Das Segel ist die Minne! „Das Märtyrium der Hl. Ursula vor der Stadt Köln“ von ca. 1411
Das Leinwandgemälde ahmt in seinem merkwürdigen Format (60 x 179 cm) die hölzernen, bemalten Reliquiensargdeckel, wie sie in großer Zahl von Reliquiensärgen des 15. Jahrhunderts aus dem Stift St. Ursula in Köln bekannt sind, nach. Das Gemälde dürfte ebenfalls aus dem Besitz des ehemaligen Kölner Damenstifts stammen. In der Forschung wurde zu Recht gesagt, dass es sich bei ihm um die älteste topographisch getreue Ansicht Kölns und damit um eine der ältesten Stadtansichten überhaupt handle. Ebenso richtig wurde in dem Gemälde eine Präsentation der Colonia Sancta, Stadt der vielen Kirchen und Heiligen, gesehen. Linkes und mittleres Drittel zeigen im oberen Bildfeld die in schräger Vogelschau gegebene Ansicht der Stadt. Es werden vornehmlich die großen und bedeutenden Kirchen samt unvollendetem Dom mit dem goldenen Firstkreuz von 1308 und dem vergoldeten Glockenreiter wiedergegeben. In der vieltorigen romanischen Stadtmauer wurde gemäß nicht korrekter Zählung eine Nachbildung der Idee von der zwölftorigen Himmelsstadt vermutet. Das rechte Drittel der Leinwand bildet das Martyrium der Heiligen Ursula und ihrer 11.000 plus x Gefährtinnen und Gefährten ab. Mit dieser gewaltigen Heiligenschar hatte Köln selbst Rom und seinen 10.000 Märtyrern den Rang abgelaufen. Der alle Bildfelder überfangende Sternerapport (er ersetzte auf Leinwänden und in den Wandmalereien der Kölner Schule den Goldhintergrund der Tafelmalerei) deutet das gesamte Gemälde als Wiedergabe bestehenden und sich ereignenden Heils.
Die kompositorische Asymmetrie des Bildes (die Vermutung, es könnte am linken Bildrand beschnitten sein, kann nicht bestätigt werden) besteht nur in der oberen Bildzone. Die untere Bildzone zeigt den Rheinstrom mit einer Fischerszene im ersten Drittel von links, einem Pilgerboot in der Mitte (beide Darstellungen also vor der Ansicht Kölns) und im rechten Drittel die nördlich der Stadtmauer anlandenden und in die Martyriumszene einmündenden Schiffe der Ursulagemeinschaft. Die Komposition findet dort in einer von links nach rechts geführten Leserichtung ihren Abschluss und ist somit auch im Ganzen geschlossen. Der Ebene der hieratischen, tendenziell ewiggültigen Repräsentation (Sancta Colonia) ist eine dynamische Ebene – die Bildsequenzen auf dem Rheinstrom werden durch das geblähte Segel und die gemalten Fließbewegungen des Wassers als Ereignisfolge angedeutet – zugeordnet. Der narrative Gestus der unteren Bildebene kulminiert in der Martyriumszene. Sie fasst inhaltlich und kompositorisch die beiden Bildebenen zusammen und lässt in der Verbindung von Hieratischem und konkreten Ereignissen die kontemplativen Intentionen des Andachtsbildes erkennen.
Eine andere Besonderheit des Bildes wurde in seinem innerhalb der altkölnischen Malerei nach unserem Kenntnisstand erstmalig auftretenden Genrecharakter erkannt. Die im Rhein verankerten Wassermühlen, die Fischerszene, die am Kai anliegenden Lastschiffe, die von Süden durch den Durchgang am Bayenturm in der Stadt eintreffenden Jakobspilger – deren Ziel in Köln das Dreikönigsgrab im Dom war – in dessen Richtung sie auch schauen – und der am Ufer spazierende Jüngling in zeitgenössischer, modischer burgundischer Tracht, der im Gegensatz zu den Jakobspilgern auf das Pilgerschiff im Rhein sieht, werden unter die Genreelemente des Gemäldes gezählt. Der schattenhaft zu Füßen des burgundischen Jünglings im Wasser wiedergegebene Krebs gibt vielleicht einen Hinweis auf den Namen des vornehmen jungen Mannes; er kann möglicherweise als Stifter des Gemäldes, vielleicht sogar, wie weiter unten angedeutet, als Autor des Bildes gedeutet werden (hier müssten nähere Untersuchungen folgen).
Die anderen genrehaften Szenen und Bildobjekte sind vornehmlich allegorisch und metaphorisch zu deuten. Die profanen Motive verweisen auf die religiösen Intentionen des Gemäldes, sie dienen als vorbildhafte Impulsgeber zur Frömmigkeit. Bei den Jakobspilgern ist das evident, wobei sie ja eher unauffällig als Nebenfiguren im Hintergrund der Szenerie erscheinen. In der vordergründig zur Hauptszenerie gehörenden Fischerszene geben die Typiken der dargestellten Fischer Aufschluss: Unterhalb von Strommühlen zu fischen war sicher ertragreich. Die Mahlabfälle dieser Art Getreidemühlen dürften viele Fische angelockt haben. Soweit das Genrehafte der Bildsequenz. Die beiden Fischer sind aber den Kopftypen nach als die Apostelfürsten Petrus (mit Bart und Lorbeerkranz) und Paulus (mit geteiltem Bart) zu interpretieren. Beide werden hier sinnbildlich als die Menschenfischer wiedergegeben, als welche Simon Petrus und sein Bruder Andreas von Jesus am See Genezareth zu ersten Jüngern berufen wurden (Mk 1,17). Da auch beide Apostel auf das Pilgerschiff schauen, dessen Ziel offenbar der Ereignisort des Ursulamartyriums ist, könnten auch die Getreidemühlen bzw. das vermahlene Getreide als Metaphern für die Nachfolge Christi fungieren (Joh 12, 24-26, Gleichnis vom sterbenden Weizenkorn). Diese Vermutung verdichtet sich im Folgenden.
Die Schiffgesellschaft in der Mitte des Stromabschnitts setzt sich aus weiblichen und männlichen geistlichen Personen (ein Bischof, Mönche, Stiftsdamen) sowie säkularen Personen (Bürger, blumenbekränzte Jungfrauen) zusammen. Sie fahren in einer spätmittelalterlichen Hansekogge den Strom herab; am Mast ist der rot-weiße Hansewimpel zu erkennen. Die beiden im Kölner Hafen liegenden Schiffe sind detailgetreue Darstellungen spätmittelalterlicher Hansekoggen, wie sie als niederrheinischer Schiffstyp im Fluss- und Seehandel der norddeutschen Städte, aber auch bis und ab Köln Verwendung fanden und die im Warenhandel mit England eine große Rolle spielten. (Ursula soll eine britannische Prinzessin gewesen sein.) Im Unterschied zu diesen korrekt mit Achterkastell (der Holzaufbau am Heck, worin sich die Steuerung des Heckruders befand), Takelage und Mastkorb wiedergegebenen Koggen, wird die Pilgerkogge von einem Steuermann in der Kleidung eines geistlichen Lehrers über ein am Masttopp befestigtes Tau gesteuert. Hier ist ein real völlig unpraktikabler, navigatorisch geradezu unmöglicher Vorgang dargestellt. Am Mast befestigte, dann aber durch einen Umlaufring an der Bugrehling über 50-60 Meter an Land geführte Taue dienten dem stromaufwärtigen Treideln der Schiffe. Stromabwärts wurde – wie im Bild wiedergegeben – gesegelt, es musste aber zusätzlich über die Pinne im Achterkastell gesteuert werden.
Schiffreliquiar der Ursula-Bruderschaft, 1920; © Axel Kirch CC BY-SA 4.0
Schutzmantelursula, Köln, Ende 15. Jh. © Frank Vincentz CC BY-SA 3.0
Der anagogische Sinn dieses abstrus anmutenden Törns war den Betrachtern des frühen 15. Jahrhunderts, und zumal denjenigen im St. Ursula-Stift, dagegen völlig klar. Seit dem 13. Jahrhundert gab es in Köln Ursulabruderschaften, die unabhängig ihrer zugelassenen Mitglieder (es gab unter anderem eine Ursulabruderschaft nur des Patriziats, eine der Witwen und unverheirateten Frauen, eine weitere reine Priesterbruderschaft) sämtlich in Anlehnung an die Legende „Ursulaschiffchen“ („navicula sanctae Ursulae“) genannt wurden und werden. Bis heute besteht die 1445/56 gegründete allgemeine Kölner Bruderschaft, die, wie die früheren, in regelmäßig zu stiftenden Gottesdiensten ihre Patronin Ursula um Fürsprache für einen seligen Tod sowie beim „Übersetzen” in die Ewigkeit anruft (Motiv der in einem Schiff ins Jenseits übersetzenden Seele, wie es aus allen Kulturräumen der Menschheit seit Jahrtausenden bekannt ist). Ein möglicherweise schon 1337 verfasster Liedtext für ein Männern wie Frauen, Klerikern wie Laien zugängliches „Schiffchen“ empfiehlt den Mitgliedern, sich der Heiligen Ursula sowie Maria durch allerlei Gebete anzuvertrauen, „bit dat (dat schifgen) krige des hemels porz“. Der Liedtext spricht der Ursulaverehrung den gleichen Stellenwert wie der Verehrung der Gottesmutter zu, so üblich in Köln. Ja, die Popularität Ursulas war innerhalb der Stadtbevölkerung durchaus größer als die Mariens. So wurde beispielsweise das Schutzmantelmotiv von Maria auf Ursula übertragen: „Breit aus breit aus den mantel dein, / sanct Ursula: / all wollen wir darunter sein“, heißt es in einem barocken Liedtext. Bildliche Darstellungen der Schutzmantelursula gab es in Köln und im Rheinland seit dem 15. Jahrhundert.
Eines der bekanntesten Marienlieder des Mittelalters gibt endgültig Aufschluss über das Pilgerschiff-Motiv im behandelten Gemälde. Das häufig Johannes Tauler (14. Jahrhundert) zugeschriebene, spätestens aber in der Mitte des 15. Jahrhunderts verfasste adventliche Lied „Es kumpt ein schiff geladen“ (das Schiff ist Maria, die Schiffsladung ihre Leibesfrucht, Jesus) deutet Segel und Mast: „Der segel ist die minne (die Liebe) / der hailig gaist der mast.“ Gottesliebe und die Liebe zu seinen Heiligen führen, geleitet vom Heiligen Geist, zur Seligkeit! Dazu fordern die Schiffsgemeinschaft und der geistliche Steuermann in der Bildmitte den Betrachter auf! Mehrere der Passagiere schauen tatsächlich aus dem Bild heraus in Richtung des Betrachters.
Einige weitere, säkular verankerte Thesen zum behandelten Bild seien nur knapp erwähnt, (der Autor plant einen ausführlicheren Beitrag zum Thema):
- Die Hansekoggen verdeutlichen die Rolle Kölns in der Gründung der Hanse, die ursprünglich kein Seebündnis, sondern ein gegenseitiges Schutzbündnis mehrerer handeltreibender Städte, vergleichbar dem Rheinischen Städtebund von 1254-1257 war.
- Ursula, die britannische Königstochter, wird in diesem Bild möglicherweise als Hoffnungsträgerin, Patronin für freien Handel zwischen Köln und England eingeführt; der wirtschaftliche Erfolg Kölns war seit dem 12. Jahrhundert immer wieder von den politischen Verhältnissen und Beziehungen zwischen England, dem Hl. Römischen Reich, dem Kölner Erzbischof und Kurfürsten sowie der Stadt selbst abhängig. Die Schwierigkeit eines freien Handels mit England waren allerdings durch das Köln 1259 gewährte Stapel- und Umschlagrecht von Seiten der Stadt selbst und durch den von Kaiser Friedrich Barbarossa 1174 von Thiel (auch dies ein wichtiger Schauplatz der Ursulalegende) nach Kaiserswerth verlegten Reichszoll erschwert.
- Die die Gemeinschaft der Heiligen Ursula mordende Hunnenschar im Gemälde von ca. 1411 trägt teilweise osmanische Turbanhelme. Hier dürfte ein Reflex auf die Schlacht auf dem Amselfeld (1389), mehr aber auf die Schlacht bei Nikopolis vorliegen, in der die Osmanen 1396 (also wenige Jahre vor dem Entstehen des Gemäldes) einen vernichtenden Sieg über ein mehrheitlich aus ungarischen und französisch-burgundischen Kreuzfahrern bestehendem Heer errangen. Der Autor des Bildes vom Märtyrium der Hl. Ursula vor Köln hat seine Schulung vermutlich in Frankreich, vielleicht im Bereich der burgundischen Buchmalerei erfahren. Wenn dies der Fall war, dann dürften ihm die Ereignisse von 1396 bekannt gewesen sein. Aber auch unabhängig davon, muss eine verbreitete Kenntnis dieser frühen “Türkenkriege“ angenommen werden. Die echte oder gefühlte Bedrohung des christlichen Europa durch die Osmanen war eine Konstante seit dem Spätmittelalter und bis in die fernere Neuzeit. Ursula und ihre Gemeinschaft waren in Köln wohl immer schon als eine Art menschlicher Schutzschilde gegen feindliche Bedrohungen angesehen worden. Sie hatten sich der Legende nach einst zum Heil der Stadt und ihrer Bewohner den Hunnen unter deren König Julius (sic!) entgegengeworfen und geopfert. Im Ursulazyklus des sogenannten Meisters von 1456 (die auf dieses Jahr datierte Bilderfolge hängt seit einigen Jahren wieder an ihrem ursprünglichen Ort an den Chorwänden von St. Ursula in Köln) zeigt in der finalen Szene die Ermordung Ursulas und ihres Verlobten Aetherius durch einen moriskenartig, und damit unanständig gespreizt stehenden Osmanen mit Turban und „Türkenbart“ – drei Jahre nach dem Fall Byzanz‘ und dem endgültigen Ende des oströmischen Reiches! Neben Byzanz, dem politisch bedeutungslosen Rom und dem seit 1291 unter ägyptisch-mamlukischer Verwaltung stehenden Jerusalem war Köln die einzige Stadt, die sich offiziell „heilig“ nennen durfte. Mit den Ereignissen von 1389 und 1396 dürfte sich Köln als einziges westliches, nach 1453 sogar als letztes Bollwerk gegen das „Heidentum“ verstanden haben. Auch diese heilspolitische Botschaft steckt in dem Gemälde des Meisters der Kleinen Passion.
13. Juni 2020 || ein Beitrag von Markus Jurascheck-Eckstein, Kunsthistoriker und Germanist