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Johannes Brahms und die Schweiz – oder die ewige Wiederkehr

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Thun an der Aare, mit dem „Brahms-Quai“ rechts unter den Bäumen (gemeinfrei)

Welches sind die Beweggründe für die zahlreichen Aufenthalte von Brahms in der Schweiz? 1856: Gerade erst zu Besuch bei den Schumanns in Düsseldorf, begleitet er Clara mit ihren Kindern nach Gersau am Vierwaldstättersee. Sie ist mit 37 Jahren bereits Witwe, Brahms 23-jährig. Neun Jahre später taucht er in Basel auf, als Ehrengast bei einem Bach-Konzert (Matthäus-Passion) und privat im Hause des Bankiers und Musikfreundes Friedrich Riggenbach. Einige Monate später spielt er hier und anschließend in Zürich seine eigenen Werke. Im Sommer 1868 reist er mit seinem Vater ins Berner Oberland, wo er einen Ohrwurm aufschnappt: das abendliche Spiel des Alphorns, was am Schluss seiner 2. Symphonie als Horn-Solo wiederauftauchen wird.

1874 dirigiert Brahms seine Werke in Basel und Zürich, verbleibt dann eine gewisse Zeit in Rüschlikon am See, wo er viel Vokalwerke schreibt, unter anderem zu Gedichten seines Freundes Gottfried Keller. Im Dezember 1881 erlebt ihn Basel und Zürich als Solisten seines 2. Klavierkonzerts und als Dirigenten der 2. Symphonie.

Dank vieler Kontakte mit Schweizer Persönlichkeiten aus Kultur und Politik (Brahms ist ein unermüdlicher Briefschreiber) wird das Land für ihn mehr und mehr zu einem Stützpunkt. Und eines Tages empfiehlt ihm sein Berner Freund Josef Viktor Widmann (Politiker, Dichter, Redaktor, Theologe) das nahe gelegene Städtchen Thun, eine Ferien-Idylle am Thuner-See.

1886 – Erster Aufenthalt am Thuner-See

(Sonate Nr. 2 für Violine – Sonate Nr. 2 für Cello – Klaviertrio Nr. 3)

Dieser erste Aufenthalt in Hofstetten, einem kleinen Ort am Rande von Thun, dort wo der See sich verjüngt und in die Aare übergeht, wird für den Komponisten eine äußerst fruchtbare Zeit. Kaum angereist zeigt Brahms seine helle Begeisterung beim Anblick des Bergpanoramas, ganz abgesehen vom Glück, eine für seine Pläne ideale Wohnung gefunden zu haben. Er mietet die erste Etage eines Krämerladens, ganz nah am Ufer. Einem Freund schreibt er: „Hofstetten bei Thun, da sitze ich heute früh in einer ganz reizenden Wohnung, direkt hinter dem Hotel Bellevue…“ (Brief vom 28. Mai).

Vom Haus aus mit Garten (es wird 1932 einem Straßenbau weichen müssen) überblickt er gegen Süden die Weite des Thunersees, darüber die mächtigen Berge – und gegenüber die kleine Insel, wo sich 1802 Heinrich von Kleist aufgehalten hatte (heute „Kleist-Inseli“).

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Hofstetten b.Thun um 1900 – Blick gegen Norden (gemeinfrei)

Das momentane Glück des 53-Jährigen zeigt sich in seiner ersten Thuner-Komposition, der Sonate Nr. 2 f-moll für Cello und Klavier op. 99: Schon bei den ersten Takten greift der Cellobogen schwungvoll in die Saiten und vollführt Sprünge der Begeisterung (klingt wie eine „In-Besitz-Nahme“ der Umgebung), während das Klavier die freudige Erregung mit rauschenden Tremoli unterstützt, bevor es selber das Thema vollgriffig übernimmt und dem Cello den Tremolo-Teppich überlässt. Die Emotionalität des Stücks zeigt sowohl die Freude des „so schönen Augenblicks“ als auch die Leidenschaft für die Altistin Hermine Spies, die ihm ihre Reise nach Thun angekündigt hat. Brahms hat zwar verschiedentlich seinen Unwillen bekundet, sich zu verheiraten. Er sei nicht geeignet für eine häusliche Zweisamkeit, auch würde er sich vor einer Frau schämen, nach einer misslungenen Uraufführung nachhause zu kommen, und überdies sei er als Solist und Dirigent ständig auf Reisen. Was ihm bleibt: eine innige, platonische Beziehung zu Clara Schumann.

Im adagio affettuoso der Cellosonate erklingt ein lyrisch-nostalgischer Gesang, ein Moment des Innehaltens, während im anschließenden allgro appassionato ein kaum verständliches Raunen durch den Saal zieht, ein stürmisches 6/8 – Rennen rund um die Dominante, ein von verschiedenen Emotionen getriebenes Scherzo. Ganz anders der Finalsatz allegro molto: Das Cello hebt an zu einem jubilierenden Gesang, einem Alleluja als krönenden Abschluss dieses leidenschaftlichen Werks. Brahms widmet es seinem Freund Robert Hausmann, dem deutschen Cellisten des Joachim-Quartetts, der früher schon seine erste Cellosonate in e-moll uraufgeführt hat. Persönlich hat er ihn allerdings erst im Jahr zuvor kennengelernt.

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Brahms um 1885 (gemeinfrei)       

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Cellosonate 2: erster und vierter Satz  (gemeinfrei)

In Hofstetten wird nicht pausenlos komponiert. Brahms ist bekannt als Frühaufsteher. Nach dem genüsslichen Kaffee-Ritual freut er sich an der frischen Morgenluft am Aare-Ufer. Ebenso häufig trifft man ihn im nahegelegenen „Biergarten“ und sonntags oft als Zuschauer bei den Laien-Aufführungen der „Fledermaus“ von Johann Strauss. Oft ist Brahms sonntags auch zu Besuch bei den Widmanns in Bern, wo er intensive Debatten anregt und sich viele Bücher für die Woche ausleiht. Wenn ihn andererseits die Familie in Thun besucht leistet er sich den Spaß, mit den Kindern herumzualbern, sodass sich die Leute auf der Strasse nach dem drolligen Mann aus Hamburg umdrehen. Mit Widmann besteigt er gemeinsam den Niesen über dem See oder wandert nach Mürren. Bei Spaziergängen dem Seeufer entlang ärgert er sich allerdings über die vielen Radfahrer, die dem neuen Radsport frönen.

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Ferdinand Hodler, Niesen 1910 (gemeinfrei)

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Ferdinand Hodler, Thuner-See 1910 (gemeinfrei)

In Erwartung der Ankunft von Hermine Spies komponiert er die Sonate Nr. 2 für Violine op. 100, genannt „Thuner-Sonate“ oder auch „Liebes-Sonate“. Mit dem allegro amabile gibt er gleich zu Beginn Einblicke in seinen emotionalen Schwebezustand: Auf die vom Klavier vorgetragene Kantilene antwortet die Violine mit dem leisen Echo des letzten Fragments (hat Brahms wohl die abendlichen Rufe der Alphirten und ihr Echo auf Bergwanderungen gehört?). Noch im ersten Satz zitiert er sein eigens für die Spies komponiertes Lied: „Wie Melodien zieht es mir leise durch den Sinn, wie Frühlingsblumen blüht es und schwebt wie Duft dahin.“ Die fast süßliche Melodie zu diesem Text wird später viele Bearbeitungen erfahren, allesamt unter dem Titel „Contemplation“.

Im andante tranquillo rivalisiert ein bescheidenes F-Dur-Thema mit einem Volkstanz im Dreiviertel-Takt, der den Satz dreimal unterbricht: vielleicht das Echo eines in der Gegend gehörten Ländlers? Oder eher ein nordisches Stück, wie einige Kommentare behaupten? Mit dem Schlusssatz allegretto grazioso legt uns Brahms eine Alt-Arie hin, eine sehr lange, dunkle, fast nächtliche Stimme (jener der Spies?), wobei das Alt-Timbre mit dem Spiel auf der tiefen G-Saite (bis hinauf zum cis) noch verdeutlicht wird:

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Man blickt in die Abenddämmerung über dem See, die Atmosphäre entspricht einer Wohlfühl-Melancholie. Minna Spies, Hermines Schwester, reist mit ihr und hält in ihren Aufzeichnungen fest: „Die Nachmittagssonne stand vor ihrem Untergange und strahlte golden über die Wasser und durch die geöffneten Fenster zu uns herein (…) Hermine sang dazu.“ (gemeint das obgenannte Lied).

Brahms wird Thun nicht verlassen ohne noch ein Stück zu liefern, das sein Pianisten-Potential voll ausschöpft. So entsteht sein 3. Klaviertrio c-moll op. 101 gleich nach der Abreise der Sängerin.

Die ersten Takte beginnen vollgriffig: Der Pianist (Brahms) lässt seine Klavier-Pranken auf die Tasten niedersausen, die Streicher leiten über zu einem scharf punktierten Rhythmus und das Ganze strotzt vor Energie. J.V. Widmann beschreibt Brahms als Solisten in einem Konzert: „…die ganze Erscheinung war gleichsam in Kraft getaucht. Die löwenhaft breite Brust, die herculischen Schultern, das mächtige Haupt, das der Spielende manchmal mit energischem Ruck zurückwarf, (…) die wie von innerer Erleuchtung glänzende Stirn und die zwischen den blonden Wimpern ein wunderbares Feuer versprühenden germanischen Augen…“ (aus seinen Erinnerungen)

Allegro-Johannes Brahms-Mehr im Blog der Akademie

Die anfängliche Klanggewalt weicht schon bald einem sanft gleitenden Walzer nach Wiener Art (Brahms wohnt in Wien seit 1862) im Unisono der Streicher. Zum presto non assai meint Widmanns Tochter als Hörerin, es sei wie ein „schattenhaftes Flattern“: der nervöse Satz mit seinen Tonleiter-Kaskaden, den Arpeggien und Pizzicati wirkt wie ein vorbeiziehender Vogelschwarm. Im andante grazioso klingen leichtfüssige Salon-Töne an, bevor uns der Schlusssatz in die Welt der in Wien zu hörenden Zigeunerweisen entführt: die synkopierten 6/8-Figuren laufen auf eine Art Csárdás hinaus.

Das c-moll-Trio gilt als eines der persönlichsten und gelungensten Werke von Brahms. J.V. Widmann sieht hier die zwei Seiten seiner Persönlichkeit: den etwas rabautzigen Brahms und einen jovialen, zu Späßen aufgelegten Brahms: nach seiner Einschätzung – als enger Freund – der Einfluss der Nietzsche-Lektüre (Nietzsche weilt übrigens im gleichen Sommer in Sils-Maria). Brahms borgt sich bei Widmann im Wochen-Rhythmus philosophische Bücher aus.

Eine andere Freundin, Elisabet von Herzogenberg in Heiden, meint nach der Lektüre der Partitur: „Es ist besser als alle Photos – im Grunde das wahre Portrait.“ Und Clara Schumann: „Kein anderes Werk von Johannes hat mich so sehr begeistert.“. Wirklich ein Portrait? Nach Widmanns Vorstellung ein Gegensatz, wie er in den beiden Bildern Ferdinand Hodlers (s. oben) suggeriert wird.

Inwiefern nun der „Genius Loci“ sich in der nächsten Komposition, der 3. Sonate d-moll für Violine und Klavier op. 108 niederschlägt, könnte sich allenfalls anhand des ersten Satzes zeigen (die anderen Teile werden erst später entstehen). Das Eingangs-allegro hat nichts Hektisches, im Gegenteil: Alles fließt ruhig dahin, der Gesang der Violine wird getragen von einer nie endenden Linie von gebrochenen Intervallen im Klavier, eine lange Arabeske, die bald schon auch die Violine übernimmt. Noch deutlicher zeigt sich das Fließende dort wo beide Instrumente wie eine Art Girlande um den Orgelpunkt (a) kreisen, wie eine entfernte Huldigung an Bach (z.B. seine Chaconne d-moll oder die d-moll Orgel-Toccata):

Violinsonate-Johannes Brahms-Mehr im Blog der Akademie

Mittelteil 1. Satz Violinsonate d-moll (gemeinfrei)

Könnte der Blick auf den See-Ausfluss in die Aare vor dem Haus den Komponisten zu solch „fliessender“ Musik inspiriert haben?

1887/1888 – 2. und 3. Aufenthalt in Thun

(Doppelkonzert op. 102)

In den zwei folgenden Jahren wird Brahms den Thunern erneut seine Aufwartung machen. Kaum eingetroffen, verspürt er angesichts der prächtigen Bergkulisse den Drang, hier etwas Großes zu schaffen, wenn auch nicht eine „Alpensymphonie“, so doch ein groß dimensioniertes Orchesterwerk. Sein Freund Robert Hausmann hatte ihn schon mal um ein Cellokonzert gebeten, doch Brahms zögerte, denn David Popper (der „Paganini“ des Cellos zu jener Zeit) hatte ihm davon abgeraten: Cellokonzerte hätten kaum Erfolg (Ausnahmen: Schumann, Dvorak, Saint-Saëns). So wendet er sich brieflich an Joseph Joachim, für den er früher sein Violinkonzert op. 77 geschrieben hat, mit den Worten: „…mache Dich auf einen kleinen Schreck gefasst! Ich konnte derzeit den Einfällen zu einem Konzert für Violine und Violoncello nicht widerstehen, so sehr ich es mir auch immer wieder auszureden versuchte. (…) Vor allem aber bitte ich in aller Herzlichkeit, dass Du Dich nicht im geringsten genierst. Wenn Du mir eine Karte schickst, auf der einfach steht: ‚ich verzichte‘, so weiss ich mir selbst alles Weitere und genug zu sagen…“ Joachim lenkt ein, das Doppelkonzert wird noch im selben Jahr in Baden-Baden und in Köln mit Joachim und Hausmann aufgeführt werden, mit Brahms am Pult.

Wie auch in Beethovens Tripelkonzert spielt hier das Cello die Hauptrolle: Eine überaus kraftvolle Eingangskadenz setzt gleich ein Monument vor das Orchester, ein Berg voller Schroffheiten (s. Hodler). Mit dem Orchester-Tutti baut sich das mächtige Panorama erst recht auf. Im andante aber gleitet die Musik über den Unisonogesang der beiden Solisten in eine Traumlandschaft, bevor sich der Cellist ein Herz fasst und das vivace mit seinem marschartigen Tanz-Thema einleitet, ein weiterer Rückgriff auf ungarische Zigeunerweisen aus Brahms‘ Wiener Alltag:

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Doppelkonzert Schlusssatz  Cello-Solo (gemeinfrei)

Brahms verlässt Thun in Richtung Baden-Baden, dem Wohnort von Clara Schumann. Sein Freund Widmann beschreibt ihn in einem Brief: „An diesem grossen Menschen ist nicht nur der Genius des künstlerischen Könnens herrlich, sondern auch der treue Charakter, der nicht eine Faser von Unlauterkeit duldet. Daher auch diese kindliche Heiterkeit bei so ernstem Schaffen.“

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Die drei Grazien an jener Stelle, wo sich Brahms‘ Mietwohnung befand, mit Blick zum Niesen, gegen Süden (gemeinfrei)

Quellen:

  • Max Kalbeck, Johannes Brahms. Biographie in 4 Bänden, Wien 1914, Hamburg 2013
  • Joseph Viktor Widmann, Johannes Brahms in Erinnerungen, Berlin 1898
  • Sibylle Ehrismann (hrsg.), Hoch aufm Berg, tief im Thal …, die schweizer Inspiration von Johannes Brahms, Zürich 1997
  • Brigitte François-Sappey, Johannes Brahms – Chemins vers l’absolu, Paris 2018
  • Berner Lokalpresse

Musikempfehlungen (Youtube-Aufnahmen):

  • Cellosonate 2 f-moll op. 99: J. Du Pré + D. Barenboim (historisch)
  • Violinsonate 2 A-Dur op. 100: D. Oistrakh + S. Richter (historisch)
  • Klaviertrio 3 c-moll op. 101: L. Lugansky + L. Kavakos + G. Capuçon (2016)
  • Violinsonate 3 c-moll op. 108: P. Kopatchinsjaka + F. Say (2011)
  • Doppelkonzert a-moll op. 102: A-S. Mutter + M. Hornung + M. Jansons (2016 od. 2017)

7. Juli 2022 || ein Beitrag von Josef Zemp, Studium der Romanistik und Musikologie in der Westschweiz und in Frankreich (Doktorat). Parallel dazu Berufsausbildung am Konservatorium (Cello und Klavier) – Cello-Diplom.

Geboren in einer Familie von Amateur-Musikern. Volksmusikforschung in Madagaskar, danach Unterricht am Gymnasium (französische Sprache und Literatur, Musik). Leitung von Weiterbildungskursen für Gymnasiallehrer. Publikationen in Feuilletons und Zeitschriften zur französischen Literatur. Vortragsreihen an Volkshochschulen zu Literatur und Musikgeschichte.