An die Nachgeborenen - Bertold Brecht - Mehr im Blog der Akademie

EIN GEDICHT ZU ALLERHEILIGEN

Das Gedicht von Bertolt Brecht, das Brecht zwischen 1934 und 1938 im dänischen Exil geschrieben hat, ist eines der wichtigsten Texte der deutschen Exilliteratur.

In einer Zeit, in der unfassbar viele Menschen im Exil leben,

an dem christlichen Festtag Allerheiligen, an dem die Westkirche der Heiligen gedenkt, die nachweislich vorbildlich gelebt haben und Gott in besonderer Weise nahe sind,

in einer Gesellschaft, die mehr denn je nach Orientierung und Wurzeln zu suchen scheint,

klingt das Gedicht nach, bleibt es in seiner Botschaft klar, beschreibt es Verhältnisse, bittet um Verständnis, zeichnet nach, wie sich Menschen verändern in hasserfüllten Verhältnissen, bittet um Nachsicht, eröffnet die Hoffnung, dass es ein „wenn es so weit sein wird“ gibt.

Bertolt Brecht schreibt als Exildichter über seine aktuellen Verhältnisse und zudem über Vergangenheit und Zukunft, in die er die Botschaft „an die Nachgeborenen“ richtet. Dieses Gedicht ist eines der wenigen, die Bertolt Brecht selbst liest.

Ich lese Bertolt Brecht, der sich eine sozialistische Gesellschaft wünschte, die ohne Gott auskommt, als Christin. Ich lese seine Texte und Gedichte und spüre, dass sie für mich Raum lassen für Gottvertrauen und die „Hoffnung jenseits aller irdischer Hoffnung“ – und nicht nur deshalb meine ich, dass das Gedicht zum heutigen Tag passt.

Ich wünsche allen einen guten ALLERHEILIGEN Tag.

An die Nachgeborenen

I

Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn

Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende

Hat die furchtbare Nachricht

Nur noch nicht empfangen.

Was sind das für Zeiten, wo

Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist.

Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!

Der dort ruhig über die Straße geht

Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde

Die in Not sind?

Es ist wahr: ich verdiene noch meinen Unterhalt

Aber glaubt mir: das ist nur ein Zufall. Nichts

Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich sattzuessen.

Zufällig bin ich verschont. (Wenn mein Glück aussetzt, bin ich verloren.)

Man sagt mir: iß und trink du! Sei froh, daß du hast!

Aber wie kann ich essen und trinken, wenn

Ich dem Hungernden entreiße, was ich esse, und

Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt?

Und doch esse und trinke ich.

Ich wäre gerne auch weise.

In den alten Büchern steht, was weise ist:

Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit

Ohne Furcht verbringen.

Auch ohne Gewalt auskommen,

Böses mit Gutem vergelten

Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen,

Gilt für weise.

Alles das kann ich nicht:

Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

II

In die Städte kam ich zur Zeit der Unordnung

Als da Hunger herrschte.

Unter die Menschen kam ich zur Zeit des Aufruhrs

Und ich empörte mich mit ihnen.

So verging meine Zeit,

Die auf Erden mir gegeben war.

Mein Essen aß ich zwischen den Schlachten.

Schlafen legte ich mich unter die Mörder.

Der Liebe pflegte ich achtlos

Und die Natur sah ich ohne Geduld.

So verging meine Zeit,

Die auf Erden mir gegeben war.

Die Straßen führten in den Sumpf zu meiner Zeit.

Die Sprache verriet mich dem Schlächter.

Ich vermochte nur wenig. Aber die Herrschenden

Saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich.

So verging meine Zeit,

Die auf Erden mir gegeben war.

Die Kräfte waren gering. Das Ziel

Lag in großer Ferne

Es war deutlich sichtbar, wenn auch für mich

Kaum zu erreichen.

So verging meine Zeit,

Die auf Erden mir gegeben war.

III

Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut

In der wir untergegangen sind

Gedenkt

Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht

Auch der finsteren Zeit

Der ihr entronnen seid.

Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd

Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt

Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.

Dabei wissen wir doch:

Auch der Haß gegen die Niedrigkeit

verzerrt die Züge.

Auch der Zorn über das Unrecht

Macht die Stimme heiser. Ach, wir

Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit

Konnten selber nicht freundlich sein.

Ihr aber, wenn es so weit sein wird

Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist

Gedenkt unserer

Mit Nachsicht.

Bertolt Brecht

1. November 2023 || ein Beitrag von Karin Dierkes, Akademiereferentin für Theologie und Philosophie