Franz Liszt auf Liebes-Expedition durch die Schweizer Berge
Paris 1827: Kaum in der Metropole angekommen erstürmt der 16-jährige Virtuose die Konzert-Podien. Da die Kritik aber Reserven anmeldet folgt er dem Beispiel Chopins und tummelt sich in den Salons der Aristokratie. Eines Tages im Jahre 1832 entflammt eine der Zuhörerinnen für den Tastenkünstler und notiert: «Hohe Statur, sehr schlank, bleiches Gesicht, grosse meergrüne Augen mit dem Glanz des blitzartigen Leuchtens…» Die Gräfin Marie d’Agoult (28-jährig, 2 Kinder, noch nicht mit dem nötigen Liebhaber ausgestattet) setzt unverzüglich zum Eroberungsfeldzug an und Liszt, stolz über seine Casanova-Qualitäten, erklärt ihr nach drei Jahren ohne Umschweife: «Nous partons!» (im Sinn von «wir hauen ab!»).
Liszt 1832 (Lithographie-Kopie) gemeinfrei.
Man reist im Mai 1835 aus Vorsicht getrennt nach Basel. Der Honeymoon kann beginnen. Marie erinnert sich später an eine «voyage sans but précis».
1 Basel – 2 Rheinfälle (Schaffhausen) – 3 Schloss Arenenberg – 4 Konstanz – 5 Rorschach – 6 St. Gallen – 7 Walensee – 8 Einsiedeln – 9 Rigi – 10 Brunnen – 11 Tellskapelle – 12 Flüelen – 13 Furkapass – 14 Gletsch – 15 Turtmann – 16 Sion – 17 Martigny (mit Gr. St. Bernhard) – 18 Bex – 19 Dents du Midi – 20 Villeneuve – 21 Genève
Über die Rheinfälle, Konstanz und St. Gallen erreichen die beiden Verliebten den Walensee, wo sich Liszt auf der Bootsfahrt die Inspiration für die Barcarolle seines Zyklus «Album d’un Voyageur» findet (später in «Années de Pèlerinage 1» wieder aufgenommen):
Walensee («Lac de Wallenstadt») gemeinfrei
Marie d’Agoult erinnert sich später an das «melancholische Seufzen der Wellen beim Rhythmus der Ruder…»:
Aus «Lac de Wallenstadt»: rechts der Anklang an Jodel-Melodien der Bergwelt
In Einsiedeln pilgert man zur «Schwarzen Madonna» in der Klosterkirche. Liszt zeigt schon in jungen Jahren einen Hang zur Mystik, beeinflusst von religiösen Denkern in Frankreich. – Auf der Weiterreise sind auch Fußmärsche angesagt, wie z.B. die Besteigung der Rigi von Goldau (heute Arth-Goldau) aus. Die anschließende Schifffahrt bis Brunnen und Flüelen führt an der Tellskapelle vorbei. Liszt widmet dem Tyrannen-Mörder der Urschweiz eine martialisch klingende «Chapelle de Guillaume Tell» voller tosender Akkorde und rasender Tremolos.
Die Weiterreise südwärts über die Schöllenen-Schlucht und den Furkapass im wilden Gotthard-Massiv mag als Inspiration zu den beiden nächsten Stücken gelten: «Au bord d’une source» evoziert das feine Sprudeln der Quelle (Sechzehntel-Girlanden im Diskant mit chromatischen Abflüssen). – Man nächtigt in primitiven Hütten und erfährt eine Kostprobe die Naturgewalten. In «Orage» donnern Oktaven-Kaskaden und parallele Terz-Läufe über die Klaviatur, bei wildem Brummen in den Bässen.
Mit dem Eintritt ins Wallis eröffnet sich eine liebliche Landschaft mit südlichem Charakter. Vorbei an Gletsch (Rhonegletscher), Brig, Trutmann und Sion erreicht das Paar Martigny, von wo ein anstrengender Fussmarsch bis zum Hospiz des Grossen Sankt Bernhard (2400 m.) in Angriff genommen wird.
Passhöhe mit Hospiz, an der Grenze zum italienischen Aosta-Tal (gemeinfrei)
Ein längerer Aufenthalt in Bex gilt der gemeinsamen Lektüre des Briefromans «Oberman» von Sénancour, der 30 Jahre zuvor von der Pracht der hiesigen Bergwelt schwärmte, wo die «Dents du Midi» mit ihren Felsen und der friedlichen Rhone sich zu einer Natur-Idylle fügen würden. Wohl geht das Stück «Vallée d’Obermann» auf diese Landschaft um Bex zurück, wo die nostalgisch absteigende Bass-Figur mit leise pochenden Akkorden rechts einen meditativen Raum öffnet:
Während der Schifffahrt ab Villeneuve bis Genf erfreut sich das Paar an den prächtigen Weinberg-Terrassen des Lavaux und den hübschen Uferstädtchen westlich von Lausanne (z.B. das römische Nyon). – In Genf endet die Schweizer Eskapade, in jener Stadt der strengen Sitten calvinistischer Tradition, die Liszt «la Rome protestante» nennt. Franz tummelt sich im intellektuellen Milieu, gibt Konzerte und Gratisunterricht, schreibt und schwadroniert über die Mission des Künstlers in der Gesellschaft und komponiert, während Marie sich ins literarische Schreiben stürzt. Etwas Rückzug bieten die Spaziergänge auf den Mont Salève, doch die vielen Gesellschaften werden den beiden nach einem Jahr zu viel, zumal Marie hier einen Sohn zur Welt bringt, dem Franz sein letztes Stück des «Albums d’un Voyageur» widmet: «Les Cloches de Genève»:
Die drei Glockentöne von St-Pierre in Genf leiten eine fröhlich umrankte Melodie ein, gefolgt von rauschenden Arpeggien und akrobatischem Laufwerk, bevor sich das Ganze wieder in Harmonie auflöst und mit dem Echo der drei Töne im pp entschwindet.
Marie hält in ihren Memoiren später fest, wie ihnen der mondäne Betrieb in Genf langsam zur Last wird und wie Franz ihr eines Tages verkündet: «Ich halte es nicht mehr aus. Wenn wir in Genf bleiben, so unzufrieden ich doch bin, auch verärgert über mich selbst, würde ich die Kraft verlieren, die ich benötige, um die mir von Gott auferlegte Aufgabe zu erfüllen (…) Marie, wir verlassen all dies, ohne einen Tag zu zögern und ohne jemandem etwas zu sagen…»
Genf mit dem Mont Salève: Postkarte 1921 (gemeinfrei)
Das Paar kehrt nach Paris zurück, um im nächsten Jahr nach Italien aufzubrechen: Florenz, Rom, Neapel, Venedig, Comersee…. (s. die Teile 2 und 3 der «Années de Pèlerinage»).
Die abenteuerliche Reise durch die Schweiz hat für Liszt auch ihre spirituelle Dimension, wie es seine Freundin in ihren Erinnerungen betont: «Die Bibel, christliche Legenden und die Passion Christi beschäftigten ihn sehr. Er wollte der sakralen Musik wieder ihren Platz zuweisen (…) und Gott über die erhabenste der Künste in reiner Verehrung dienen.»
Q U E L L E N :
- Wolfgang Dömling, Franz Liszt, C.H.Beck, München 2011
- Oliver Hilmes, Franz Liszt, Biographie eines Superstars, Siedler, München 2011
- Comtesse d’Agoult, Mémoires 1833-1854, Calmann-Lévy, Paris 1927 (Zitate von J. Zemp übersetzt)
- Jacques Vier, La Comtesse d’Agoult et son temps, tome I, Armand-Colin, Paris 1955
- Sénancour, Oberman, Flammarion, Paris 2003
11. Juli 2023 || ein Beitrag von Josef Zemp, Studium der Romanistik und Musikologie in der Westschweiz und in Frankreich (Doktorat). Parallel dazu Berufsausbildung am Konservatorium (Cello und Klavier) – Cello-Diplom.
Geboren in einer Familie von Amateur-Musikern. Volksmusikforschung in Madagaskar, danach Unterricht am Gymnasium (französische Sprache und Literatur, Musik). Leitung von Weiterbildungskursen für Gymnasiallehrer. Publikationen in Feuilletons und Zeitschriften zur französischen Literatur. Vortragsreihen an Volkshochschulen zu Literatur und Musikgeschichte.