Ein Blick nach Sizilien und Lampedusa
Die schockierendsten Bilder innerhalb Europas erreichten uns in den letzten Wochen aus Italien. Um herauszufinden, wie der Alltag der Menschen in Sizilien aussieht aber auch eine Perspektive auf die Lage auf Lampedusa zu gewinnen, haben wir mit Andrea la Rosa gesprochen, der dort als Arzt arbeitet.
Andrea, wie ist die momentane Lage in Sizilien?
Momentan gibt es zum Glück im Vergleich zum Rest des Landes wenige Corona-Fälle in Sizilien. Heute ist hier nur eine Person an den Folgen des Virus gestorben, im Vergleich dazu waren es in der Lombardei mehrere hundert Menschen. Das Land ist völlig gespalten in Nord und Süd, was die Corona-Infektionen angeht: In Süditalien ist die Anzahl der Infektionen deutlich geringer, möglicherweise bedingt durch Faktoren wie das Klima und die geringere Luftverschmutzung. Unglücklicherweise sind die Krankenhäuser und das Gesundheitssystem hier im Süden Italiens schlechter als im Norden. Das führt bei der Bevölkerung zu einer großen Sorge vor Zuständen wie im Norden Italiens.
Seit die Zentralregierung neue Verordnungen erlassen hat, darunter einen Produktionsstopp für das gesamte Land, wandelt sich die Sorge allmählich aber auch in Kritik: Man müsste die Regionen wesentlich differenzierter betrachten, weil sich die wirtschaftlichen Situationen in Sizilien und im Norden unterscheiden. Von vielen wird angezweifelt, ob in einer umgekehrten Situation – also wenn Süditalien stärker von Infektionen betroffen wäre – auch die Produktion im „reichen Norden“ gestoppt würde. Hier fühlen sich viele ungerecht behandelt. Ein anderer Punkt: Wenn Läden und Firmen ihren Betrieb einstellen müssen, stärkt das die Mafia. Denn die steht vor Ort immer bereit, um einzuspringen, wenn die offiziellen Behörden zurückweichen. Einen landesweiten Produktionsstopp kann die Wirtschaft in Sizilien nicht überleben. Die Menschen werden wütend, haben Angst und sind frustriert.
Trotz gewisser Autonomierechte, schreckt die Regierung Siziliens davor zurück, eigenständig zu entscheiden, die Geschäfte wieder zu öffnen. Denn sie fürchtet, dass das Gesundheitssystem einem Anstieg der Coronafälle in keiner Weise standhalten könnte. Zwischen dem Wunsch nach Ladenöffnungen durch die Regierung und der Sorge, was es für das Gesundheitssystem bedeuten könnte, gibt es ein Spannungsverhältnis. Niemand möchte die Verantwortung dafür übernehmen, daher folgt man unter Protest der Zentralregierung.
Seit August 2019 arbeitest du auch als Arzt auf Lampedusa. Die kleine Insel zwischen Sizilien und Tunesien ist für viele Geflüchtete der erste Hafen auf ihrem Weg nach Europa. Wie sieht deine Arbeit dort aus und was hat sich durch COVID-19 dort verändert?
Wir sind dort ein Team von sechs Personen, darunter ein Arzt. Wir arbeiten immer in Bereitschaft, das ist sehr anstrengend und immer stressig. Ich arbeite in 24-Stunden-Schichten für eine Woche im Monat und stehe für alle Notfälle bereit. Nach einer Woche kommt ein neuer Arzt, und das Team wechselt. Da die Häfen Italiens aktuell geschlossen sind – nicht nur für Menschen auf der Flucht – haben auch viele Hilfsorganisationen keinen Zugang mehr. Geflüchtete kommen dennoch in Booten an. So wurde ich am letzten Samstag angerufen, um ankommenden Geflüchteten, die den Hafen fast erreicht hatten, mit einem Schlauchboot entgegen zu fahren. Das Problem ist nun, dass im Hotspot nicht genügend Platz für eine angemessene Quarantäne ist. Wenn nun also – wie letzten Samstag – ein neues Boot mit Menschen ankommt, können sie nicht separat in eine zweiwöchige Quarantäne überwiesen werden. Das Protokoll im Umgang mit COVID-19 kann also nicht eingehalten werden.
Wenn nun Menschen mit dem Boot ankommen, wie gehst du dann vor?
Ich versuche immer, sie freundlich zu begrüßen und ihnen zu sagen, dass sie vor mir keine Angst haben müssen, weil ich mich nur um ihre Gesundheit kümmere und nichts anderes meine Aufgabe ist. „Ich bin als Arzt hier, um euch zu helfen – falls es jemandem schlecht geht, lasst es mich wissen“. Oftmals haben sie Angst, dass sie im Fall einer Krankheit nachteilig behandelt werden.
Ich untersuche jeden ankommenden Menschen einzeln. Im Moment eben besonders mit Blick auf respiratorische Symptome. Viele der Ankommenden befinden sich während der Überfahrt relativ nah am Motor, was zu Problemen mit der Lunge führen kann, daher ähneln ihre Symptome häufig Asthmaerkrankungen. Der Fokus in diesem ersten Schritt liegt ganz klar auf Notfällen, wie bewusstlosen Personen oder Schwangeren, die Blut verlieren. Hier gehe ich in drei Schritten vor: Jede Person wird einzeln untersucht. Die Menschen, deren Gesundheitszustand genauer überprüft werden muss, nehme ich mit in das provisorische Krankenhaus, das Poliambulatorio. Schwerere Notfälle müssen mit einem Helikopter nach Palermo oder Agrigento gebracht werden.
Besonders wichtig ist die Entscheidung, wer fit genug ist, zum sogenannten Hotspot zu gelangen – also in die Unterkünfte für Geflüchtete. Hier muss ich mir so sicher sein wie möglich, dass die Menschen gesund sind. Wenn jemand das Coronavirus in die Community tragen würde, wäre das ein riesiges Problem. Und wir können nicht alle ankommenden Personen auf Corona testen, selbst die Temperaturmessungen sind ja nicht zwingend aussagekräftig – nach mehrtägiger Überfahrt sind die Menschen oft unterkühlt.
Was hat sich in den vergangenen Monaten durch das Coronavirus auf Lampedusa verändert?
Ich habe im August angefangen, auf Lampedusa zu arbeiten, und erlebe seitdem täglich, wie Menschen ankommen, die vor Folter, Gewalt und Armut fliehen. Daran hat sich seit der Corona-Pandemie nichts geändert. Das Problem ist, dass viele die Geflüchteten jetzt als mögliche Überträger des Coronavirus ansehen. Das macht mir große Sorgen.
2016 war die Situation insofern eine völlig andere, als dass an einigen Tagen tausende Menschen in Lampedusa ankamen und die Situation völlig außer Kontrolle war. Derzeit kommen etwa zwei Boote pro Woche an. Auch die Unterbringung hat sich verändert: Jetzt sind die Geflüchteten nicht mehr über die ganze Insel verteilt. Der Aufenthalt auf Lampedusa ist zumeist auf zwei Wochen begrenzt, danach sollen sie innerhalb Europas umverteilt werden.
Wie unterscheidet sich deine Arbeit auf Sizilien von den Einsätzen auf Lampedusa?
Für mich muss ich sagen, ich wurde durch Zufall am richtigen Ort zur richtigen Zeit geboren. Durch meine Arbeit als Arzt kann ich Menschen ein wenig helfen. Meine Heimatstadt Palermo ist nicht weit weg von Lampedusa, aber die Szenerie ist eine völlig andere. Wenn ich außerhalb meiner Einsatzwochen dort bin, laufe ich in einem Ganzkörper-Schutzanzug durch das sizilianische Hinterland und besuche Corona-Patienten, die abgelegen wohnen – zwischen Hühnern, Schweinen und Feldern – ein wirklich absurdes Bild. Wenn ich hier auf dem Land rund um Petralia ältere Menschen in diesem Aufzug besuche, dann sage ich immer: „Ich weiß, ich sehe aus wie ein Astronaut“ und spreche absichtlich im Dialekt mit den Menschen, damit sie merken, dass dort jemand in dem Anzug steckt, der sie versteht und von hier kommt. Dann fühlen sie sich meist etwas wohler.
Lieber Andrea, vielen herzlichen Dank für deine Zeit und dieses Interview!
Titelbild: Porta di Lampedusa, Porta d’Europa. Un monumento alla memoria dei migranti deceduti in mare. Flickr, gemeinfrei.
Bilder im Text: Andrea la Rosa
Hinweis: Das Interview wurde telefonisch auf Englisch geführt und nachträglich ins Deutsche übersetzt. Die wiedergegebenen Aussagen sind persönliche und subjektive Schilderungen und keine offizielle Stellungnahme.
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