Ein kleines Wunder auf dem Jakobsweg

Die Szene wird zum Tribunal: ein Reiseerlebnis

Im August 2015 war ich als Pilger unterwegs auf dem nordspanischen Jakobsweg, dem Küstenweg oder Camino del Norte, der von Irún im Baskenland nach Santiago de Compostela führt. Schnell hat sich eine kleine internationale Gruppe gefunden, die sich immer wieder in den Herbergen trifft und auch Teile des Weges gemeinsam geht.

Der Geldfund von Pando

Nachdem wir schon einige Tage miteinander unterwegs sind, kommen wir in das Dörfchen Pando, das zwischen Santillana del Mar und Comillas liegt. Die kleine Kapelle der Ermita de San Roque verspricht in der Hitze der Mittagszeit Schatten und Kühlung. Trotzdem gehen aus unserer Gruppe nur Peter aus dem Saarland und ich hinein. Der kleine Kirchenraum ist schmucklos. Bei einem Fenster liegen ein großes Buch und der Stempel, mit dem sich die Pilger ein Andenken in ihre Credenciales, die Pilgerausweise, machen können. In diesem Buch finden wir eine kleine Kunststoffhülle und darin: Geldscheine. Ich zähle flüchtig und komme auf etwa 250 Euro. Für einen Pilger ist das viel Geld! Name und Adresse des Besitzers sind nirgendwo zu finden. Nur ein sonderbares blaues Stück Papier, das an eine Strohhalmhülle erinnert, und verschiedene kleine Belege irgendeiner Lotteria stecken neben den Scheinen. Vielleicht hat jemand gespielt und will den Gewinn nun der Kirche vermachen? Sollen wir das Geld hierlassen? Aber dann nimmt es vielleicht jemand, der hier heute vorbeikommt. Sollen wir es also lieber selbst mitnehmen? Es könnte aber doch einem Pilger gehören, der den Verlust bemerkt, zurückkehrt und dann feststellen muss, dass das Geld nicht mehr da ist. Peter und ich beschließen: Nein, das Geld können wir nicht mitnehmen. Wir legen es nach ganz hinten in das dicke Gästebuch und ziehen weiter.

Asturien!

Zwei Tage später passieren wir auf der vielleicht schönsten Etappe des Camino del Norte den Ausläufer des Meeresarms Ria de Tina Mayor, der die Grenze zwischen Kantabrien und Asturien markiert. Wir sind in Asturien! Schon seit Tagen hat uns Alberto aus Madrid diese Region als „gelobtes Land“ angekündigt, mit traumhaften Stränden, malerischen Dörfern, feinem Essen und dem traditionellen Apfelwein Sidra. Asturien ist die Keimzelle des alten kastilisch-leonesischen Reiches und damit letztlich Spaniens. In den Bergen bei Covadonga besiegte im Jahr 722 das Heer unter Pelayo und – so will es die Legende – mit Beistand der Nuestra Señora de Covadonga erstmals die maurischen Truppen, die weite Teile der iberischen Halbinsel besetzt hielten.

Was ist’s mit diesem Vogelzug?

Nachdem wir bei Buelna die bizarren Felsformationen der Bufones passiert haben, aus denen bei starkem Seegang das Wasser wie ein Geysir bis zu 20 Meter in die Höhe schießt, erreichen wir unser Etappenziel Pendueles. Dort sitzen wir am Abend alle in der Herberge Aves de Paso des Pilgerfreundes Javier zu Tisch: Deutsche, Spanier, Italiener. Ein wunderbares Stimmengewirr erfüllt den niedrigen Raum. Am Kopf des Tisches sitzt ein Spanier mittleren Alters, von dem Peter meint, er würde ihn immer so freundlich grüßen wie ein alter Bekannter. Dabei sind sich die beiden zuvor nie begegnet. Da nun geschieht etwas, das ich bis an mein Lebensende nicht vergessen werde: Plötzlich zeigt der freundliche Spanier das Plastiketui mit dem Geld herum, das Peter und ich in der Kapelle von Pando gefunden und nicht mitgenommen haben. Entgeistert rufe ich: „Peter! Peter! Das Geld! Da ist das Geld!“ Alles verstummt. Was ist mit dem Geld? Warum ist der Deutsche so aufgeregt? Der Spanier sagt, dass sie das Geld vor zwei Tagen in einer kleinen Kapelle liegen gelassen hätten und dass nun eine Frau mit dem Auto hierhergefahren sei, um es ihnen zu bringen. In dem blauen Papier befand sich nämlich die Telefonnummer des Spaniers. Alle freuen sich. Da sage ich: „Ja, und wir haben das Geld in der Kapelle gesehen und wussten nicht, wem es gehört und was wir damit machen sollen, und dann haben wir es halt dort in einem Buch versteckt.“ Der Spanier kann es nicht glauben. Auch die anderen aus unserer Gruppe hören nun erstmals von unserem Geldfund. Es ist ein Tumult in der Herberge, alle reden durcheinander, so etwas hat noch niemand erlebt. Der Spanier und seine Frau springen auf, eilen hinaus und kommen kurz darauf mit einer Flasche des galizischen Tresterbrands Orujo zurück. Schnell sind die Gläser gefüllt, und Javier bringt einen langen Trinkspruch aus. Peter und der Spanier, der auch noch Pablo heißt, lernen sich nun endlich wirklich kennen. Es ist ein großer Abend in der kleinen Herberge Aves de Paso unter dem prächtigen Sternenhimmel Asturiens. Nicht auszudenken, wie es gewesen wäre, wenn wir das Geld genommen und Pablo am Tisch in Pendueles von seinem Verlust erzählt hätte! Die böse Tat hätte uns nach wenigen Tagen eingeholt. Ich denke an Schillers Kraniche des Ibycus und den düsteren Tanz der Erinnyen, die sich an die Fersen der Missetäter heften und nicht eher von ihnen ablassen, bis diese ihre gerechte Strafe erhalten. Hier war es ein Schwarm Zugvögel, der die Räuber schließlich buchstäblich einholte. Nun erleben wir das Ganze gewissermaßen mit umgekehrtem Vorzeichen.

Die Moral von der Geschicht’…

Alles Zufall? Vielleicht. Aber ein Zufall, der uns symbolhaft die Bedeutung des eigenen Verhaltens im Kleinen vor Augen führt: Peter und ich haben nicht viel getan, wir haben nur etwas nicht getan, nämlich das Geld genommen. So mag es oft im Leben sein: Man kann das Problem nicht alleine lösen. Vielleicht sieht man noch nicht einmal, wie das eigene Tun zur Lösung beiträgt. Es kommt aber auf diesen Beitrag an, auch wenn er klein und unbedeutend erscheint. Wir können die Wirkungen des eigenen Tuns manchmal nicht absehen, nicht erahnen, wie sich unser Handeln mit dem anderer – etwa dem der Frau, die Pablo das Geld gebracht hat, aber vielleicht auch dem anderer Pilger, die das Geld ebenfalls nicht mitgenommen haben – zusammengreift und schließlich zum Guten führt.

Der Name der Herberge „Aves de Paso“ bedeutet übrigens „Zugvögel“.

Foto: Strand La Rabia hinter Comillas, aufgenommen am 18.8.2015 (M. Lehnert)

27. März 2020 || Beitrag von Dr. Matthias Lehnert, Referent Forum :PGR