Im Garten der Pfade, die sich verzweigen – Lyons Geheimwege und verborgene Passagen

Eine Stadt, komplex wie ein mehrstöckiger Kuchen, zwischen zwei Flüssen und am Fuß zweier Hochebenen. Wer sich durch diese Metropole bewegt, muss mit Überraschungen rechnen. Direkt neben den Türmen der gotischen Kathedrale, an der Rue Saint Jean, reihen sich behäbige Paläste aus dem 16. Jahrhundert, massive, breit gelagerte Bauten mit undurchdringlichen eher unscheinbaren Fassaden. Öffnet man eine der Türen, landet man nicht nur im Haus; man gelangt in verwinkelte Gänge, die einen verdeckt durch das halbe Viertel führen und oft in innen liegenden Bogengängen münden. Meist hängt eine Laterne neben der Tür, die leuchtet, wenn der gegenüberliegende Ausgang offensteht.
Traboules sind Fußwege und Innenhöfe, mit denen man von einer Straße zur anderen gelangen kann. Die bekanntesten befinden sich hier in Lyon, wo man sie auch rémoulades nennt (nicht zu verwechseln mit der treuen Begleiterin deutscher Sülze). In Lyon verwendet man das Verb trabouler auch, um die Bewegung in einem Labyrinth zu bezeichnen.
Traboules können unterschiedlich gebaut sein: manchmal mit Durchblick vom Ausgang zum Eingang; manchmal führen sie um‘s Eck, oft sind sie sternförmig im Herzen eines Wohnblocks platziert und stellen den Passanten vor verwirrende Wahlmöglichkeiten wie den Helden in einem Dan Brown-Film, einige führen über Treppen in steiler Hanglage.

Das Wort fällt zum ersten Mal 1875, aber die Herkunft aus dem in Lyon gesprochenen patois legt nahe, dass dieses Verb wesentlich früher verwendet wurde. Traboule leitet sich ab von trabouler aus dem Lyoneser Dialekt, das ursprünglich nur in der Redewendung allée qui traboule vorkam, einer „Gasse, die quert“. Eventuell stammt das Dialektwort aus dem vulgärlateinischen trabulare, das sich wiederum aus trans– („durch“) und ambulare („gehen“) zusammensetzt. Dieses hypothetische vulgärlateinische Wort ist allerdings nicht schriftlich belegt. Eventuell handelt es sich auch um eine Kreuzung zwischen „überqueren“ und „taumeln“ (bouler = „rollend fallen“) – Lyon kennt 500 dieser verborgenen Passagen. Sie befinden sich hauptsächlich in der Altstadt (215), im Seidenweberviertel Croix-Rousse (163) und auf der repräsentativ bebauten Halbinsel (130).Vielleicht entstanden die ersten Traboules schon im 4. Jahrhundert. Die Einwohner von Lugdunum ließen sich am Ufer der Saône nieder, in der engen Unterstadt zwischen dem Wasser und dem steilen Fourvière-Hügel. Die platzsparenden Durchgänge wurden verwendet, um schnell den Fluss zu erreichen. Die heutigen Passagen und Innenhöfe der Altstadt entstammen meist der Renaissance des 16. Jahrhunderts. Die Höfe wurden nach dem Vorbild römischer Atrien mit Säulengängen und Brunnen erbaut. Tatsächlich besitzt Vieux-Lyon das größte zusammenhängende Ensemble an Renaissancebauten in Frankreich, in etwa vergleichbar mit Görlitz in Ostdeutschland. Nach Jahrzehnten der Vernachlässigung und skandalösen Abrissplänen in den 1950er und 1960er Jahren wurden diese Bauten liebevoll restauriert und damit erst relativ spät wiederentdeckt.

Berühmt ist das Hotel de Bullioud (Abb. oben) von 1536, dessen Baumeister Philibert Delorme für die französischen Könige in Anet tätig und damit einer der ersten Renaissancearchitekten Frankreichs war. Versteckt hinter einer unscheinbaren Fassade findet sich ein Hof mit einem stromlinienförmig eleganten Brunnen und einer von Trompen gehaltenen, scheinbar schwebenden Rundbogengalerie. Nicht weit entfernt liegt ein Palais des römisch-venezianischen Architekten Sebastiano Serlio, dessen Tätigkeit in Frankreich zwar überschaubar ist, der aber das vermutlich einflussreichste Standardwerk zur Baukunst der Renaissance veröffentlichte. Seine Maison du Crible („Haus des Siebes“, Abb. links) wurde von König Heinrich IV. verwendet, als er nicht weit entfernt in der Kathedrale Maria de‘ Medici heiratete . Auch wenn die mollige Braut und der durch ständige Religionskriege etwas verwahrloste Bräutigam einander nicht wirklich gut riechen konnten, ist der Bau in einem der Liebe günstigen Rosé gestrichen. Der elegante durchfensterte rosa Treppenturm könnte in seiner Monumentalität auch einem Gemälde De Chiricos oder einer Escher-Graphik entsprungen sein und bot wegen der Wendeltreppe praktische Zugänglichkeit, ohne dass die Braut Rapunzel spielen musste.

Abbildung links: Maison du Crible
Abbildung rechts: Rubens, Eheschließung Heinrichs IV.

2. Dezember 2020 || ein Beitrag des Kunsthistorikers Dr. Till Busse

Gemeinsam mit Dr. Till Busse laden wir Sie Ende März 2021 dazu ein, die Vielfalt der Stadt am Zusammenfluss von Rhône und Saône mit ihren typischen Traboules, den versteckten Gängen und Passagen zu entdecken. Neben dem Renaissance-Viertel, das seit 1998 UNESCO-Weltkulturerbe ist, beeindrucken gallo-römische Überreste eines Theaters ebenso wie die „Fresque des Lyonais“.

Vielfältiges Lyon
Die Metropole an Rhône und Saône
24. bis 28. März 2021 (Mi.-So.)
Ferienakademie

Die Betrachtung der futuristisch anmutenden Architektur im Viertel La Confluence setzt ebenso einen Akzent wie die Schätze des Musée Beaux-Arts. Interessant ist es auch, den „Spuren der Seide“ sowie die des legendären Sternekochs Paul Bocuse zu folgen.

Im hochgelegenen Weberviertel Croix-Rousse sind die Geheimwege jünger und später entstanden als die im 19. Jahrhundert errichteten, auch canuts genannten Wohn-und Arbeitsquartiere der Seidenarbeiter. Die Traboules ermöglichen es, von den Hängen schnell und geradlinig die Halbinsel mit ihren Seidenhändlern zu erreichen. In Croix-Rousse liegt einer der berühmtesten Durchgänge, die Cour des Voraces („Hof der Gefräßigen“), die als Ort der Erinnerung gilt an den Aufstand der canuts, eine der ersten großen Industrierevolten Europas. Berühmt ist die sechsstöckige Treppe, deren fließende Eleganz als Jugendstilform durchgehen könnte. Tatsächlich entstand der Bau schon um 1840 und diente mit hohen Räumen und Riesenfenstern als Wohn- und Arbeitsstätte der bitterarmen Lyoner Seidenweber, die dort unmittelbar neben ihren Arbeitsgeräten in staubig stickiger Luft lebten, aßen, schliefen. Eventuell diente er als Versammlungsort einer Gemeinschaft von Rebellierenden, den Voraces, die es schafften, 1849 das Rathaus von Lyon zu besetzen. Lyon war Schauplatz der frühesten Industrieaufstände in Europa. Schon 1831 hatten die Seidenweber sich gegen ständig sinkende Löhne und die fortschreitende Maschinisierung ihres Gewerbes aufgelehnt. Die ohnehin schon mehr als prekären Verhältnisse verschlechterten sich bis zur Unerträglichkeit und mündeten schließlich in das tragische Verschwinden der manuellen Weberei. Die seit dem 15. Jahrhundert blühende Seidenindustrie war vor allem von Franz I. gefördert worden, da man das Handelsdefizit mit italienischen und spanischen Städten beseitigen wollte. Nachdem das Verlagswesen der händisch arbeitenden Werktätigen durch Maschinen abgelöst worden war, entstand eine florierende moderne Textilwirtschaft. Heute ist auch diese Seidenindustrie durch Ware aus Fernost verdrängt worden. Von altem Glanz und Elend kündet nur noch ein Museum.

Diese Traboule des Voraces mündet auf einer steilen Treppe zur Montée Saint Sébastien und auf einem quer verlaufenden Gang, der in eine weitere Traboule führt. Auch hier alles also recht labyrinthisch. Die Thiaffait-Passage, die zu einem Schaufenster für Lyons kreatives Potential geworden ist, wird ebenfalls durch verschiedene Traboules erschlossen. Der Begründer M. Thiaffait hatte hier zwar eine Ladenpassage begründet, aber auch ein Büro für Armenfürsorge eröffnet. Überdies gründete man hier 1827 ein bis heute bestehendes Orchester. In der Nachkriegszeit verkam die Passage wie das ganze Viertel zu einem Ort der Kriminalität. Als man sie restaurierte, fanden sich zunächst keine kommerziellen Mieter, sodass Künstler und Kunsthandwerker einzogen. Heute ist die Passage einer der hippen Orte der Stadt zwischen Rhone und Saone und steht für die Gentrifizierung von Croix-Rousse seit den 1990er Jahren.

Die Traboules waren ideal, um sich verborgen vor dem Blick der Behörden in der Stadt fortzubewegen. Die waren sich der genauen Geografie der Altstadt oft nicht bewusst. Bis zur Erfindung moderner Navigation dienten die Gänge vielen als Unterschlupf und Weg geheimer Fluchten: Die labyrinthisch-verwirrende Struktur der Stadt bot im Drama des Zweiten Weltkriegs Widerstandsgruppen auch die Möglichkeit, geheime Briefkästen in Gebäuden ohne Hausmeister oder Concierge einzurichten, um diskret Nachrichten zu übermitteln. Hinzu kam, dass viele der Verlagshäuser in Lyon neben den offiziellen Verlautbarungen auch klandestine Zeitschriften veröffentlichten, deren Produktion und Transport über die vielen Hinterhöfe und geheimen Passagen abgewickelt werden konnte. Die Schergen des Naziregimes kapitulierten wohl oft angesichts dieses Irrgartens, zu dem ihnen der Ariadnefaden fehlte. Mancher Widerständler konnte so wohl entwischen. Lyon war neben Marseille zwischen 1940 und 1942 die größte Stadt im noch nicht von den Deutschen besetzten Teil Frankreichs und entwickelte sich zu einem der wichtigsten Zentren der Résistance. Gründe waren die verkehrstechnisch günstige Lage, ihr Verlagswesen und die Nähe zur Schweiz als praktischem Fluchtpunkt. Als Lyon 1942 wie der Rest des Landes von der Wehrmacht besetzt wurde, geriet sie zum Schauplatz von Widerstand und Verfolgung. Der Kampf zeichnete sich polarisierend ab in Persönlichkeiten wie Jean Moulin, der von den Nazis ermordet wurde und Klaus Barbie, dem so genannten Schlächter von Lyon und seinem Helfer gueule tordue (Schiefmaul). Die damals noch pechschwarzen Fassaden der Altstadt und ihre dusteren Verbindungsgänge waren die komplizierten Kulissen eines tragischen Katz-und-Maus-Spiels, das eigentlich erst 1987 mit der Verurteilung Barbies vor einem französischen Gericht endete. Heutzutage können die Traboules unproblematisch besichtigt werden, wobei etwa vierzig nach Vereinbarungen zwischen der Stadt und Eigentümern kostenlos für die Öffentlichkeit zugänglich sind. Die Stadt Lyon trägt Kosten für Wartung, Sauberkeit, Beleuchtung und bis zu 70% der Restaurierungskosten. Die Eigentümer räumen im Austausch ein Wegerecht ein. Und keine Angst – hier geht heute niemand mehr verloren, der das nicht unbedingt möchte. Im Zweifelsfall landet man in einem Bouchon, einer ortstypischen Gaststätte und wird von den Eingeborenen mit Entenkeule, Stopfleber und Beaujolais befüllt und betankt. Après ca on traboule à la maison. = Danach rollt man nach Hause.

Abbildungsnachweise:
Bilder 1-3:Wikipedia commons, gemeinfrei
Bild 4: zeno.org
Bilder 5-6: Wikipedia commons, gemeinfrei