zerbricht, Lennon experimentiert mit Drogen, imitiert den Folkbarden Bob Dylan auf fast schon peinliche Weise, reist mit den Beatles nach Indien, versucht es mit transzendentaler Meditation, makrobiotischem Essen und Janovs Urschrei-Theorie. Die Beziehung zu der fast acht Jahre älteren japanischen Künstlerin Yoko Ono ist von einer geradezu manischen Eifersucht geprägt. Auch das politische Engagement für Frieden und Gerechtigkeit vermag Lennon nicht dauerhaft auszufüllen.

Dabei findet er in allen Phasen seines künstlerischen Schaffens Worte, Bilder und Töne von bleibendem ikonischen Charakter: vom energiegeladenen Amalgam aus seiner metallischen Stimme und dem kantigen Sound seiner Gitarre über den bunten Budenzauber von Sgt. Pepper und die weltweit ausgestrahlte Hippie-Hymne „All you need is love“ (1967), das als Bed-In bezeichnete Happening anlässlich seiner Hochzeit mit Yoko Ono und die große „War is over“-Kampagne (1969) bis hin zum ebenso fragwürdigen wie bewundernswerten Jahrhundertsong „Imagine“ und den Exzessen des unbeherrschten Rockstars, als der Lennon Mitte der 1970er noch einmal von sich reden macht.

Stets hat man den Eindruck, dass Lennon sich rückhaltlos hingibt, sich einer Sache mit Haut und Haaren verschreibt. Sein singulärer Status in der Geschichte der Popmusik ist letztlich in seiner Persönlichkeit begründet, nicht in Lennons limitierten Fähigkeiten als Gitarrist, nicht in seinem markanten Gesangsstil, nicht einmal in seinem unbestrittenen Kompositionsgenie. Während es Paul McCartney mit einer unter scheinbarer Mühelosigkeit versteckten eisernen Disziplin versteht, großes Talent und großes Ego für ein Leben als Pop-Profi dienstbar zu machen, war Lennon auf geradezu kindliche Weise immer unter Einsatz der ganzen Person bei der Sache. Dafür wird er bis heute verehrt und geliebt, aber auch gehasst und angefeindet.

Anders als Lennon hätte McCartney nie Mitglieder der Königsfamilie aufgefordert, bei einem Konzert mit den Juwelen zu klimpern. Aber er hätte sich auch nie zu der unvorsichtigen Bemerkung hinreißen lassen, die Beatles seien populärer als Jesus. Als Lennon dies 1966 in einem Interview sagt, kommt es in den USA auf Betreiben evangelikaler Gemeinden und des Ku-Klux-Klans zu Protestveranstaltungen und „Beatles Burnings“, bei denen im Stile der NS-Bücherverbrennung massenweise Beatles-Platten und -Devotionalien in Flammen aufgehen. Daran beteiligt sich auch ein orientierungsloser Junge namens Mark David Chapman, der sich hasserfüllt von seinem zuvor vergötterten Idol John Lennon abkehrt. Fast anderthalb Jahrzehnte später wird Chapman, von inneren Stimmen getrieben, John Lennon vor dessen Haus in New York City erschießen.

Dieser gewaltsame Tod war von einer tragischen Ironie: Täter und Opfer waren beide, wenn auch auf je eigene Weise und aus unterschiedlichen Gründen, zutiefst verletzt und konnten dies nicht verstecken. So charakterisiert vielleicht kein Song ihr beider Leben treffender als Lennons „Crippled inside“ („Innerlich verkrüppelt“) von 1971, in dem er zu einer fröhlich rumpelnden Folk-Country-Melodie singt:

You can go to church and sing a hymn
Judge me by the color of my skin
You can live a lie until you die
One thing you can’t hide
Is when you’re crippled inside

Wenn John Lennon heute auf allen Kanälen als Ausnahmekünstler und Stimme einer ganzen Generation gefeiert wird, dann wird diese dunkle Seite keine Rolle spielen. Ohne sie zu kennen, wird man aber den Menschen John Lennon, sein Leben und Werk, wie auch seinen Tod nicht wirklich verstehen können.

Bilder
John-Lennon-Gedenkstätte „Strawberry Fields“ im Central Park. Bild von Inaki del Olmo auf Unsplash, gemeinfrei
Das Haus in dem John Lennon aufwuchs: „Mendips“, 251 Menlove Avenue im Liverpooler Vorort Woolton. Bild von Phil Nash bei Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)
Der Beatle John Lennon, 1964. Bild von Vern Barchard bei Wikipedia, gemeinfrei
John Lennon und Yoko Ono beim Bed-In in Amsterdam, 1969. Bild von Eric Koch / Anefo bei Wikipedia, gemeinfrei

9. Oktober 2020 || von Dr. Matthias Lehnert, Akademiereferent