Das Mädchen aus der Fremde

In einem Tal bei armen Hirten
Erschien mit jedem jungen Jahr,
Sobald die ersten Lerchen schwirrten,
Ein Mädchen, schön und wunderbar.

Sie war nicht in dem Tal geboren,
Man wußte nicht, woher sie kam,
Und schnell war ihre Spur verloren,
Sobald das Mädchen Abschied nahm.

Beseligend war ihre Nähe,
Und alle Herzen wurden weit,
Doch eine Würde, eine Höhe
Entfernte die Vertraulichkeit.

Sie brachte Blumen mit und Früchte,
Gereift auf einer andern Flur,
In einem andern Sonnenlichte,
In einer glücklichern Natur.

Und teilte jedem eine Gabe,
Dem Früchte, jenem Blumen aus,
Der Jüngling und der Greis am Stabe,
Ein jeder ging beschenkt nach Haus.

Willkommen waren alle Gäste,
Doch nahte sich ein liebend Paar,
Dem reichte sie der Gaben beste,
Der Blumen allerschönste dar.

„Wie herrlich leuchtet mir die Natur“ – so heißt es in Goethes ‚Maifest‘ (1771) und „Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus“ dichtete 1841 Emanuel Geibel. Nicht in jedem Frühlingsgedicht stehen aber allein die Kräfte der Natur im Vordergrund. Friedrich Schiller ist ein Dichter der Menschen –  so etwa der Nationalheroen Frankreichs und der Schweiz, der ‚Jungfrau von Orleans‘ und von ‚Wilhelm Tell‘. Und so kann es nicht verwundern, dass auch der Frühling bei ihm personifiziert wird – entweder jünglingsfrei im Sinne Goethes als „schöner Jüngling“ und „Wonne der Natur“ oder eben als „Mädchen aus der Fremde“ im Jahr 1796.  Die Ballade – nach Goethe das Ur-Ei der Dichtung – enthält Elemente aller drei Großgattungen der Dichtung, also der Dramatik, der Epik und der Lyrik. Und so wird auch Schillers ‚Mädchen aus der Fremde‘ durchaus ein großer Auftritt wie der Hauptfigur eines klassischen Dramas zuteil. Und klassisch ist diese Gestalt schon allein deshalb, weil sie an die antike Naturgöttin Proserpina erinnert, die mit jedem Frühjahr aus der Haft ihres Gatten Pluto in der Unterwelt entlassen wird und auf Erden Blumenduft und Erntezauber verbreiten darf. Gemäß der hellenischen Tradition der Hirtengedichte Anakreons (ca. 770-495 v. Chr.) taucht das ‚Mädchen aus der Fremde‘ mithin alljährlich, wenn die Erde frühlingshaft erwacht, in einem „Tal bei armen Hirten“ auf. Armut und bukolisch-ländliche Idylle scheinen einander in diesem Szenario nicht auszuschließen. In die profane irdische Welt wirkt das fremde Mädchen jedoch als ‚unerhörte Begebenheit‘ „schön und wunderbar“ hinein; erhaben ist ihre „Höhe“ und „Würde“ trotz der beseligenden ‚Vertraulichkeit‘, die von ihr ausgeht. Dass sie Gaben verteilt, die „gereift […] in einem andren Sonnenlichte, in einer glücklichern Natur“ zu sein scheinen, verweist auf den in der Deutschen Klassik wiederbelebten Mythos der hellenisch-mediterranen Landschaft Arkadiens. Und dass die Frühlingskräfte nicht allein pflanzliche, sondern auch menschliche Triebe beleben, erweist sich, wenn das Mädchen jedem „liebend Paar“ der „Blumen allerschönste“ darbringt. Menschen, ihre Ideale wie ihre Empfindungen, stehen stets im Fokus der Dichtkunst Friedrich Schillers. Ebendies ist mit dem Begriff des Klassischen Humanismus gemeint.

PD Dr. Rolf Füllmann, Universität zu Köln

PD Dr Rolf Füllmann