Eine Buchempfehlung von Franz Meurer

Buchempfehlung von Franz Meurer

 

Zu Fuß durch ein nervöses Land
Auf der Suche nach dem, was uns zusammenhält
Jürgen Wiebicke
2016, Kiepenheuer & Witsch

Sommerwetter: Zeit zum Wandern und für Schützenfeste.

Jürgen Wiebicke ist einen Monat lang gewandert. Von Köln an den Niederrhein und nach Münster, dann durchs Sauerland nach Paderborn. Das Buch darüber hat den Titel „Zu Fuß durch ein nervöses Land“. Jürgen Wiebicke ist vor allen bekannt als Moderator bei WDR5. Auf seiner Wanderung mach Wiebicke, was er auch jeden Freitag in seiner Sendung „Das Philosophische Radio“ macht: er versucht herauszufinden, was die Menschen zusammenhält, was Gemeinschaft, Solidarität befördert. Bald schon kommt er in Dormagen an. Hier erfährt er, dass das Schützenfest das soziale Klima in der Stadt um zwei Grad erwärme. Fast schon Klimawandel in der Provinz.

Es geht Jürgen Wiebicke nicht um Selbsterfahrung, nicht um Körperertüchtigung oder mentales Training. Durch die Entschleunigung des Fußgängers schärft sich seine Wahrnehmung. Er bekommt mit und teilt mit, was die Menschen zusammenführt und zusammenhält. Und dazu gehört auch das Schützenfest. Wer das nur vom Treiben im Bierzelt her betrachtet, mag das belächeln. Aber der Zusammenhalt in so einem Verein ist enorm wichtig für den Zusammenhalt im Großen.

Besonders spannend finde ich Wiebickes Besuch bei einem mittelständischen Familienunternehmer. Die Firma ist Zulieferer für die Autoindustrie. Wiebicke erfährt, wie schwer es ist, das Unternehmen zu halten, weil der Preisdruck immens ist. Durch die Finanzkrise kam die Firma nur, weil alle zusammenhielten, Arbeiternehmer wie Arbeitgeber. Der Unternehmer imponiert mir sehr. Es geht ihm offensichtlich nicht um persönliche Gewinnmaximierung, sondern um das Wohl der vielen Familien, die von der Arbeit in der Firma leben. Rheinischer Kapitalismus in seiner besten Art. Jürgen Wiebicke trifft Bauern, Millionäre, Sporttreibende, Yoga-Begeisterte oder den Leiter eines Flüchtlingsheims. Allen ist gemeinsam, dass sie sich für das Gemeinsame interessieren und engagieren. Natürlich mehr oder weniger – aber immerhin.

Es ist also ein durch und durch positiv gestimmtes Buch. Obwohl es – eben zu Fuß – langsam vorangeht, ist es spannend zu lesen, weil wir Leserinnen und Leser ja mitlaufen und hinter jeder Kreuzung neue Menschen erleben. Das Buch eignet sich also auch fürs langsame Lesen nach und nach. Ich habe es allerdings nachts in einem Zug gelesen, weil ich ungeduldig war und wissen wollte, wie es weiter geht. Wiebicke ist Agnostiker, glaubt also nicht an die Existenz Gottes. Als er im Marienwallfahrtsort Kevelaer eine Prozession begleitet, kommen ihm die Tränen. Er spürt den Zusammenhalt der Pilger und schämt sich nicht für seine Emotion. Das ist für mich die geistige Unabhängigkeit eines Philosophen.

Hoffentlich wandert er noch einmal!

Anlässlich der Frankfurter Buchmesse (20. bis 24. Oktober 2021) haben wir uns im Redaktionsteam über die Bücher ausgetauscht, die wir gerade lesen und/oder empfehlen können. Für uns ist Lesen eine der schönsten Beschäftigungen, auch – oder vor allem gerade – im digitalen Zeitalter. Die Lektüre eines Romans am Feierabend wirkt entschleunigend und entspannend.
Außerdem geben uns die Geschichten Einblick in das Leben anderer. Wir schauen über unseren Tellerrand, die Menschen fremder Länder, anderer sozialer Schichten oder divergierender Einstellungen kommen uns näher. Das entfaltet unser Verständnis füreinander.

Daraus ist die Idee entstanden, Personen, die mit der Akademie verbunden sind, nach einer Buchempfehlung für unseren Blog „Akademie in den Häusern“ zu fragen. Zusammengekommen sind 14 besondere Beiträge: Romane, Biografien und Kochbücher, Klassiker und neu erschienene Werke, die wir Ihnen in den nächsten zwei Wochen in unserem Blog vorstellen.

Wir wünschen Ihnen eine inspirierende Lektüre.

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15. Oktober 2021 || eine Buchempfehlung von Pfarrer Franz Meurer

Franz Meurer ist Pfarrer der katholischen Kirchengemeinde St. Theodor und St. Elisabeth in Vingst und Höhenberg.