Grattis på födelsedagen, Greta Thunberg!

Liebe Greta Thunberg,

am Vorabend Ihres 18. Geburtstags erlaube ich mir, Ihnen diesen Brief zu schreiben. Sicher werden Sie in diesen Tagen noch mehr Post bekommen als dies in den vergangenen zwei Jahren ohnehin der Fall war.

Ja, es ist erst zwei Jahre und ein paar Monate her, dass Sie sich mit einem selbstgemalten Schild vor den Schwedischen Reichstag setzten, um mit Ihrem Schulstreik für eine konsequentere Klimaschutzpolitik einzutreten. Was für eine Entwicklung Sie damit in Gang gesetzt haben! Lange blieben Sie mit Ihrem Streik vor dem Parlament nicht allein. Bald schon schlossen sich weitere schwedische Schülerinnen und Schüler an, um vor Rathäusern gegen die unzureichende Klimaschutzpolitik zu demonstrieren. Das griff auf andere europäische Länder über. Im November 2018 streikten über 10.000 australische (!) Jugendliche gegen den Klimawandel. Interessanterweise gab es den ersten deutschen Schülerprotest erst im Dezember 2018. Über die deutsche Zurückhaltung gegenüber solchen unkonventionellen Protestformen mokierte sich schon Lenin.

Nun gab es kein Halten mehr. Bis Februar 2019 entstanden in aller Welt, auch in Deutschland, Ortsgruppen der Bewegung, die sich jetzt „Fridays for Future“ nannte. Nahmen Sie daran teil, wurden Sie von Ihren Altersgenossen wie ein Star empfangen. Im März 2019 fand dann der erste globale Protesttag statt. Allein in Deutschland nahmen nach Aussage der Veranstalter über 300.000 Menschen an 220 angemeldeten Aktionen teil.

Wie wohl viele, traute ich meinen Augen nicht. Waren das nicht die „jungen Leute“, über deren angeblichen unpolitischen Hedonismus man allseits geklagt hatte? Wenn es je eine Generation der verwöhnten Handy-Zombies gab, haben Sie diese aufgeweckt. Die technologische Entwicklung hat Ihrer Generation der „digital natives“ Instrumente in die Hand gegeben, von denen alle Revolutionäre von Luther bis Lenin nicht einmal träumen konnten. So wuchs in erstaunlicher Geschwindigkeit eine globale Massenbewegung heran, die den Ausgang der Europawahl im Mai 2019 entscheidend beeinflusste.

Mit etwas Wehmut denke ich daran, wie wir als Teenager in den 1990er Jahren für Umweltschutz „kämpften“: Wir bestellten per Brief Informationsmaterial bei Umweltschutzorganisationen, tauschten WWF-Sammelbildchen von bedrohten Tierarten. Wir nötigten unsere Eltern dazu, PH-neutrales Waschmittel in einem sogenannten „Bio-Laden“ zu kaufen, in dem es sehr seltsam roch. Wir waren randständige „Ökos“, die Krötenzäune und Nistkästen bauten, Müll einsammelten und bei „Forsteinsätzen“ Hecken schnitten und Bäume pflanzten. Unsere Helden fuhren unterdessen in kleinen Schlauchbooten vor Riesenschiffe, um zu verhindern, das Wale abgeschlachtet oder Giftmüllfässer verklappt wurden. Sie seilten sich von Schloten ab und verstopften die Abwasserkanäle von Industriebetrieben. Das war schon toll. Aber es zündete trotz aller Radikalität nicht. Die Masse der Jünger beschränkte sich darauf, ihre Autos mit Regenbogenstickern zu bekleben und ihren Müll zu trennen. Zwar führten Katastrophenereignisse wie die Reaktorunfälle von Tschernobyl oder Fukushima zu einer gewissen Beunruhigung, aber nie kam es zu dauerhaften Massenprotesten, geschweige denn zu einer globalen Massenbewegung. Das haben erst Sie mit ihrem selbstgemalten Schild erreicht.

Vielleicht war im Hitzesommer des Jahres 2018 – dem heißesten Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen – ein historischer Kipppunkt erreicht, vergleichbar mit dem 9. November 1989 oder dem 14. Juli 1789. Jedenfalls reagierten die meisten Politikerinnen und Politiker auf Ihre Proteste mit einer bräsigen Gönnerhaftigkeit, die an die angebliche Empfehlung der hilflos-weltfremden Königin Marie-Antoinette erinnert, wonach das hungernde Volk doch Kuchen essen möge, wenn es kein Brot habe. Gestalten wie der brasilianische Präsident Bolsonaro oder der nicht mehr lange amtierende US-Präsident pöbelten Sie regelrecht an, und auch der deutsche Oppositionsmann Christian Lindner verwies Sie in die Schulbank zurück. Schließlich könne man von Schulkindern „nicht erwarten, dass sie bereits alle globalen Zusammenhänge, das technisch Sinnvolle und das ökonomisch Machbare sehen. Das ist eine Sache für Profis“.

Sie haben sich weder vom Schulterklopfen und pflichtschuldig-braven Applaus der Mächtigen, noch von ihren entnervten Zurechtweisungen beeindrucken lassen. Es stimmt: Sie schlagen einen für unsere an routinierte Politikerreden und abgezirkelten Diplomatensprech gewöhnte Ohren ungewohnt hohen und bisweilen alarmistischen Ton an. Ihre emotionale Ansprache auf dem UN-Klimagipfel 2019 hat viele verstört. Damals sagten Sie zu der versammelten politischen Elite: „Ihr lasst uns im Stich. Aber die jungen Leute fangen an, euren Verrat zu verstehen. Die Augen aller zukünftigen Generationen sind auf euch gerichtet. Und wenn ihr euch entscheidet, uns zu im Stich zu lassen, sage ich: Wir werden euch das nie verzeihen. Wir werden nicht zulassen, dass ihr damit durchkommt. Hier und jetzt ist der Punkt, an dem wir die Grenze ziehen. Die Welt wacht auf. Und die Veränderung kommt, ob es euch nun gefällt oder nicht.“

Ich meine, dass Sie mit solchen Statements eine Qualität des Wissens in den politischen Prozess einbringen, die weder durch das „technisch Sinnvolle“ noch durch „das ökonomisch Machbare“ ersetzt werden kann. Der Philosoph Aristoteles bezeichnete diese Form des Wissens als phrónēsis, als das Wissen um das ethisch Gute, Anzustrebende und Angemessene.

Einige Jahre vor dem Beginn Ihres Schulstreiks erklärte der amerikanische Ökonom Jeffrey Sachs bei einer Konferenz im alten Bonner Bundestag, dass es der Weltgesellschaft genau an dieser phrónēsis mangele. Wir verfügen über das nötige Erkenntniswissen, das Aristoteles als episteme bezeichnet, kennen also etwa die Zusammenhänge von Treibhausgasen und Klimawandel. Auch verfügen wir über das praktische Wissen, die aristotelische techne, um die erkannten Herausforderungen anzugehen. Die phrónēsis, so Sachs, sage uns nicht, wie wir von A nach B kommen, aber sie lasse uns erkennen, warum es wichtig ist, dass wir nach B gelangen. Es geht der phrónēsis also nicht um die richtigen Mittel, sondern um die Erkenntnis der richtigen Ziele. Genau in dieser kollektiven Erkenntnis, was und wohin wir wollen, sah Sachs die größte Herausforderung für die Weltgesellschaft im Angesicht des Klimawandels.

Im politischen Prozess kann die phrónēsis nicht Aufgabe der Wissenschaftler und Techniker sein, deren Domäne die Mittel sind, nicht die Ziele. Mit Blick auf letztere braucht es auch und gerade in einem demokratischen Prozess Akteure, die Prioritäten erkennen und diese weit oben auf der politischen Agenda platzieren können. Das ist die Rolle, die Ihnen zugefallen ist, Greta. Sie sind, was man im Politjargon „Agendasetter“ nennt. Sie haben diese Aufgabe unbeirrt und mit beeindruckender Konsequenz angenommen – und das in einem Alter, in dem Menschen eigentlich andere Sorgen haben sollten. Nun werden Sie volljährig und erhalten die schwedischen und europäischen Bürgerrechte. Dazu gratuliere ich Ihnen ganz herzlich und wünsche Ihnen alles Gute für das, was vor Ihnen liegt und was Sie sich vorgenommen haben. Ich bin sicher, dass wir weiter von Ihnen hören werden.

Herzliche Grüße
Matthias Lehnert

Bilder
Thunberg bei einer Demonstration für mehr Klimaschutz in Denver im Oktober 2019. Bild: Streetsblog Denver auf Wikipedia (CC BY 2.0)

Thunberg vor dem schwedischen Parlamentsgebäude in Stockholm im August 2018. Bild: Anders Hellberg auf Wikipedia (CC BY-SA 4.0)

Fridays For Future Leipzig: 2. Internationaler Klimastreik am 24. Mai 2019. Bild: Tobias Möritz auf Wikipedia (CC BY-SA 4.0)

2. Januar 2021 || von Dr. Matthias Lehnert, Akademiereferent