Freiheitsstatur

Bedeutend. Revolutionär. Kontrovers.

Die Bedeutung der Literatur für Politik, Gesellschaft und Minderheitenrechte der USA.
Die Geschichte der USA zeigt eindrücklich, dass sich Bürgerrechte und sozialer Fortschritt nicht automatisch einstellen. Sie wurden – und werden – über lange Zeiträume und gegen zahlreiche Widerstände hart erkämpft. Wichtige Mittel in diesen Auseinandersetzungen sind dabei: Wort, Sprache, Geschichten, Literatur. In Büchern wurde das frühe Selbstverständnis der USA als genuiner Nationalstaat diskutiert. Romane wie Onkel Toms Hütte befeuerten die Abschaffung der Sklaverei. Über die Bedeutung von Literatur und Sprache für die politische Entwicklung der USA sprach Akademiereferentin Julia Steinkamp mit dem Amerikanisten Prof. Dr. Timo Müller.

Vom 22. bis 23. August findet das Seminar „Bedeutend. Revolutionär. Kontrovers. Die Bedeutung der Literatur für Politik, Gesellschaft und Minderheitenrechte der USA“ mit Prof. Dr. Müller in Bensberg statt.

Sehr geehrter Herr Dr. Müller, die USA sind in den letzten Wochen und Monaten zunächst mit Verharmlosung der Corona Epidemie durch Präsident Trump in den Schlagzeilen gewesen und dann einige Wochen später mit Negativrekorden der Infiziertenzahlen aufgefallen. Inwiefern sehen Sie in der medizinischen Not auch eine Krise der Literatur oder ist eine solche Phase viel mehr Anlass zu einem Neudenken und – schreiben der eigenen (nationalen) Identität und Gesellschaft?
Schriftsteller gehören heute ja meist zu den privilegierten Schichten, die sich vor dem Virus ins Home Office zurückziehen können. Insofern könnten die letzten Monate das literarische Schaffen sogar befördert haben. Jede Krise bringt ihre Literatur hervor, und wir dürfen gespannt sein, welche Rolle die Epidemie in neuen Romanen spielen wird. Sie hat schließlich die Wahrnehmung vieler Menschen grundlegend verändert: soziale Beziehungen werden rasant ins Digitale verlegt, der öffentliche Raum und der Kontakt zu anderen Menschen werden als potentiell tödliche Gefahr wahrgenommen. Das könnte nicht nur zum Thema der Literatur werden, sondern auch ganz neue ästhetische Gestaltungsweisen inspirieren, die solche Verschiebungen unserer Wahrnehmung spürbar machen.

In der Akademietagung am 22. und 23. August 2020 beschäftigen wir uns unter anderem auch mit dem Themen Diskriminierung und Rassismus in den Vereinigten Staaten. Bei den Klassikern der amerikanischen Literatur finden sich bislang wenig Schwarze Autor*innen, inwiefern sehen Sie hier einen Wandel und welchen Einfluss hat das auf die amerikanische Gesellschaft und das Narrativ der amerikanischen Identität?
In der Literaturwissenschaft hat sich das schon in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Viele afroamerikanische Schriftsteller sind Bestandteil des Kanons geworden und erhalten sogar mehr Aufmerksamkeit als die meisten weißen Autoren. Manche dieser neuen Klassiker sind inzwischen auch in deutscher Übersetzung erhältlich, zum Beispiel William Melvin Kelley bei Hoffman und Campe oder James Baldwin im DTV. Dieser rasante Wandel zeigt einmal mehr, wie stark das kulturelle Selbstempfinden von der Literatur und auch der Literaturgeschichtsschreibung beeinflusst wird. Baldwin gilt zum Beispiel als Ikone der „Black Lives Matter“-Bewegung, obwohl seine bedeutendsten Werke um die 50 Jahre alt sind. Warum das so ist und welche neueren Autoren in seiner Tradition stehen, werden wir bei der Akademietagung herausfinden.

Im Zuge der Anti-Rassismus Proteste wurde in Deutschland vielfach gefordert sich mit der Kolonialen Vergangenheit (Deutschlands) auseinander zu setzen und in dem Zuge auch die Debatte um Koloniales Erbe in Form von Stauen, Straßennamen oder Bahn-Haltestellen geführt. Wie gehen Sie mit dem Thema in der Literatur und bei Autor*innen um?
In der Literaturwissenschaft sind diese revisionistischen Bestrebungen sehr stark ausgeprägt. Die Grundfrage ist dieselbe wie in der öffentlichen Debatte: wo verläuft die Grenze zwischen Aufarbeitung und Auslöschung der Vergangenheit? Gerade in der amerikanischen Literatur ist das eine sehr kontroverse Frage, weil der Rassismus in den USA lange so breit akzeptiert war, dass fast alle kanonischen Schriftsteller sich nach heutigen Standards rassistisch geäußert haben. Man kann sie nicht einfach aus der Literaturgeschichte herausschreiben, sondern muss sich kritisch mit ihnen auseinandersetzen. Im Idealfall führt das zu einem vertieften, komplexeren Verständnis ihres Schaffens und ihrer Wirkung.

Inwiefern ist die Literatur heute ein Instrument des Fortschritts? Inwiefern formt die Literatur und die in ihr geäußerte Kritik die Politik und fordert sie heraus? Ein Beispiel wäre vielleicht „The Jungle“ von Upton Sinclair aus dem Jahr 1905, der die Missstände und Ausbeutung in den Fabriken und Schlachthäusern darstellt und mit der Veröffentlichung einen Skandal auslöste, der schließlich auch Gesetzesänderungen nach sich zog. Sehen Sie hier aktuelle Beispiele?
Heute steht die Literatur ja in Konkurrenz zu anderen Massenmedien wie Film, Fernsehen und Internet. Direkte politische Wirkung wird eher diesen neuen Medien zugeschrieben. Fundamentale Veränderungen kündigen sich aber oft zuerst in der Literatur an, die eine viel längere Halbwertzeit und damit einen länger anhaltenden Einfluss hat. James Baldwins Roman „Beale Street Blues“ (1974) liest sich zum Beispiel wie eine aktuelle Kritik an der Polizeigewalt gegen Schwarze – sicher ein Grund, warum er gerade auf Deutsch erschienen ist und mit Starbesetzung verfilmt wurde. Ein anderes Beispiel ist die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood, die wir ebenfalls bei der Akademietagung besprechen werden. Ihre Romane haben schon vor Jahrzehnten Vorstellungen von Gleichstellung und Umweltschutz eingeführt, die inzwischen die politische Debatte bestimmen.

Lieber Herr Dr. Müller, vielen herzlichen Dank für das Interview!

23. Juli 2020 || ein Interview von Julia Steinkamp, Akademiereferentin

Dr. Timo Müller, Professor für Amerikanistik an der Universität Konstanz