Ein leiser Harfenton: Eduard Mörike und die feine Kunst des Frühlingsgefühls
Eduard Mörike
Er ist’s
Frühling läßt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
– Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist‘s!
Dich hab‘ ich vernommen!
Eduard Mörike gehört mittlerweile zu den unbekannteren deutschen Dichtern. An ihn zu erinnern gibt es in diesem Jahr einen besonderen Anlass. Nicht nur ein Thomas-Mann-Jahr ist angebrochen. An dem Tag, an dem der Romancier am 6. Juni 1875 in Lübeck zur Welt kam, wurde im fernen Stuttgart der 1804 geborene Mörike zu Grabe getragen; sein Freund Friedrich Theodor Vischer hielt ihm die Totenrede.
Zu Lebzeiten wurde Mörike von Kennern und Liebhabern hochgeschätzt. Zu ihnen gehörte Theodor Storm, gehörte auch Gottfried Keller, der ihn den „Sohn des Horaz und einer feinen Schwäbin“ nannte. Sie bewunderten Mörikes untrügliche Sicherheit in der Abstimmung von Form und Gehalt eines Gedichts. „Die Form“, so schrieb dieser einem Freund, „ist doch in ihrer tiefsten Bedeutung ganz unzertrennlich vom Gehalt, ja in ihrem Ursprung fast Eins mit demselben u. durchaus geistiger, höchst zarter Natur.“
Unser Gedicht legt davon Zeugnis ab. Entstanden ist es am 9. März 1829. Drei Jahre später hat es der Autor – romantischer Tradition folgend – als titelloses sangbares Lied in seinen Roman „Maler Nolten“ aufgenommen. Tages- und Jahreszeiten bilden ein thematisches Zentrum in Mörikes Lyrik, und dabei werden Nacht und früher Morgen bevorzugt – „An einem Wintermorgen vor Sonnenaufgang“ lautet ein charakteristischer Titel; bei den Jahreszeiten kommt Frühling, Herbst und Winter ein gewisser Vorrang zu. In unserem Fall haben wir ein neunzeiliges Gedicht vor uns, das seinen Gehalt im Titel noch nicht preisgibt, vielmehr Erwartung und verhaltene Erfüllung signalisiert. Durchaus raffiniert ist es gebaut. Trochäisch, also im Wechsel von betonter und unbetonter Silbe geformt, ist sein Grundrhythmus, jeweils vier Zeilen bilden eine metrische Einheit; die Zeilen 1 und 4, männlich, also betont endend, rahmen die weiblich endenden Zeilen 2 und 3. Doch im weiteren Verlauf hat Mörike ein Moment des Innehaltens, der Reflexion eingeschaltet. Nicht nur die Reimstruktur verändert sich – an die Stelle des Paarreims in den Zeilen 2 und 3 tritt ein wechselnder, auch die Folge von männlich und weiblich vertauschender Reim in den Zeilen 5, 6, 7 und 9 -, aufgesprengt wird dieser Rhythmus auch durch den Einschub der reimlosen Zeile 8, die in Korrespondenz steht mit dem Titel und durch den Einzug inhaltlich herausgehoben wird. Signalisiert der Titel Erwartung, verhalten nur Erfüllung, so stellen sich nun in Zeile 8 Zuversicht und freudige Erfüllung ein. Das Paradox sei formuliert: je intimer der Gegenstand, desto größer ist Mörike.
Unzweifelhaft haben wir ein Frühlingsgedicht vor uns, doch fehlen diesem Gedicht landläufige Insignien, die sich mit dieser Jahreszeit verbinden. Es fehlt jeder unmittelbare Bezug auf eine Frühlingslandschaft, es fehlen beinahe auch alle konkreten Naturphänomene, sieht man einmal von den träumenden Veilchen ab. Wahrgenommen werden Atmosphäre und Landschaft aus der Perspektive eines denkenden und träumenden Ichs. Nicht die Natur selbst bildet den Gehalt der Verse, sondern all das, was sie an Empfindungen im Gemüt des schauenden und hörenden Ichs auslöst. Es ist eine subjektivierte Natur, die uns begegnet und deren Konturen sich aufzulösen scheinen. Schon der Beginn weckt unbestimmte Assoziationen, stellt dem Leser anheim, was er mit dem flatternden blauen Band verbinden soll: vielleicht – als Eigenschaft des Frühlingsgottes – einen stürmischen Wind, der den blauen Himmel aufreißt, den vertrauten Duft von Frühlingsblumen umher wehen und ihn spüren lässt, aber auch den „Harfenton“ dem lauschenden Ich zuträgt. Menschliche Eigenschaften werden den Veilchen zugeschrieben: träumend, mithin schon keimhaft existierend, reifen sie hoffnungsvoll ihrem Erscheinen entgegen.
In Zeile 7 lässt das Gedicht, markiert durch den Gedankenstrich am Anfang, uns neuerlich innehalten: „Horch, von fern ein leiser Harfenton!“ Was das Ich wahrnimmt, sind die Klänge einer Äolsharfe, eines in den empfindsamen Gärten des 18. Jahrhunderts anzutreffenden, Kunst und Natur vereinigenden Instruments, in dem der Wind harfenähnliche Geräusche erzeugt; in einem seiner schönsten Gedichte, „An eine Äolsharfe“ betitelt, hat Mörike sie besungen. Diese Wahrnehmung löst den verhaltenen Jubel aus, der die beiden letzten Zeilen erfüllt. „Vernommen“, mit dem Gehör wahrgenommen hat das Ich den Frühling, der in der Zeile zuvor emphatisch in einer hergebrachten stilistischen Wendung angerufen wird. Pulsierende Hoffnung gibt sich in den beiden Schlusszeilen zu erkennen, Hoffnung auf Licht und Wärme, Hoffnung vielleicht auch, Mörikes Lebensschicksal lässt diese Annahme zu, auf bessere, menschlichere Verhältnisse. Etwas davon kann uns auch sein Gedicht vermitteln.
Jochen Golz
Prof. Dr. Jochen Golz; Ehrenpräsident der Goethe-Gesellschaft Weimar