Ein Mann zu jeder Jahreszeit!? Gedanken zum heutigen Namenstag von Thomas Morus

Der englische Staatsmann und Autor Thomas Morus ist nicht nur Patron der nach ihm benannten Akademie in Bensberg, sondern auch der Schutzheilige der Regierenden und Politiker. Von der Bensberger Akademie hat man einen herausragenden Blick auf Köln, aber Akademiereferent Matthias Lehnert schaut heute auf das Leben des Heiligen, fragt, welche Facetten von Morus‘ Leben und Werk für unsere Zeit noch relevant sind – und findet interessante Spuren quer durch die Jahrhunderte hindurch.

Heiligen- und Heldenverehrung sind in der Moderne schwierig geworden. Zwar sind wir durchaus bereit, Menschen auf allen zur Verfügung stehenden analogen und digitalen Kanälen innerhalb kürzester Zeit in den „Celebrity-Himmel“ zu befördern. Dazu muss niemand mehr sein Leben einsetzen, um zur Ehre „moderner Altäre“ erhoben zu werden. Da reicht ein nett gemachtes YouTube-Video. Ebenso rasch und konsequent erfolgt dann aber auch die Ächtung, wenn die eben noch hochgelobte Person sich in irgendeinem Bereich ihres Lebens Fragwürdiges anlasten lassen muss. Ein schlechter Scherz, eine zweifelhafte politische Äußerung – schon kann man vom  Sockel stürzen.

Besonders schwer haben es historische Persönlichkeiten, die sich an den Maßstäben unserer Zeit messen lassen müssen. Ihre Leistungen mögen noch so verdienstvoll sein, wenn sie nicht in sämtlichen Winkeln ihres privaten und öffentlichen Lebens unseren Vorstellungen von Humanität entsprechen, steht ihre Verehrung unter Vorbehalt: Thomas Jefferson? Maßgeblicher Autor der Unabhängigkeitserklärung, aber auch Sklavenhalter. Martin Luther? Reformator, Sprachschöpfer und Bibelübersetzer, aber leider mit fragwürdigen Auslassungen zu Juden und ausgebeuteten Bauern.

Auch der heilige Thomas Morus, dessen Namenstag wir heute feiern, steht in dieser Reihe: Im gebildeten Humanisten und Renaissance-Menschen Morus möchten wir zu gerne einen Pionier der aufgeklärten Moderne sehen, müssen dann aber feststellen, dass auf Veranlassung des erbitterten Luther-Gegners Morus Protestanten verfolgt und hingerichtet wurden. Als Autor der berühmten „Utopia“ gilt Morus manchem als Frühsozialist, der schon im 16. Jahrhundert für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens eintrat. Aber selbst eine oberflächliche Lektüre dieses Klassikers der Weltliteratur zeigt, dass die von Morus als „beste Staatsverfassung“ entworfene Ordnung auf der Insel Utopia mit unseren Vorstellungen eines freiheitlich-demokratisch organisierten Gemeinwesens wenig gemein hat und eher einem konformistisch durchorganisierten Überwachungsstaat gleicht. Und selbst der für die katholische Kirche entscheidende Grund für Morus‘ Heiligsprechung – seine Weigerung, gegen sein Gewissen zu handeln, selbst wenn es ihn das Leben kosten würde – erscheint uns heute etwas zweifelhaft, wenn wir berücksichtigen, was genau Morus als mit seinem Gewissen unvereinbar ansah: Er setzte sein Leben nicht für die Abschaffung der Todesstrafe oder die Gleichberechtigung von Mann und Frau ein, sondern verweigerte seinem König die Gefolgschaft, weil dieser – etwas verkürzt gesagt – eine zweite Ehe eingehen wollte und dafür die Kirche spaltete.

Es verwundert also nicht, dass die Bilder, die sich unsere Zeit von Thomas Morus macht, in den letzten Jahren facettenreicher geworden sind. Spielte Paul Scofield den Heiligen in Fred Zinnemanns Kinoklassiker „Ein Mann zu jeder Jahreszeit“ („A man for all seasons“, 1966) noch „als noblen, gutmütigen Prinzipienreiter“, wie Gina Thomas 2015 in der FAZ urteilte, so porträtierte Hilary Mantel den Schatzkanzler Morus in ihrem historischen Roman „Wölfe“ („Wolf Hall“, 2009) als hartherzigen Vollstrecker der rechten Glaubenslehre, als selbstgefälligen religiösen Fanatiker und heuchlerischen Eiferer, wofür sie freilich viel Kritik einstecken musste.

So stellt sich am heutigen Tag die Frage, was vom Heiligen für unsere Zeit bleibt, bleiben könnte? Untrennbar verbunden ist der Name Morus mit der utopischen Denkweise, wenn auch die Ausgestaltung seiner Utopie bis heute Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ist. Morus bleibt ein wichtiger Gewährsmann für ein Denken, das ganz bewusst über die engen Grenzen des aktuell machbar Scheinenden hinausgetrieben wird und so nicht gefangen bleibt im bequemen „There-is-no-alternative-Gerede“. Nachdem das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) mit dem Niedergang des Sowjetkommunismus wohl doch nicht eingetreten ist, scheint die Lust am utopischen Denken in letzter Zeit wieder größer geworden zu sein, wovon etwa Titel wie „Utopien für Realisten“ (2017) des jungen niederländischen Historikers Rutger Bregman oder „Jäger, Hirten, Kritiker. Eine Utopie für die digitale Gesellschaft“ (2018) des Philosophen Richard David Precht zeugen. Dass ein Ausschnitt aus Morus‘ Utopie eine kürzlich im Suhrkamp-Verlag erschienene Anthologie von Grundlagentexten zum Bedingungslosen Grundeinkommen eröffnet, belegt die Originalität des humanistischen Lordkanzlers, selbst wenn seine Ideen kaum jenen der heutigen Grundeinkommensverfechter entsprechen dürften.

Hätte Morus aber nicht die „Utopia“ geschrieben und damit gewissermaßen ein ganzes literarisches Genre begründet, wäre er heute mehr als eine Randfigur, die nur noch Kirchenhistorikern etwas bedeutete? Man kann dies begründet vermuten und etwa auf Mantels Romantrilogie verweisen, in der Morus nur noch eine etwas zweifelhafte Nebenrolle spielt, während sein bislang als finsterer Ränkeschmied dargestellte Gegenspieler Thomas Cromwell eine späte Ehrenrettung erfährt.

Diese Haltung würde aber einen Aspekt im Leben (und Sterben!) des Thomas Morus zu gering bewerten, die wohl zu allen Zeiten und allen sich verändernden Wahrnehmungen und Bewertungen zum Trotz bemerkenswert und, ja, verehrungswürdig bleiben wird: die strikte Orientierung am eigenen Gewissen und die Weigerung, auch dann gegen dieses Gewissen zu handeln, wenn diese Verweigerung mit dem Leben bezahlt werden müsste. Wohl verbietet sich die billige und selbstgefällige Vereinnahmung des Märtyrers für alle möglichen „Gewissensentscheidungen“, aber das Engagement, das – Gott sei Dank – ohne Einsatz des Lebens auskommt, wird deswegen in keiner Weise entwertet: Niemand sollte beschämt vom Platz schleichen müssen, nur weil er oder sie eingestehen muss, dass die vegane Ernährungsweise, der Einsatz für Minderheiten, gegen Rassismus oder den Klimawandel zwar irgendwie einer Regung des eigenen Gewissens entspringt, aber man doch zögern würde, das eigene Leben dafür herzugeben. Wo wir dies erkennen, kann dann auch die Bewunderung für Menschen wie den österreichischen Bauern Franz Jägerstätter wachsen, der sich dem Kriegsdienst unter dem Nazi-Regime verweigerte und dies mit dem Leben bezahlte, wie es zuletzt der Regisseur Terrence Malick in seinem Film „Ein verborgenes Leben“ („A hidden life“, 2020) in eindrucksvolle und berührende Bilder fasste. Noch kurz vor seiner Hinrichtung erwähnte Jägerstätter in Briefen ein Büchlein über Thomas Morus, das ihm Kraft schenkte. Dass der gebildete und weltgewandte Humanist des 16. Jahrhunderts einem einfachen Bauern im 20. Jahrhundert Trost und Zurüstung spenden kann, unterstreicht die zeitlose Bedeutung des heiligen Thomas Morus.
Er bleibt „Ein Mann zu jeder Jahreszeit“.

Über die Akademie
Die Thomas-Morus-Akademie Bensberg ist benannt nach dem englischen Lordkanzler Thomas More (1478-1535), den Heinrich VIII. zum Tode verurteilen ließ, der 1935 heiliggesprochen und im Jahr 2000 zum Patron der Politiker ernannt wurde. Mit seiner Schrift „Utopia“ hinterfragt More die Möglichkeit einer idealen Gesellschaft. Die Reflexion und Interpretation gesellschaftlicher, sozialer, kultureller, wirtschaftlicher, politischer und theologischer Entwicklungen hat sich die Akademie zur Aufgabe gemacht.

 

Literaturhinweise

  • Bregman, Rutger: Utopien für Realisten: Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das bedingungslose Grundeinkommen. Rowohlt, Reinbek, 2017.
  • Kovce, Philip und Birger Priddat: Bedingungsloses Grundeinkommen: Grundlagentexte. Suhrkamp Verlag, Berlin, 2019.
  • Mantel, Hilary: Wölfe. DuMont, Köln 2010.
  • Precht, Richard David: Jäger, Hirten, Kritiker. Eine Utopie für die digitale Gesellschaft. Goldmann, München, 2018.

 

22. Juni 2020 || ein Beitrag von Dr. Matthias Lehnert, Akademiereferent Forum: PGR