Auf ein Wort mit… Prof. Dr. Helmut Zander
Prof. Dr. Helmut Zander ist Religionswissenschaftler, Sozialwissenschaftler, Historiker und römisch-katholischer Theologe. Nach einem Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und katholischen Theologie, Promotionen in Politikwissenschaft und Theologie, Habilitation im Fach Wissenschaftsgeschichte ist er seit 2011 Inhaber der Professur für Vergleichende Religionsgeschichte und Interreligiösen Dialog an der Universität Freiburg in der Schweiz.
Lieber Herr Professor Zander, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit Religionsgeschichte, Anthroposophie sowie Esoterik und dabei auch mit gegenwärtigen (inter-)religiösen Phänomenen. In dieses Feld gehört auch die Beobachtung und Untersuchung der Verschwörungserzählungen, die die Bemühungen der Bundesregierung und der Landesregierungen in Frage stellen und dabei die Erkenntnisse wissenschaftlicher Forschung durch Epidemiologen und Virologen grundlegend ablehnen. Woher kommen solche Verschwörungserzählungen?
Aus dem ganz normalen Leben. Das klingt nach Abwiegeln und Verharmlosen, und das ist auch so – doch genau hier liegt ein erster Ansatzpunkt, auch gröberen Unfug zu verstehen. Denn Verschwörungserzähler sind im Prinzip wie wir alle: Wir sehen uns einer schwer durchschaubaren und immer komplexer werdenden Wirklichkeit gegenüber, das ist der Ausgangspunkt. Schritt zwei: Wir wollen alle begreifen, wie die Welt „wirklich“ funktioniert. Aber wer denn, in aller Freundschaft, kann behaupten, dass sie/er durchschaue, wie der Moskauer Geheimdienst amerikanische Wahlen beeinflusst und wie Google ausrechnet, welche Wahlpräferenz ich habe und ob ich ein Werbeopfer bin, welches bald einen karierten Schal kauft? Und wir alle haben darauf – Schritt drei – einfache Antworten: großrussische Staatstrojaner nisten sich bei der Demokratischen Partei ein, Cambridge Analytics rechnet die Farbe meiner Lieblingspartei aus und Google wird schon irgendeinen Algorithmus haben, mit dem man mir einen Versandhandel für schottische Schals auf einen Banner packt. Will sagen: Wir – und zwar wir alle – haben auf eine extrem komplizierte Wirklichkeit extrem einfache Antworten. Verschwörungserzählerinnen sind wie wir: Sie schauen genau hin und versuchen, in einer wild unübersichtlichen Welt den Überblick zu behalten.
Und jetzt fehlt nur noch ein kleines Aber – vierter und letzter Schritt: Verschwörungsfreunde sprechen mit wenigen, zu wenigen Menschen über ihre Lösung, sie bunkern sich in ihrer Bubble ein. Die mühsam gewonnene Sicherheit soll nicht infrage gestellt werden, sie lassen kritische Fragen nicht mehr an sich heran. Erst mit diesem letzten Schritt verlassen sie den Weg der Mehrheitsgesellschaft. Dieser Schritt ist homöopathisch klein, aber in seiner Wirkung fatal groß.
Welche Rahmenbedingungen befördern diese Verschwörungserzählungen, die von manchen auch als „Mythen“ oder gar „Theorien“ bezeichnet werden?
Meine Antwort ist misslich: Ich befürchte, dass neben den gerade genannten und anderen bekannten Faktoren (überkomplexe Realität, kommunikative Isolation, Identitätsbildung durch Gruppenkonformität …) ein Kronjuwel demokratischer Gesellschaften eine Rolle spielt: Bildung. Bildung soll selbständig machen, wir halten Kinder an, Fragen zu stellen, kreative Lösungen werden prämiert, und überhaupt: kritisches Denken steht ganz oben auf der Wertehierarchie. Verschwörungsliebhaber fangen oft mit dem letzten Punkt an: Sie sind kritisch gegenüber „der Lügenpresse“ (wer hätte gedacht, dass wir dieses nationalsozialistische Kampfvokabular gut 60 Jahre später im Bundestag hören würden?) und machen sich ihre eigenen Gedanken. Leider – siehe oben – ohne eine ausreichende Lust an der Debatte, ohne eine genügende Bereitschaft, ein Gegenargument an sich heranzulassen. Und weil unsere Gegenwart komplex ist, gilt wohl auch das Gegenteil: Fehlende Bildung, am ehesten Halbbildung, dürfte die Bereitschaft fördern, Dinge zu glauben, die sich durch misstrauisches Nachdenken und Streitlust in Schall und Rauch auflösen ließen.
Gibt es ein bestimmtes gesellschaftliches Umfeld, das dies fördert? Welche Rolle spielt dabei die Religion?
Ich fürchte, jedes Umfeld schafft sich seine eigene Verschwörung, jede Form von Religion ihre eigenen Fluchtwege, der Realität zu entkommen. Von dieser Option ist im Prinzip niemand ausgenommen: Katholiken nicht, Protestanten nicht, muslimische Sufis nicht, buddhistische Nonnen nicht. Aber Sie haben eingangs auf die Anthroposophen verwiesen, von denen in der Tat augenblicklich ein Segment zu großer Form in Sachen Verschwörung aufläuft. Warum also sind manche Waldorfschulen ein Nest von Verschwörungsgläubigen geworden, woher die Beteiligung von Anthroposophen an Pegida-Demonstrationen mit ihren krausen politischen Vorstellungen, welchen Reim kann man sich auf die Verbindung von Impfverweigerung und medizinischer Verschwörung machen?
Meine Antwort macht deutlich, wie gruppenspezifisch die Verschwörungsmythen sind. Es gibt hier zumindest drei ineinandergreifende Eigenheiten der Anthroposophie. Erstens gehört die Vorstellung von geheimen, okkulten Mächten zur anthroposophischen DNA: Mysterienkulte, Freimaurertraditionen, geheime Initiation, all das ist anthroposophisches Tagesgeschäft, zumindest für den harten Kern der anthroposophisch Überzeugten. Von hier aus ist der Schritt, an andere Strippenzieher hinter den Kulissen und ergo an Verschwörung zu glauben, nicht weit. Zweitens Rudolf Steiner, der Spiritus rector der Anthroposophie. Und dieser Steiner war impfskeptisch, schloss 1914 seine Esoterische Schule aus Angst vor freimaurischen Verschwörungen und war in Sachen Demokratie der Meinung, dass eine Elite mit einem Wissen von „jenseits der Schwelle“, also aus einer höheren Welt, die Politik bestimmen solle. All das klingt vielleicht weit weg oder nach einer böswilligen Sammlung von Ausrutschern, aber dem ist nicht so. In konservativen anthroposophischen Kreisen diskutiert man diese Dinge ausgesprochen munter und landet dann eben gerne bei Verschwörungsgeschichten. Drittens: Anthroposophie ist bildungsorientiert, und jetzt werden Sie, lieber Herr Würbel, das Argument schon ahnen. Anthroposophen nutzen ihre Bildung, um ihre Verschwörungsvorstellungen zu untermauern. Und mehr noch: Anthroposophen haben verinnerlicht, dass sie eigenständig denken sollen und dass die dabei erlangte „höhere Erkenntnis“, die Steiner versprochen hatte, immer wieder auf Widerspruch stoßen werde. Wer ein anthroposophisches Selbstbewusstsein hat, hält die ahnungslose Infragestellung tiefster und höchster Hintergründe durch eine uneingeweihte Welt, die keine okkulten Mächte wahrhaben will, leicht aus.
Klar muss sein: Dies gilt nicht für alle Anthroposophen. Liberale Anthroposophen schauen mit einer gewissen Verzweiflung auf diesen leichtfüßigen Transfer von esoterischen Überzeugungen in gesellschaftliches Handeln. Aber wahr ist auch: Man muss in der Anthroposophie keine Schwelle überschreiten, um vom Mythos okkulter Mächte zum Verschwörungsglauben zu gelangen.
Auf welche Weise kann mit Vertreterinnen und Vertretern der Querdenker-Szene argumentiert werden? Welche Gegenargumente können hier hilfreich sein? Oder ist eine Diskussion und Auseinandersetzung kaum möglich?
Ehrlich gesagt, komme ich selten in Auseinandersetzungen mit Verschwörungsfans. Aber ich würde folgendermaßen vorgehen: Ich würde versuchen, solche Menschen zu verstehen, würde begreifen wollen, warum für sie etwas plausibel ist, was ich für einen schlecht gemachten Science-fiction-Roman halte. Dabei müsste deutlich werden, dass man sie als Menschen wertschätzt, auch wenn man ihre Vorstellungen für wolkig hält. Und dann gibt es zwei Wege: Wenn ein wenig Vertrauen gewachsen ist, könnte es sein, dass sie sich darauf einlassen, mit mir ihre Argumente zu Ende zu denken, also ihre eigenen Verschwörungstheorien radikal ernst zu nehmen. Das sollte dann in einer Implosion des Unsinns enden. Die Alternative, der zweite Weg, heißt Konfrontation, heißt Angriff mit dem Gegenargument – und wird von der Hoffnung getragen, dass der Herr Hirn und Vernunft vom Himmel werfe (ja, ja, natürlich meine Vernunft …).
Lieber Prof. Zander, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!
Das Interview führte Andreas Würbel, Akademiereferent.
Einmal im Monat erscheint „Auf ein Wort mit…“ und stellt interessante und engagierte Personen vor, mit denen die Akademie auf unterschiedliche Weise verbunden ist. Gesprochen wird über Gott und die Welt, über Kunst und Kultur, über Aktuelles aus Gesellschaft und Kirche ….
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7. August 2021 || ein Gespräch mit Prof. Dr. Helmut Zander, Religionswissenschaftler, Sozialwissenschaftler, Historiker und römisch-katholischer Theologe
Prof. Dr. Helmut Zander ist Referent bei der Akademietagung:
Christus in uns
Mystik und religiöse Erfahrung in Christentum, Buddhismus und Anthroposophie
12. bis 13. Februar 2022 I Sa. 14.00 Uhr – So. 14.00 Uhr