Im Korbsessel mit Winston (oder Clement)

Am 17. Juli 1945 begann im Schloss Cecilienhof bei Potsdam eine Zusammenkunft von Vertretern (Frauen waren allenfalls in der zweiten Reihe dabei) der drei Hauptalliierten des Zweiten Weltkriegs, die offiziell als „Dreimächtekonferenz von Berlin“, tatsächlich aber als „Konferenz von Potsdam“ ins kollektive Gedächtnis und die Geschichtsbücher eingegangen ist. Diesem Treffen vor genau 75 Jahre ist am historischem Ort eine große Ausstellung unter dem Titel „Potsdamer Konferenz 1945 – Die Neuordnung der Welt“ gewidmet.

Im unversehrten Schloss Cecilienhof fand im Sommer 1945 eine Reihe von „Gipfeltreffen“ ihr Ende, die eine gleichermaßen prekäre wie über Jahrzehnte stabile Nachkriegsordnung hervorbrachte. Ikonographisch steht „Potsdam“ dennoch etwas im Schatten von „Jalta“. Auf der Krim nämlich entstand jenes berühmte Bild der „Großen Drei“ – Churchill, Roosevelt und Stalin – das bis heute symbolisch für die Phase des Übergangs steht, die in Potsdam gewissermaßen zum Abschluss kam.

Den Übergang markiert nicht zuletzt auch eine wesentliche Veränderung des Personaltableaus: Der grimmige Generalissimus des Sowjetreichs war die einzige Konstante, und er erwies sich einmal mehr als gewiefter Stratege. Gleich zu Beginn der Konferenz trug er in einem klugen Schachzug dem amerikanischen Präsidenten die Rolle des Sitzungsleiters an. Wie hieß noch gleich Roosevelts Nachfolger im Weißen Haus? Ach genau, Truman. Obschon seine Amtsführung heute deutlich positiver bewertet wird als damals, bleibt er im Schatten seines großen Vorgängers.

Truman also, der erst seit Mitte April 1945 im Oval Office residierte, wurde auf Stalins Initiative zum Vermittler zwischen der Sowjetunion und dem dritten Spieler am Tisch: dem britischen Empire, repräsentiert durch seinen Premierminister Winston Churchill. Noch. Denn während der Konferenz trafen die Wahlergebnisse der englischen Unterhauswahlen vom 5. Juli ein. Diese brachten – völlig unerwartet – einen Erdrutschsieg der Labour-Partei, deren Anführer Clement Attlee nun Churchill als Premier nachfolgte und auch seinen Platz am Verhandlungstisch im Schloss Cecilienhof einnahm.

Dem sowjetischen Diktator spielten diese Wechsel in die Hände. Erst der Tod des großen Roosevelt, der schon zuvor von Krankheit gezeichnet und geschwächt war, nun noch die Rochade in der Downing Street. Die Russen sollen sich gefreut haben, weil der schmächtige Attlee wie Lenin aussah, nur ohne Spitzbart.

Zwar war Attlee in Regierungsgeschäften nicht unerfahren, hatte während des Krieges in herausgehobener Stellung an Churchills Seite gearbeitet. Dennoch untergrub er ungewollt die amerikanische Verhandlungsposition und schwächte so – in der „Stunde Null“ des beginnenden Kalten Krieges – den westlichen Block. Stalin konnte sich in allen wesentlichen Punkten durchsetzen, Polen erhielt die Verwaltungshoheit über die Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie, und die Zwangsumsiedlung von Millionen Menschen war beschlossene Sache.

Dass man sich heute im Rahmen einer aufwendig multimedial gestalteten Ausstellung sogar in historisch anmutenden Korbsesseln mit Stalin und Co. ablichten lassen kann, wäre wohl kaum denkbar, wenn der Punktsieg des Diktators mit dem Schnauzbart eine dauerhaft geteilte Welt zur Folge gehabt hätte.

Tatsächlich aber dürfen wir heute, 30 Jahre nach Überwindung der Teilung, feststellen: Die demokratischen Verfassungsregeln mögen bisweilen im harten Spiel der Mächte eine Schwächung der demokratischen Akteure mit sich bringen. Auf lange Sicht aber erweist sich die Demokratie als robuste, ja überlegene, Ordnung. Denn sie ist grundsätzlich lernfähig und in der Lage, vergangene Entscheidungen unblutig zu korrigieren. So kann heute der konservative englische Premierminister Boris Johnson den staatlichen Gesundheitsdienst National Health Service emphatisch preisen, obwohl dieser einstmals von Attlees Labour-Regierung gegen den erbitterten Widerstand der Tory-Opposition geschaffen wurde.

Außerdem scheinen es zumindest erfahrene demokratische Gesellschaften zu vermögen, in besonders schwierigen Situationen Amtsträger hervorzubringen, die auf den ersten Blick untauglich erscheinen mögen, sich dann aber als überlegene Führungsgestalten erweisen. Man könnte das den „Columbo-Effekt“ der Demokratie nennen. Denn so wie im Krimi die Bösewichte den etwas dümmlich wirkenden Inspektor im zerknautschten Trenchcoat unterschätzen, so haben die Nationalsozialisten Spottlieder auf den ersten Seelord Churchill gesungen. Heute kann man mit geringer Übertreibung sagen: Dass dieser Blog-Text geschrieben und gelesen werden kann, verdanken wir ganz wesentlich einem übergewichtigen, zu Depressionen neigenden und selten nüchternen Mann im Rentenalter – und einer parlamentarischen Demokratie, die in höchster Bedrängnis ausgerechnet diesem Mann die Führung der Regierungsgeschäfte anvertraute.

Nicht zuletzt stärkt gerade der Wechsel von herausragenden Führungsgestalten wie Churchill und Roosevelt zu weniger imposanten Persönlichkeiten wie Attlee und Truman das Vertrauen in die demokratische Regierungsform. Sie ist nicht auf außergewöhnliche Charismen ihrer Spitzenleute angewiesen, sondern funktioniert auch mit blasseren Akteuren. Dass aktuell die Vereinigten Staaten auszuloten scheinen, welche minimalen Tauglichkeitsanforderungen das Präsidentenamt an seinen Inhaber (und perspektivisch seine Inhaberin) stellt, mag befremden. Gleichwohl dürfen wir uns heute, 75 Jahre nach der „Neuordnung der Welt“ in Potsdam, noch einmal an Winston Churchills Bonmot erinnern: „Niemand behauptet, die Demokratie sei perfekt oder allwissend. In der Tat ist gesagt worden, dass die Demokratie die schlechteste Regierungsform sei – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.“

Bis zum 31.12.2020 zeigt die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg (SPSG) die Sonderausstellung „Potsdamer Konferenz 1945 – Die Neuordnung der Welt“. Informationen finden Sie auf der Internetseite der Stiftung.

Bilder
Potsdamer Konferenz, Gruppenbild mit Churchill, Truman und Stalin. Bild: Wikipedia, gemeinfrei
Schloss Cecilienhof. Bild: Wikipedia, gemeinfrei
Die „Großen Drei“ bei der Konferenz von Jalta. Bild: U. S. Signal CorpsLibrary of Congress , Franklin D. Roosevelt Library & Museum. Wikipedia, gemeinfrei
Potsdamer Konferenz, Gruppenbild mit Attlee, Truman und Stalin. Bild: Bundesarchiv, (CC BY-SA 3.0 DE)

17. Juli 2020 || von Dr. Matthias Lehnert, Akademiereferent