Zwischen Schriftlosigkeit und sola scriptura

Das Christentum gilt als „Buchreligion“. Seinen Anhängerinnen und Anhängern mag kaum bewusst sein, dass andere Religionen dauerhaft ganz ohne eine „heilige Schrift“ auskommen. Und doch ist das sehr wohl möglich. Welche Alternativen der Glaubenstradierung oder -überlieferung kennt die Religionswissenschaft?

Unsere Vorstellung von einer „heiligen Schrift“ ist natürlich stark von unserem Verhältnis zur Bibel beeinflusst. In der Praxis ist dieses Buch aber auch im Christentum durch traditionelle Auslegungen ergänzt worden und in der Alltagsfrömmigkeit vielleicht gar nicht so relevant. Es gehört dann natürlich zum guten Ton, dass man das Buch irgendwo zuhause hat, aber man macht sich kaum die Mühe, mal darin zu blättern. Ähnliches gilt auch für die hebräische Bibel des Judentums und den Koran im Islam. Es ist also zwar ein genormtes Textkonvolut vorhanden, aber auch diese Religionen haben daneben immer noch andere Überlieferungswege. Auch in den asiatischen Religionen – im Hinduismus, im Buddhismus oder im chinesischen Taoismus oder Konfuzianismus – gibt es immer auch die Überlieferung durch die religiöse Autorität, durch religiöse Institutionen.

Aber gibt es denn Religionen, die gar keine heiligen Schriften kennen?

In der Forschungsgeschichte gab es die Rede von den sogenannten „schriftlosen Religionen“ – Naturreligionen, Stammesreligionen. Das war im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Inzwischen hat man erkannt, dass diese Einschätzung falsch ist. Damals hat man missverstanden, dass Buch immer etwas Geschriebenes ist. Auch in den sogenannten „schriftlosen Religionen“ gibt es eine verbindliche mündliche Überlieferung eines Traditionsschatzes über religiöse Autoritäten. Diesen mündlichen Überlieferungen, die inzwischen natürlich auch längst niedergeschrieben worden sind, kann man durchaus den gleichen Wert zubilligen wie geschriebenen Büchern. Aber die Gründungsväter der europäischen Religionsforschung stammten aus einem jüdischen oder christlichen Buchmilieu. Dieses hat ihre Wahrnehmung  zunächst des Christentums und dann der Religionen im Allgemeinen geprägt und zur Vorstellung geführt: „So muss jede Religion im Umgang mit ihrer Überlieferung funktionieren.“ Das stimmt aber einfach nicht.

Die Geschichte des Christentums ist auch durch unterschiedliche Auffassungen von der Stellung der Bibel zu anderen kirchlichen Überlieferungen geprägt. Dem von Luther geprägten Prinzip „sola scriptura“ hat die katholische Kirche entgegengehalten, dass göttliche Wahrheit nicht nur in der Schrift, sondern vielmehr in der Verbindung von Schrift und Tradition zu finden sei. Gibt es vergleichbare Auseinandersetzungen auch in anderen Religionen?

In dieser extremen Ausformung findet man das Prinzip „sola scriptura“ wohl kaum in anderen Religionen. Aber in der jüdischen Tradition gibt es beispielsweise die kleinen Randströmung der Karäer. Sie sagen: Nur das, was geschrieben ist, nur der hebräische Text der Bibel, ist die heilige Schrift. Die Karäer waren aber nie populär und sind es auch in der Gegenwart nicht.

Ein anderes Beispiel ist die relativ moderne Bahā’ī-Religion, die Mitte des 19. Jahrhunderts im Iran entstanden ist. Hier sagt man: Die Schriften des Religionsstifters bilden die heilige Schrift. Seine beiden Nachfolger bieten dann die gültigen Auslegungen dieser heiligen Schrift. Ein heutiger, gelehrter Bahā’ī mag sich gerne Gedanken zu den Schriften des Religionsstifters für seine Glaubensvertiefung machen, aber er kann nie den Anspruch erheben, seine Gedanken seien eine allgemein gültige Auslegung. In der Bahā’ī-Religion gibt es auch keine Institutionen, die eine weiterführende, für alle rechtsverbindliche Auslegung festlegen könnten. Das ist also gewissermaßen eine Version des „sola scriptura“ mit einer zweiteiligen Auslegungstradition.

Ein drittes Beispiel: Man findet in asiatischen Religionen – im Buddhismus, auch in manchen hinduistischen Richtungen – Reformströmungen, die sagen: „Nur dieser Text ist verbindlich! Das ist unsere heilige Schrift! Alles andere ist zeitbedingte Verwässerung oder Aberglaube.“ Man kann sich überlegen, ob diese hinduistischen oder buddhistischen Reformströmungen, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Erscheinung traten, über Kontakte mit europäischer Geistlichkeit vom lutherischen Modell des „sola scriptura“ beeinflusst worden sind. Religionen lernen eben auch voneinander.

Für viele heilige Schriften ist klar, dass sie nicht aus einer einzigen Quelle stammen. Damit stellt sich die Frage, was zum Bestand einer solchen Schrift zählt und was nicht. Wissen wir etwas über die Entscheidungsprozesse, die einer solchen „Kanonbildung“ zugrunde liegen?

Ein wenig. Wir wissen beispielsweise relativ gut, dass Luther die Einteilung mit Blick auf das Alte Testament vorgenommen hat, indem er nur die hebräisch überlieferten Texte zur heiligen Schrift zählte. Die nur in griechischer Sprache überlieferten Texte sind daher nicht mehr Teil der alttestamentlichen Bibel des Luthertums. Da ist also die Entscheidung eines theologischen Denkers greifbar.

Gehen wir einige Jahrhunderte weiter zurück. Damals stellte sich die Frage, welche Texte des Neuen Testaments zur Bibel gehören und welche nicht. Das war ein Prozess, der vom zweiten bis vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung gedauert hat. Die vier Evangelien waren unproblematisch. Auch die Paulusbriefe waren im Großen und Ganzen relativ schnell unbestritten. Bis zum Ende der Kanonbildung umstritten waren dagegen der Brief an die Hebräer und die sogenannte Offenbarung des Johannes. Beide haben dann den Weg in das Neue Testament christlicher Prägung gefunden.

Strittig wurde es dann bei den sogenannten gnostischen Evangelien. Da gibt es ja viele, vorsichtig formuliert: sehr phantasievolle Erzählungen über die Kindheit Jesu. Was hat der kleine Jesusknabe alles angestellt, bis er mit seinen Eltern den Tempel besuchte? Wie ist der Knirps in die Schule gegangen? In einer dieser Erzählungen hat er seinen Lehrer furchtbar bloßgestellt. Das sollte verdeutlichen: Schon auf der Schulbank offenbart das Jesuskind seine Göttlichkeit. Menschlich verständlich, aber aus theologischer Sicht würde ich sagen: zu Recht nicht in den Kanon aufgenommen worden.

Wie sieht es im Judentum und im Islam aus?

Im Judentum findet sich eine ähnliche Diskussion im ersten nachchristlichen Jahrhundert. Bei der sogenannten Synode von Jabne wurde angeblich offiziell beschlossen: „Das ist jetzt die jüdische Bibel.“ Aber bis dieser Prozess abgeschlossen war, gab es Diskussionen über einzelne Texte. Zwei Beispiele: In der christlichen Bibel des Alten Testaments findet sich das Buch des sogenannten Propheten Daniel. Wir wissen: Das ist ein sehr junger Text, also erst im zweiten vorchristlichen Jahrhundert entstanden. Die christliche Einordnung sortiert das Buch Daniel zu den Prophetenbüchern. Die jüdische Tradition hatte mit der Tora, den fünf Büchern Mose, schon ein Stück Kanonbildung geschaffen. Das ist ein Kanon im Kanon. Daran war nicht mehr zu rütteln. Auch die Prophetenbücher waren aus jüdischer Perspektive im zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung bereits unverrückbar. Daher findet sich das Buch Daniel in der jüdischen Bibel nicht mehr bei den Propheten, sondern nur noch bei den „Schriften“, wozu auch die Weisheitsbücher und die Psalmen gehören. Das zeigt: Es war ein dreistufiger Prozess der Kanonbildung: Tora abgehakt, Propheten erledigt. Bleibt also für Daniel nur die dritte Gruppe.

Das zweite Beispiel: Es gibt eine Literaturgattung, die man dem Patriarchen Henoch zuschreibt. Henoch kommt ganz am Anfang des Alten Testaments bei den Patriarchen vor, noch vor der Sintflut. Ihm werden eine ganze Reihe von Büchern zugeschrieben. Diese Henoch-Bücher sind weder in die westliche christliche, noch in die jüdische Bibel aufgenommen worden. Aber eines wurde und wird vom äthiopischen Christentum der äthiopischen Bibel zugerechnet.

Die Grenzziehungen am Rand sind also immer etwas beweglich. Selbst bei den monotheistischen Religionen, wo wir noch relativ große Klarheit haben, gibt es also nicht den einen das eine unverrückbaren Textkorpus. Auch der Islam mit dem Koran ist hier einzubeziehen. Am Korantext ist zwar nicht zu rütteln. Der stand eine Generation nach dem Tod Mohammeds im Wesentlichen fest. Für die islamische Glaubensfrömmigkeit spielen aber die sogenannten „Hadithe“, Aussprüche Mohammeds, die nicht Teil des Korans sind, eine sehr wichtige Rolle. Man kann also sagen, dass zumindest der sunnitische Islam mit seiner Verbindung von Schrift und Tradition, also Koran und Hadith, dem katholischen Modell – heilige Schrift und Tradition – durchaus näherstehrt als dem protestantischen Modell des „sola scriptura“. Was aber Sunniten und was Schiiten als Aussprüche des Propheten Mohammed wertschätzen, ist nicht deckungsgleich.

Und wenn man auf die asiatischen Religionen schaut, fällt die Grenzziehung hier noch schwerer?

Für Buddhismus, Hinduismus, Konfuzianismus und Taoismus ist das Muster der Kanonbildung in der Tat nicht wirklich gut anwendbar. Im Buddhismus gibt es beispielsweise den sogenannten „Pali-Kanon“. Der ist für südostasiatische Buddhisten die heilige Schrift. Chinesische Buddhisten, tibetische Buddhistischen haben ihren eigenen Kanon. Der tibetische Kanon hat zwar Berührungspunkte zum Pali-Kanon, ist aber mit diesem nicht deckungsgleich. Erschwerend kommt hinzu: Die Bibel des Christentums oder des Judentums wie auch den Koran kann man noch recht gut zwischen zwei Buchdeckeln zusammenfassen. Für den Buddhismus, Hinduismus oder Konfuzianismus kann man eigentlich nur noch eine mehrbändige Ausgabe oder gar eine Bibliothek als heilige Schrift liefern. Wo hier die Grenzen zwischen geoffenbarten und nur noch überlieferten Schriften zu ziehen sind, kann oft nicht präzise festgelegt werden.

In der westlichen Welt sind Inhalte heiliger Schriften auch zu ganz weltlichen literarischen Klassikern verarbeitet worden – man denke etwa an Thomas Manns Josephsroman, den „Hiob“ von Joseph Roth oder auch an Hesses „Siddharta“. Wie sieht das in anderen Kulturen aus? Stehen alle der literarischen Aneignung ihrer Glaubensinhalte gleichermaßen offen gegenüber?

Hesses „Siddharta“ ist insofern unproblematisch, als er sicher gut in die nachromantische Buddha-Rezeption seiner Zeit fiel. Im Augenblick seiner Entstehung hat er mit seinen etwas kritischen Gedanken zum tradierten Christentum eher bei Christen angeeckt als dass er irgendeinem Buddhisten vor den Kopf gestoßen hätte. Interessant ist aber, dass es eine ganze Reihe neuerer Übersetzungen von Hesses „Siddharta“ in indische Sprachen gibt. Das zeigt, dass der Text als literarische Gestaltung eines indischen Themas durchaus im indischen Kulturraum positiv rezipiert wird. Es gibt andere Beispiele, die im europäischen Kontext nicht so bekannt sind. Im hinduistischen Kontext spielt das große Epos „Ramayana“ eine recht wichtige Rolle. Für manche Hindus gehört es zu den heiligen Schriften, für andere ist es nur vorbildliche belehrende Literatur der Erinnerung. In jedem Fall ist der Text sehr populär. Es gibt seit tausend Jahren eine ganze Reihe von Nachdichtungen dieses Sanskritepos in verschiedensten indischen Nationalsprachen, auch in andere Sprachen Südostasiens. Das zeigt: Dieser Text, dieses Thema – die Geschichte des gerechten Königs Rama – ist Kulturgut, das über den Hinduismus auch in die verwandte Kultur des Buddhismus und sogar in muslimische Gebiete Südostasiens Eingang gefunden hat. Man hatte also keine Berührungsängste, diesen Text zu modernisieren und in die lokale Alltagssprache zu übertragen.

Im Islam ist man etwas zurückhaltender, den Koran, der als Wort Gottes gilt, in Alltagssprache und profane Literatur umzusetzen. Dass aber mystische Dichter des Islams etwa Erzählungen über Jesus, Moses oder Abraham, die im Koran als Prophetengestalten eine große Rolle spielen, aufgreifen – wenn auch in religiöser mystischer Dichtung – ist vielleicht nicht ganz mit der literarischen Bearbeitung des Hiob bei Joseph Roth oder des Siddharta-Buddha bei Hesse vergleichbar. Es zeigt aber, dass eine vorsichtige Rezeption des religiösen Legendenschatzes auch in der islamischen Welt nicht völlig ausgeschlossen ist.

Bilder
Gutenberg-Bibel, Lenox Copy, New York Public Library. Wikipedia (CC BY-SA 2.0)
Seite des Aleppo-Codex. Wikipedia, gemeinfrei
„Enoch“, Lithografie von William Blake, 1807. Wikipedia, gemeinfrei
Valmiki Muni schreibt das Ramayana-Epos. Wikipedia, gemeinfrei

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