Städtebau als Spiegelbild der Gesellschaft
Akademietagung vom 25. bis 26. März 2023 in Bensberg
Lieber Herr Prof. Sonne, lieber Herr Buchhammer,
Sie beide werden am letzten März-Wochenende in der Thomas-Morus-Akademie die Tagung „Ästhetik und Funktion – Städtebau als Spiegelbild der Gesellschaft“ als Referenten bestreiten. Dabei gehen Sie von ganz unterschiedlichen Seiten auf das Thema zu.
Sie, lieber Herr Prof. Sonne, haben seit 2007 den Lehrstuhl für Geschichte und Theorie der Architektur an der Technischen Universität Dortmund inne. Außerdem sind Sie wissenschaftlicher Leiter des Baukunstarchivs NRW sowie stellvertretender Direktor des Deutschen Instituts für Stadtbaukunst; Ihr Schwerpunkt ist der Städtebau des 19. bis 21. Jahrhunderts. Das alles nach einem Studium der Kunstgeschichte und Klassischen Archäologie.
Sie, lieber Herr Buchhammer, stehen als freischaffender Architekt dagegen in vielen laufenden deutschen Projektwettbewerben zu urbanen Quartieren etwa von Berlin, Tübingen, Erlangen und Köln, um nur einige zu nennen. Ihre Entwürfe tragen einer „multi-mobilen“, modernen Stadtgesellschaft Rechnung – eine ganz andere Perspektive also. Beide Blickwinkel in ihrer Gesamtheit sind sicher eine gute Voraussetzung, um den Städtebau als Spiegelbild einer Gesellschaft zu beleuchten – historisch, gegenwärtig, aber auch mit Blick auf die Zukunft.
Bevor wir am 25. und 26. März 2023 in die Tagung mit Ihnen gehen, würde ich gern heute die Chance nutzen, Ihnen einige ganz grundsätzliche Fragen zum Thema zu stellen.
Herr Prof. Sonne, die perfekte Balance zwischen Ästhetik und Funktion im Städtebau wurde schon in der hellenistischen Antike erfunden. Würden Sie dem zustimmen?
Eine schöne Stadt muss auch funktionieren, da stimmen alle sofort zu – aber eine funktionierende Stadt muss auch schön sein, sonst würde niemand gerne in ihr leben! Das lässt sich tatsächlich schon an der Ausschmückung der Agora in Athen mit umgebenden Säulenhallen nachvollziehen. Das war übrigens ein jahrhundertelanger Bauprozess von einer ersten Halle bis hin zur umgebenden Platzrandbebauung mit Säulenhallen. Zu welchem Zeitpunkt die Balance gefunden war, mag jeder gerne selbst entscheiden…
Noch vor der Renaissance also wurden viele wichtige Prinzipien des Städtebaus entwickelt. Können Sie ein oder zwei bekannte Beispiele geben, über die Sie auch im Rahmen der Tagung sprechen werden?
Ein Beispiel wird etwa der Markusplatz in Venedig sein, der „Salon Europas“. Er wurde vom Mittelalter über die Renaissance bis hin in den Klassizismus immer weiter bebaut und bildet doch eine wunderbare räumliche und architektonische Einheit, weil alle Auftraggeber und Architekten zum Ruhm der Kommune beitragen wollten und deshalb das Vorhandene fortsetzten. Ein anderes sehr radikales Beispiel ist die Rue de Rivoli in Paris: Hier gab der Kaiser Napoleon den exakten Plan der Hausfassaden vor – und im Laufe von zwei Generationen ist dann eine ganz einheitliche Straße entstanden.
Herr Buchhammer, lieber die Piazza del Campo in Siena als der Ebertplatz in Köln. Warum würden viele Besucher und Besucherinnen so entscheiden – wie beeinflusst der Faktor Ästhetik das Wohlbefinden und die Lebensqualität der Bewohner Europas?
Wir erleben heute den Städtebau als oft schwierigen Interessensausgleich. Mehr Straße oder mehr Radweg, mehr Grün oder mehr Wohnraum? Wie geht der Städteplaner mit diesen Herausforderungen um?
Wer beide Plätze kennt, dem werden sofort die frappierenden Unterschiede in den Sinn kommen. Ich möchte aber anders anfangen, indem ich zunächst die Gemeinsamkeiten beider Plätze herausstelle: Beide befinden sich in einem städtischen Kontext. Es sind höchst urbane Orte. Beide verfügen in ihrer Mitte über Flächen, die Fußgänger:innen und Flaneur:innen vorbehalten sind. Beide Plätze werden von kleinteiliger, städtischer Bebauung eingerahmt. Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass jeweils ein einzelner Hochpunkt den Platz dominiert: Bei der Piazza del Campo ist es der Turm des Rathauses, des Palazzo Publico, beim Ebertplatz ist es der Ringturm, ein achteckiges Hochhaus, das ursprünglich für einen Versicherungskonzern erbaut wurde.
Dann hören die Gemeinsamkeiten aber auch schon auf: Während die Piazza del Campo den zentralen Platz der Altstadt von Siena bildet, markiert der Ebertplatz eine Nahtstelle zwischen der Kölner Altstadt und der Neustadt, der ersten Erweiterung der Stadt aus dem 19. Jahrhundert. Während die Piazza del Campo weitgehend verkehrsberuhigt und Fußgänger:innen vorbehalten ist, ist der Ebertplatz einer der fünf großen Verkehrsknotenpunkte, die sich rund um die Kölner Altstadt ziehen.
Vielleicht erklärt sich der ganz unterschiedliche Charakter beider Plätze aus den unterschiedlichen Anforderungen, die bei ihrer Gestaltung an sie gestellt wurden: Die Piazza del Campo ist das Herz der Altstadt von Siena. Sie wird als die „gute Stube“ der Altstadt wahrgenommen, an der sich die Bürgerschaft dieser früheren Stadtrepublik mit dem Rathaus ein Denkmal errichtet hat. Die Piazzo del Campo ist also ein Ort der Repräsentation, der Identifikation für die Bürger dieser traditionsreichen Stadt. Und sie ist ein Brennpunkt des Tourismus geworden. Durch die Abwesenheit von Auto- und Schienenverkehr ist die Platzfläche allein flanierenden Menschen vorbehalten.
An den Kölner Ebertplatz werden keine repräsentative Anforderungen gestellt, er wird vorwiegend als großer Verkehrsknotenpunkt genutzt. Hier kreuzen sich U-Bahn-Linien, Buslinien, der Ring und die Riehler Straße, eine breite Zubringerstraße von der Autobahn, die in die Nord-Süd-Fahrt übergeht. Wichtige öffentliche Gebäude fehlen. Da an den Ebertplatz beliebte Wohnquartiere angrenzen, ist er aber ein Treffpunkt für Anwohner, ein Ort der Begegnung, der Kommunikation und der nahörtlichen Versorgung, allerdings mit großen Defiziten in der Aufenthaltsqualität. Hauptgrund dafür ist die enorme Verkehrsbelastung: Weil rund um den Platz breite Verkehrsstraßen geführt werden, wirkt die zentrale Platzfläche isoliert. Sie ist durch die breiten Straßen von den Geschäften in der den Platz rahmenden Bebauung abgetrennt, eine Verbindung besteht nur über die wenigen Ampel-geregelten Übergänge. Die Gestaltung des Ebertplatzes stammt aus den 1960er und 1970er Jahren. Damals wurde dort unterirdisch einer der wichtigsten U-Bahn-Knotenpunkte Kölns errichtet, was zu einer umfassenden Neugestaltung führte. Die zentrale Platzfläche wurde unter das Straßenniveau abgesenkt und vermittelt zum unterirdischen U-Bahn-Knoten. Die Gestaltung der 1970er Jahre wird heute von vielen Kölner kritisch bewertet: Die zentrale Platzfläche kann wegen der Tieferlegung und der ringsherum geführten Verkehrsströme kaum Aufenthaltsqualität entfalten. Die einmündenden tunnelartigen Unterführung und U-Bahn-Zugänge führen zu einer unübersichtlichen Situation. Dadurch entwickelte sich die zentrale Platzfläche immer mehr zu einem „Unort“, der von Anwohnern gemieden und zu einem Drogenumschlagplatz wurde. Derzeit werden von der Politik, Stadtplanern und Architekten Überlegungen angestellt, wie der Ebertplatz wieder mehr Aufenthaltsqualität bekommen kann.
Ihre Ausgangsfrage war, inwiefern die Gestaltung eines Platzes ein „Angenommenwerden“ durch die Bürger:innen beeinflusst. Meist ist die Gestaltung eines Platzes geprägt von seiner Nutzung. Wie unterschiedlich die Nutzung eines Platzes sein kann, haben wir am Vergleich von Ebertplatz und Piazza del Campo gesehen. In Wahrheit wird jeder städtische Platz aber vielfältig genutzt, es gibt also nicht nur eine Nutzung. Eine gute Gestaltung behält aber unterschiedliche Nutzungen im Blick und findet eine Form, die vielfältige Adaptionen des Platzes ermöglicht.
Ein Grund für die das heutige verwahrloste Erscheinungsbild des Ebertplatzes dürfte darin liegen, dass er vorrangig als Verkehrsknoten gestaltet wurde. Für ein Verweilen und Aufenthalt blieben nur Restflächen übrig, die dann auch noch unzureichend mit den angrenzenden belebten Straßen verzahnt wurden. Es wurde versäumt, den Platz in die umgebende Stadt einzuweben. Für Passant:innen und Flaneur:innen gibt es keine attraktiven Anlässe, sich auf der zentralen Platzfläche aufzuhalten. Der dort stehende Brunnen konnte diese grundlegenden Fehler nicht ausgleichen.
Die Piazza del Campo präsentiert sich hingegen als kompakter, von alten Gebäuden eng umstandener Platz, eingebunden in das Straßennetz der Altstadt. Hier machen weder Autos noch andere Verkehrsmittel den Fußgänger:innen Konkurrenz. Es gibt keinen Verkehrslärm, keine trennenden, vielbefahrenen Straßen. So wurde die Piazza zu einem Ort von hoher Aufenthaltsqualität.
Was können wir aus dem Vergleich lernen? Wenn mehr Plätze in unseren Städten eine Aufenthaltsqualität wie die Piazza del Campo bekommen sollen, müssen sie ausgehend von Fußgänger:innen gedacht, geplant, gestaltet und weiterentwickelt werden. Die Verkehrsbelastung muss auf klar definierte Bereiche eingegrenzt werden. Unübersichtliche Platzgeometrien und Angsträume sollten unbedingt vermieden werden. Ein Platz muss vorrangig als wichtiger städtischer Raum betrachtet werden, ein Ort des Verweilens für radfahrende oder flanierende Bewohner:innen oder Besucher:innen. Auf diese Weise könnten Plätze, die sich uns derzeit noch als Verkehrswüsten zeigen, als urbane Räume für die Menschen zurückgewonnen werden. Ort mit Aufenthaltsqualität bedeuten Lebensqualität!
Wir erleben heute den Städtebau als oft schwierigen Interessensausgleich. Mehr Straße oder mehr Radweg, mehr Grün oder mehr Wohnraum? Wie geht der Städteplaner mit diesen Herausforderungen um?
Ich glaube, dass für planende Stadtplaner:innen und Architekt:innen eine gewisse Demut hilfreich ist: Wir müssen uns bewusst sein, dass wir selbst Kinder unserer Zeit sind. Städte hingegen sind langsame Organismen, die sich zögernd, aber stetig den Zeitläuften anpassen. Wenn wir einen städtischen Raum gestalten, tun wir dies mit dem „Background“ unserer Gegenwart, treffen Annahmen aufgrund unserer derzeitigen Lebenswirklichkeit. Unsere Gestaltung wird aber möglicherweise über Jahrzehnte Bestand haben. Bei unseren Entwürfen sollten wir immer – auch aus ökonomischen und ökologischen Gründen – den Anspruch haben, eine möglichst dauerhafte Lösung zu entwickeln. Dennoch, nicht alles können wir voraussehen, der langsame „Organismus Stadt“ wird die von uns entwickelten Lösungen kritisch wägen.
Ich habe diese Überlegung vorangestellt, weil sie uns beim alltäglichen Interessensausgleich hilft: Bei der Gestaltung eines öffentlichen Raums, also einer Straße oder eines Platzes, müssen oft Belange einzelner Nutzergruppen gewichtet werden. Diese Gewichtungen sind aber Momentaufnahmen, sie können sich über Jahre und Jahrzehnte gravierend ändern. Das sollte uns bewusst sein, damit sollten wir rechnen!
Beispielweise werden im Moment in verschiedenen Städten wieder neue Straßenbahnlinien in Innenstädten angelegt, nachdem man in den 1960er und 1970er Jahren in zahlreichen Städten Straßenbahnen aus den Innenstädten verbannt hat. Heute wird eine attraktivere Gestaltung des ÖPNV gewünscht, um die Verkehrsbelastung durch den motorisierten Individualverkehr in den Städten zu senken. Die Straßenbahn wird wieder als Teil des ÖPNV akzeptiert. Besserer ÖPNV und weniger Autos können Städte attraktiver machen, die Lebensqualität für die Bewohner deutlich erhöhen. Außerdem dient es dem Stadtklima und passt gut zu unseren Bemühungen, die Treibhausgasemissionen wo immer möglich zu verringern. Man sollte meinen, eine neue Straßenbahnlinie in einer Innenstadt dient allen und hat nur Freunde, oder?
Nein, so einfach ist es nicht: Für die Anwohner der Straße, durch die die neue Strecke führen wird, bedeutet eine neue Straßenbahnlinie erheblich mehr Verkehrslärm, eine Verengung des Straßenraums, wodurch weniger Raum für Fußgänger, Radfahrende und Anwohner-Parken bleibt. Sie führt zu erhöhter Unfallgefahr entlang der Strecke und kann auch gestalterisch eine Herausforderung sein, da Straßenbahngleise und Oberleitungen nicht unbedingt zu einem schöneren städtischen Raum führen.
Wird der Bau einer solchen Straßenbahnlinie beschlossen, werden die Belange eines besseren ÖPNV und eines besseren Stadtklimas vor die Belange der Autofahrer, denen Straßenraum weggenommen wird, und der Anwohner, die mit der Belastung einer Bahn vor ihrer Nase leben müssen, gestellt. Es wird eine Interessenabwägung, eine Wertung vorgenommen. Diese Abwägung muss – hier kommt wieder die Demut ins Spiel – als Kind der Gegenwart verstanden werden. Wir können nur in und für die Jetzt-Zeit entscheiden! Spätere Generationen werden wieder anders abwägen, vielleicht wird die Straßenbahn dann erneut aus dem Stadtbild wieder verschwinden. Ein Einsicht in die Zeitgebundenheit unserer Entscheidungen hilft manchmal bei der Vermittlung zwischen unvereinbar erscheinenden Interessen.
Herr Prof. Sonne, können und sollen heute Bürgerinnen und Bürger Einfluss nehmen auf das Bild „ihrer“ Stadt – welchen Gestaltungsspielraum lässt eine demokratische Gesellschaft in dieser Frage zu?
Gerade die demokratische Gesellschaft lässt viel Gestaltungspielraum für die Bürgerinnen und Bürger zu. Da sind zuerst einmal alle privaten Bauherren, die mit den Fassaden ihrer Häuser den öffentlichen Raum der Stadt prägen – und leider immer weniger einem öffentlichen Schönheitsanspruch gerecht werden. Und dann sind da die ganzen Mitbestimmungmöglichkeiten von der Stadtratswahl bis hin zu den Beteiligungsverfahren. Der amerikanische Architekt Daniel Burnham hat Anfang des 20. Jahrhunderts einmal gesagt, dass nicht so sehr die Monarchien, sondern die Demokratien im Stande sind, schöne Städte zu bauen, denn die Mehrheit der Menschen wollten in einer schönen Stadt leben – und in einer Demokratie können sie das auch umsetzen!
Vielen Dank Ihnen beiden!
Ich freue mich sehr, wenn wir diese und noch viele andere Fragen und Beispiele im Rahmen der Tagung „Ästhetik und Funktion – Städtebau als Spiegelbild der Gesellschaft“ am 25. und 26. März besprechen und vertiefen können.
Bis dahin herzliche Grüße nach Dortmund und Köln!
Das Interview führte Akademiereferentin Felicitas Esser.
Bildnachweis: © Dietmar Rabich, Hamburg, Speicherstadt auf WikimediaCommons; © Pierre Blaché, London auf WikimediaCommons; © Jose Luis, Piazza del Campo Siena auf WikimediaCommons; © Wien – Belvedere auf WikimediaCommons © Esslingen, Altes Rathaus auf Wikimedia Commons © Stadtmuseum Düren, Madita01 auf WikimediaCommons
9. März 2023 || ein Gespräch mit
- Prof. Dr. Wolfgang Sonne, Lehrstuhl für Geschichte und Theorie der Architektur an der Technischen Universität Dortmund
- Dipl. Ing. Johannes Buchhammer, Architekt, Inhaber des Büros JBA JOHANNES BUCHHAMMER ARCHITEKTUR, Köln
25. bis 26. März 2023 (Sa.-So.)
Ästhetik und Funktion
Städtebau als Spiegelbild der Gesellschaft
Akademietagung in Bensberg