Ein Engel wird 100
Nein, das ist Unsinn. Engel sind alterslos. Demnach haben sie auch keinen Geburtstag. Der Hundertjährige, dessen hier gedacht werden soll, ist auch gar kein Engel. Es ist vielmehr das Bild eines Engels. Paul Klee schuf 1920 seinen Angelus novus. Der neue oder vielleicht auch junge Engel ist eine seiner bekanntesten Arbeiten, ist aufs Engste nicht nur mit dem Leben und Wirken Klees verbunden, sondern auch mit Walter Benjamin, wie die Kunsthistorikerin Dr. Elisabeth Peters hier aufzeigt.
Eigentlich erstaunlich, denn gewissermaßen handelt es sich um eine Art Doublette. Außerdem ist das Bild kaum größer als ein DIN-A4-Blatt. Es gehört weder zu den Zeichnungen noch zu den Ölgemälden oder Aquarellen Klees. Technisch steht es irgendwo dazwischen. Korrekt müsste man von einer Ölpause mit Aquarell auf Papier und Karton sprechen.
Das hier angewandte Kopierverfahren hatte Klee selbst erfunden. Damit konnte er eine Zeichnung vervielfältigen und trotzdem ein künstlerisch eigenständiges Original herstellen. Dazu legte er drei Blätter übereinander: zuunterst ein jungfräuliches Papier für das neu zu erstellende Werk, darauf einen mit meist schwarzer Ölfarbe bestrichenen Bogen mit der Farbseite nach unten und zuletzt die durchzupausende Zeichnung. Mit einem Griffel zog er nun die Linien der Zeichnung nach und drückte so die Ölfarbe auf das neue Papier, das er anschließend mit Aquarellfarben kolorierte. Auf diese Weise entstanden zwischen 1919 und 1925 mehr als 240 Arbeiten. Dabei ging es Klee aber keineswegs um Kopien eines Motivs in höheren Stückzahlen. Sein Ziel war vielmehr die Verschmelzung von Zeichnung und Ölmalerei, von Linie und Farbe. Klee kam von der Graphik her. Er hatte vor dem Ersten Weltkrieg Zeichnungen, auch Karikaturen, sowie Radierungen und später Lithographien geschaffen. Aus der Technik des Steindrucks (Lithographie) entwickelte er das beschriebene Öldruckverfahren.
Seine simple neuerfundene Technik wirkt bewusst kindlich und handwerklich. Sie scheint geradezu als ein schöpferisches Gegenmodell zum „Kunstwerk in Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (Walter Benjamin).
Die Farbe hatte Klee 1914 auf der in die Kunstgeschichte eingegangenen Tunisreise, die er mit den Malerkollegen Louis Moilliet und August Macke unternommen hatte, für sich entdeckt. Damals war der Ende 1879 im Kanton Bern geborene Künstler schon Mitte dreißig. Nach dieser Reise entstanden Aquarelle in glühenden Farben. Gleichzeitig begab Klee sich auf den Weg der Abstraktion. „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“, postulierte er. In seinen Ölpausen vereinte er nun die Präzision der Zeichnung mit der Farbigkeit der Aquarelle, wobei die Linie durch die Materialität der Ölfarbe mehr Gewicht erlangte.
Vor 100 Jahren: Geburtsstunde des Angelus novus
Das Jahr 1920, in dem der Angelus novus entstand, brachte Klee einen entscheidenden Durchbruch. In der Münchener Galerie Goltz stellte er über 300 Werke aus. Zudem entstanden die ersten beiden Monographien über den aufstrebenden Künstler. Mit Goltz hatte Klee einen Vertrag abgeschlossen, der fortan den Lebensunterhalt der jungen Familie sicherte. Bislang hatte sich Klee als Hausmann um den 1907 geborenen Sohn Felix gekümmert, während seine Frau Lily mit Klavierstunden das Geld verdiente. Schließlich wurde Klee Ende Oktober 1920 als Lehrer an das junge Bauhaus in Weimar berufen.
Der Angelus novus gehört zu Klees großer und bedeutsamer Werkgruppe der Engel. Aber er ist nur so etwas wie ein entfernter Verwandter. Die meisten dieser Schöpfungen mit ihren poetischen Namen gehören in die letzten Lebensjahre des Künstlers. Klee starb nach langer schwerer Krankheit 1940, kaum sechzigjährig. Gerne präsentierten sich seine Engel als heitere, manchmal recht unvollkommene Wesen. „Bei den Engeln ist alles wie bei uns, nur englisch“, schrieb Klee. Sie brachten keine göttlichen Botschaften, wie das ihre Kollegen jahrhundertelang getan hatten. Manchmal warfen sie sogar zutiefst menschliche Fragen auf. Der Titel eines der letzten Engelsbilder von 1940 lautet: „Woher? wo? wohin?“.
Während seiner Bauhauszeit bis 1931 hatte Klee keine der himmlisch-menschlichen Wesen dargestellt. Und auch bevor er nach Weimar ging, war der Engel kein wichtiges Thema gewesen.
Der nächste Verwandte des Angelus novus, und gleichzeitig auch der früheste Engel in seinem Werk, war der Angelus descendens von 1918. Er schwebt, fast wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen, auf eine friedlich wirkende Erde herab. Ein echter Vogel über seinem Haupt macht die Ähnlichkeit deutlich. Damit man ihn dennoch erkennt, ist das Wort ANGELUS in eine Art Heiligenschein hineingekritzelt. Mit seiner goldgelben Farbe, umgeben von Gestirnen, scheint er der Erde Frieden zu verkünden, bleibt aber mit seinem zu einem winzigen Schnabel zusammengezogenen Mund seltsam still angesichts der Weltkriegskatastrophe. Im Gegensatz zum Angelus novus handelt es sich beim herabsteigenden Engel um eine aquarellierte Tuschezeichnung. Und auch sonst sind die Übereinstimmungen nicht so erheblich. Der Angelus novus ist ebenfalls ein Mischwesen zwischen Engel und Vogel. Aber der neue Engel tritt dem Betrachter mit weit geöffneten Augen entgegen. Was sehen diese Augen? Auf diese Frage antwortete der deutsche Philosoph Walter Benjamin in einem kurzen, aber berühmten Text. Erst diese wenigen Zeilen machten aus dem kleinen Bild eine Ikone der Moderne:
„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ (Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, These IX)
Walter Benjamin und der Angelus novus
Mit diesen Zeilen hatte sich Benjamin das Werk einverleibt. Fortan wird das Bild nicht mehr von seiner Rezeption zu trennen sein. Aber auch ganz materiell befand es sich in Benjamins Besitz. Übrigens hatte er bereits ein anderes Gemälde Klees gekauft, über das er jedoch nie schrieb. Den Angelus novus stellte Benjamin zunächst bei seinem Freund Gershom Scholem unter, der ein etwas holpriges Gedicht darüber verfasste und seinem Freund als Gruß vom Engel schickte. Die fünfte Strophe verwendete Benjamin 1940 als Motto seiner These IX. Ob er dabei die Mahnung Scholems am Ende des Gedichtes vergessen hatte? Dort heißt es:
„Ich bin ein unsymbolisch Ding
Bedeute was ich bin
Du drehst umsonst den Zauberring
Ich habe keinen Sinn“
Benjamin hingegen überfrachtete den „Engelsmann“, wie Scholem ihn nannte, geradezu mit Bedeutung. Er legte in ihn seine verzweifelte Weltsicht hinein. Und er hatte allen Anlass, an der Geschichte zu verzweifeln. Seine persönliche Biographie und in gewisser Weise auch das Schicksal des Bildes mögen als Indikator dienen. Das Werk hing in Benjamins Berliner Wohnung, bis er 1933 Deutschland verlassen musste. Auf seiner Flucht nach Paris ließ er es zunächst zurück. Eine befreundete Dame, deren Name wohl ein Geheimnis bleiben wird, brachte ihm den Angelus novus an seinen Exilort nach. So konnte Benjamin 1940 im Angesicht des „Engelsmannes“, der nun zum „Engel der Geschichte“ wurde, seine düstere Vision entwickeln. Als er schließlich wegen des deutschen Einmarsches auch aus Paris fliehen musste, blieb das Bild wieder zurück. Auf fast wundersame Weise konnte der französische Philosoph George Bataille es in einem Koffer zusammen mit Benjamins Manuskripten in der Bibliotheque Nationale verbergen. Über Theodor W. Adorno gelangte es nach dem Zweiten Weltkrieg zu Gershom Scholem nach Israel. So hatte Benjamin schon 1932 testamentarisch verfügt. Heute befindet sich das berühmte Werk als Geschenk Scholems und seiner Erben im Israel-Museum in Jerusalem.
Benjamin selbst hatte 1940 auf der Flucht nach Spanien im Grenzort Portbou seinem Leben ein Ende gesetzt. Ein eindrucksvolles Denkmal von Dani Karavan erinnert heute am Meeresufer an ihn. Und der Angelus novus, der für immer mit Benjamin verbunden sein wird.
Habent sua fati libelli – so sagt der Lateiner über die Bücher. Aber gilt das nicht ebenso für Bilder? Auch Bilder haben ihre Schicksale.
Bildquelle: Wikipedia.org und Wikimedia commons
16. Juli 2020 || ein Beitrag der Kunsthistorikerin Dr. Elisabeth Peters. Unter Ihrer Leitung ist die Ferienakademie auf literarischen Spuren durch Paris geplant (24.-28.10.2020).