Langeweile – eine mystische Übung

Die große Corona-Langeweile, vor der sich viele fürchteten, scheint ausgeblieben zu sein. Auch während des wochenlangen Lockdowns herrschte allerorten Betriebsamkeit. Wieso fällt es uns offenbar schwer, längere Phasen der Ruhe und des Nichtstuns zuzulassen? In einem für die heutige Taktung der Medien durchaus langen Gespräch, beleuchtet der Theologe und Bestseller-Autor Pierre Stutz unser Verhältnis zur Langeweile, spricht von der „Mystik der Langeweile“: eine schöne Ermutigung zu einem spirituellen Alltagsweg!

Wunsch oder Schreckgespenst: die Langeweile

Die große Langeweile scheint weitgehend ausgeblieben zu sein. Mitte März, als der große „Lockdown“ begann, da wähnten sich manche vor langen Wochen der verordneten Entschleunigung. Das Arbeiten im Homeoffice ersparte den hektischen Weg zur Arbeit, die Schutzauflagen ließen das soziale und kulturelle Leben zum Stillstand kommen. Auch sportliche Betätigungen waren weitgehend unterbunden. Während einige sich auf diese ruhigere Zeit freuten, fürchteten sich andere vor der Langeweile in den eigenen vier Wänden. Ein Vierteljahr später dürfen oder müssen wir feststellen: Wirkliche Langeweile gab es eigentlich wenig. Schnell füllten sich die Zeitpläne, Telefon- und Videokonferenzen traten ohne größere Friktionen an die Stelle der bisherigen Besprechungen, und für die Freizeit gab es plötzlich neue Betätigungen zu entdecken: Kochrezepte wurden ausprobiert, Wohnungen entrümpelt, Freunde zum Bier am Bildschirm getroffen.

Nun, da die Lockerungen eine schrittweise Rückkehr zur „Normalität“ erlauben, fragen sich manche, ob da nicht auch eine Chance vertan wurde: Achtsamkeit, Resonanz, Entschleunigung sind in aller Munde und laut ist die Klage über Hektik und Zeitnot in der modernen Gesellschaft. Noch zu Jahresbeginn standen wohl bei vielen Meditation, Yoga und Wellness-Pausen auf der Vorsatzliste. Doch als dann das Virus alles veränderte, und eigentlich die große Chance da war, diese Vorhaben zu realisieren, schienen selbst jene, die keine Kleinkinder im Homeoffice betreuen mussten, nicht zur Ruhe zu kommen. Das gab uns zu denken. Woran liegt es, dass wir längere Phasen der Ruhe, Stille und Leere zwar herbeisehnen, aber dann doch nicht zulassen können? Wieso hat zwar die „Achtsamkeit“ Konjunktur, das „Nichtstun“ aber einen schlechten Ruf?

In einem hörenswerten Rundfunkinterview im Schweizer Rundfunk geht Pierre Stutz diesen Fragen nach. Eindrucksvoll-nachdenklich und eindringlich beleuchtet er den Wert der Langeweile. Seine These: Die wenigsten Menschen sind es gewohnt, einfach nichts zu tun. Dies erfordert nämlich wirklich Übung. Aber die Mühe lohnt sich, denn, so Stutz: „Die Leere ist das Eingangstor zur Fülle. Wenn ich immer wieder leer werde, kann ich immer wieder neu erfüllt werden.“

Hören Sie hier das Gespräch mit Pierre Stutz im Radio SRF.

Pierre Stutz

Als Theologe, spiritueller Begleiter und Autor zahlreicher sehr erfolgreicher Bücher engagiert sich Pierre Stutz für eine engagierte Spiritualität. „Schreiben ist für mich ein ‚feu sacré‘, ein inneres Feuer. Meine Inspiration ziehe ich aus meinem persönlichen Hoffen und Ringen in der Gottessuche. Kraft bei dieser Suche geben mir poetische, mystische und biblische Texte, inspirierende Kinofilmmomente – und auch die Überzeugung, dass Spiritualität dazu da ist, zu befreien und nicht einzuengen. Erst wenn die spirituelle Dimension des Alltags erkannt ist, dann wird mein Leben kostbar.“


Weiterführende Literatur von  Pierre Stutz

  • Atempausen für die Seele. Neuausgabe Verlag Herder 2020.
  • Geborgen und frei. Mystik als Lebensstil. Überarbeitete Neuausgabe Kösel Verlag München 2018.
  • Lass dich nicht im Stich. Die spirituelle Botschaft von Ärger, Zorn und Wut. Patmos-Verlag. 2. Auflage 2017.

Titelbild: Y. Boyer auf unsplash.com, gemeinfrei
Bild: Pierre Stutz von Stefan Weigand

21. Juni 2020 || Das Interview empfehlen Elisabeth Bremekamp und Dr. Matthias Lehnert.