Putsch gegen Pachamama? Bolivien und das Experiment des andinen Sozialismus
Was für ein Land! Mit 1.098.581 qkm dreimal so groß wie die Bundesrepublik, aber mit nur elf Millionen Einwohnern, darunter 36 indigene Völker. Vom Altiplano über die Sechstausender der Königskordillere bis hinunter ins amazonische Tiefland hat es eine Diversität wilder Landschaften zu bieten. Nur das Meer fehlt. Den Zugang zum Pazifik hat Bolivien Ende des 19. Jahrhunderts im Salpeterkrieg gegen Chile verloren. Überhaupt büßte das Land die Hälfte seines ursprünglichen Territoriums ein: Durch verlorene Kriege und unfähige Herrscher. Seit der Unabhängigkeit im Jahr 1825 musste Bolivien mehr Präsidenten erdulden als Jahre ins Land gingen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beherrschten drei Zinnbarone die wirtschaftlichen und politischen Geschicke, die überwiegend im Ausland residierten.
Die Revolution von 1952/53 brachte eine Landreform, die Verstaatlichung der Bergwerke, die Schulpflicht und das allgemeine Wahlrecht – auch für Frauen, Arme und Indígenas. Doch der Bergbau blieb in einem Staatskapitalismus stecken, die Landreform reichte nicht bis ins Tiefland und das ganze Revolutionsprojekt war in der Tradition der europäischen Arbeiterbewegung blind für die alten andinen Kollektivstrukturen, die sich über die Jahrhunderte des Kolonialismus, der „Ausrottung des Aberglaubens“, Geringschätzung und Missachtung bis in die Gegenwart erhalten haben. Mit Streit zwischen den Führern und Spaltung der Bewegung mündete es ab 1964 in 18 Jahre teilweise blutiger Militärdiktaturen. Auch die Phase der Redemokratisierung konnte ab 1982 nur vordergründig politische Stabilität schaffen. Bolivien blieb das ärmste Land Südamerikas. Der Staat lebte von ausländischer Entwicklungshilfe, bescheidenen Exportrenten und nicht unbeträchtlichen Einnahmen aus dem Kokaingeschäft. Die Gesellschaft war gekennzeichnet von ethnischen Differenzen, geplagt von sozialen Klüften und Konflikten – nicht zuletzt um die Kokavernichtung. Parteien und politisches System litten unter galoppierendem Legitimitätsverlust.
Das waren die Voraussetzungen für den Erdrutschsieg (54 Prozent) des Kokabauernführers Evo Morales bei den Wahlen vom Dezember 2005. „Weil er einer von uns ist“, wurde der aus ärmsten Verhältnissen stammende, erste indigene Präsident des Landes gewählt. Nie hatte er eine höhere Schule besucht. Seine Schule war die Gewerkschaft der Kokabauern, seine Prüfungen der Widerstand gegen die von der US-Regierung diktierte Kokavernichtungspolitik. So wurde Evo Morales zur Verkörperung des Kampfes um nationale Souveränität und zur Identifikationsfigur für alle Unzufriedenen im Land. Mit seinem Movimiento al Socialismo (MAS) hatte er sich nichts weniger vorgenommen als eine Neugründung Boliviens, eine Entkolonisierung, einen umfassenden Prozess des Wandels.
Mit der neuen Verfassung von 2009 wurde Bolivien zum Plurinationalen Staat. Die Rechte der Indigenen sollten aufgewertet werden, ihre tradierten Organisationsformen gleichwertig sein. Die Rohstoffe gehören nun dem Volk, verwaltet von der Regierung. Das Kokablatt wurde mit Artikel 384 zum andinen Natur- und Kulturerbe. Und während die Welt gebannt auf Bolivien schaute und fürchtete, nunmehr mit Kokain überflutet zu werden, gelang es gerade unter einem Kokabauern, den Anbau und das Drogengeschäft einzudämmen: Durch soziale Kontrolle, nicht gegen, sondern durch die Bauern und ihre Gewerkschaftsorganisationen. So gelang es, die Dauerkonflikte zu beenden und die Gewalt aus dem Thema zu nehmen.
Die Nationalisierung der Erdöl- und Erdgasressourcen erfolgte medienwirksam am 1. Mai 2006. Im Wesentlichen wurden die Gewinne neu verteilt: weniger für die ausländischen Investoren, mehr für die Staatskasse. Die jährlichen Einnahmen stiegen von 247 Mio. US Dollar auf 2,8 Mrd. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs um 327 Prozent, so dass Bolivien zusammen mit Uruguay Platz eins beim Wirtschaftswachstum in Lateinamerika belegte. Und bei den Devisenreserven im Verhältnis zur Wirtschaftskraft kam das das einstige Armenhaus ohne Bonität auf Platz zwei hinter Peru.
Der Ressourcenboom ermöglichte eine Sozial- und Umverteilungspolitik. Ein Mindestlohn und eine Mindestrenten wurden eingeführt – und beide mehrfach angehoben –, ein konjunkturabhängiges 14. Jahresgehalt ab einem Wirtschaftswachstum von 4 Prozent, ein Mutter- und Kind-Bonus sowie eine Schuljahresabschlussprämie. Die Schulbesuchsquote liegt bei 98 Prozent, die durchschnittliche Lebenserwartung stieg von 64,4 (2004) auf 71,2 Jahre (2018). Auf diese Weise konnte die extreme Armut im Land von 38 auf 18 Prozent gesenkt werden; 1,7 Millionen Bolivianerinnen und Bolivianer (rund 15 Prozent der Bevölkerung) stiegen aus der Unterschicht in die Kategorie der sogenannten „gefährdeten Mittelschicht“ auf. Sparguthaben und Binnenkaufkraft wuchsen – und federten erste Krisensymptome ab. Denn bereits seit 2015 gibt es Defizite und die Devisenreserven schmelzen. Das Erfolgsmodell beruhte auf Extraktivismus, dem Export nicht erneuerbarer Rohstoffe, und war mit dem Fall der Weltmarktpreise für Erdöl und Erdgas gefährdet. Ein Strukturwandel fand nicht statt, eine Diversifizierung der Wirtschaft höchstens ansatzweise. Die Einkommen stiegen. Doch nach wir vor sind die meisten Arbeitsverhältnisse prekär. 58 Prozent der arbeitenden Bevölkerung sind nach wie vor ganz oder teilweise auf den informellen Sektor angewiesen. Frauenlöhne liegen um 44 Prozent unter denen der Männer.
Doch es war keine Wirtschaftskrise, die die politische Krise nach den Wahlen vom Oktober 2019 auslöste. Es war eher die Hybris der Macht, einsame Entscheidungen, autoritäre Tendenzen, Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit (etwa in der Umwelt- und Indígenapolitik) und der Verlust der Mittelschichten, gerade auch der Linksintellektuellen, durch zunehmend sterile und inhaltsleere Diskurse. Neue Ideen suchte man vergeblich. Einigendes Band und quasi einziges Thema der schwachen und fragmentierten Opposition war aber F21. Bolivien hatte seit 2005 Jahre ungekannter demokratischer Stabilität erlebt: Präsidentschaftswahlen, Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung, ein Abwahlreferendum und das Referendum zur Annahme der neuen Verfassung – die MAS hatte sie alle mit komfortablen absoluten Mehrheiten gewonnen und verfügte über eine Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern des Parlaments. Doch am 21. Februar 2016 entschied sich eine knappe Mehrheit im Referendum gegen eine Änderung des Verfassungsparagraphen 168, der nur eine Wiederwahl des Präsidenten in Folge erlaubt. Morales setzte sich über dieses Votum hinweg, und die Menschen sahen sich nun um das neue Demokratieerlebnis betrogen, das er ihnen zuvor beschert hatte.
Die MAS gewann die Wahlen zwar noch immer mit rund 47 Prozent – doch damit waren es 14 Prozentpunkte weniger als beim letzten Mal, und um einen Sieg im ersten Wahlgang zu erreichen, braucht es eine absolute Mehrheit oder ein Ergebnis von über 40 Prozent bei zehn Prozentpunkten Vorsprung zum zweitplatzierten Kandidaten. Um diese Prozentpunkte ging es. Nachdem am Wahlabend die Schnellauszählung der Stimmen (nicht die amtliche) bei einem für die Opposition günstigen Ergebnis angehalten wurde, kam es in der darauffolgenden Nacht zu Protesten und Straßenblockaden. In sechs der neun Departements gingen die Wahlbüros in Flammen auf, und der Auszählungsprozess endete im Chaos. Schließlich meuterte die Polizei, und der Armeechef forderte Morales zum Rücktritt auf. Der ging am 10. November ins Exil. Zwei Tage später rief sich die zweite Vize-Präsidentin des Senats, Jeanine Añez, zur Interimspräsidentin aus. Weder hatte das Parlament ein Quorum, die meisten Abgeordneten konnten wegen der Unruhen gar nicht ins Parlament kommen, noch wäre sie in der verfassungsmäßigen Abfolge an der Reihe gewesen. Zudem war der Rücktritt von Morales auch nicht vom Parlament angenommen worden, wie die Verfassung das vorsieht. Auch der bei den Wahlen Zweitplatzierte, Carlos D. Mesa (mit ca. 36-37 Prozent der Stimmen), war damit aus dem Rennen. Die kleine Splitterpartei von Frau Añez hatte vier Prozent der Stimmen gewonnen! Dies kann also nur als Machtergreifung bezeichnet werden. Die mit 37 Jahren längste Phase der Demokratie in der Geschichte Boliviens war vorüber.
Von Anfang an war klar, dass es Añez und ihren Anhängern nicht nur um die Wiederherstellung von Sicherheit, Stabilität und die Organisation von Neuwahlen ging. Als Añez den Regierungspalast betrat, hielt sie eine Bibel in die Höhe. Bunte Wiphalas, Indígena-Fahnen, wurden verbrannt. Nie mehr sollte „Pachamama“, die von indigenen Andenvölkern verehrte personifizierte Erdmutter, hier einziehen. Mehrfach versprach Añez, eine Rückkehr „der Wilden“ an die Macht zu verhindern. Im Januar 2020 erklärte sie, dass sie selbst kandidieren wolle, was die politische Rechte weiter spaltete. Ein außenpolitischer Kurswechsel um 180 Grad und ein Filetieren der Staatsbetriebe machten deutlich, dass es um eine politische Rückkehr zum Status quo vor 2006 ging. Geschäftsführer der staatlichen Fluglinie BOA wurde der Chef der privaten Linie AMAZONAS. Die Korruption erreichte neue Dimensionen und die Justiz wurde als politisches Instrument missbraucht. Anhänger und Funktionäre der MAS wurden mit Prozessen überzogen und eingeschüchtert.
Dann kam Corona. In 14 Jahren MAS-Regierung war viel im Bereich der Basisgesundheit geschehen. Doch einer solchen Pandemie steht das Land weitgehend mittellos gegenüber. Mit der Anschaffung völlig überteuerter Beatmungsgeräte, die dazu auch nicht funktionstüchtig waren, verprellte die „Interimsregierung“ auch MAS-Kritiker, die ihr bisher noch die Stange gehalten hatten. Mit Straßenblockaden im ganzen Land verhinderten die sozialen Bewegungen mit dem Gewerkschaftsbund COB an der Spitze im August trotz Corona eine neuerliche Verschiebung der Wahlen. Am 18. Oktober 2020 gewann das Spitzenduo der MAS die Wahlen mit 55 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von 88 Prozent trotz der Pandemie. Ein überzeugender Sieg für die Wiederherstellung der Demokratie. Präsident wurde der ehemalige Superminister für Wirtschaft und Finanzen, Luis Arce, Vizepräsident der ehemalige Außenminister aus dem Volk der Aymara, David Choquehuanca.
Die Nominierung hatte Wahlkampfleiter Morales vom argentinischen Exil aus vorgenommen. Doch der neuen Regierung gehören nach einem Beschluss der Parteibasis ansonsten keine Minister der früheren Kabinette an. Es geht um einen Neuanfang und darum, das tiefgespaltene Land zu versöhnen und rassistische Gräben zuzuschütten. Keine leichte Aufgabe, nach allem was geschehen ist. Sicherlich ist die Fortführung jenes Prozesses des Wandels angestrebt, der im November 2019 unterbrochen wurde. Die Rahmenbedingungen dafür sind heute ungleich schwieriger als im Jahr 2006. Zunächst muss das Land durch Corona- und Wirtschaftskrise gesteuert werden. Ohnehin ging es auch in der Vergangenheit faktisch weniger um einen „andinen Sozialismus“ und „Pachamama“, sondern um eine keynesianistische Wirtschafts- und Sozialpolitik, sowie um die Erlangung von wirtschaftlicher und politischer Souveränität. Und dabei ist ziemlich viel erreicht worden.
Anmerkung
Am 12. März 2021 teilte die Ex-Präsidentin Jeanine Áñez über den Online-Nachrichtendienst Twitter mit, dass gegen sie und mehrere Minister der von ihr geführten Übergangsregierung Haftbefehle erlassen worden seien. Ihnen werde „Aufruhr“ und „Terrorismus“ vorgeworfen. Es wird berichtet, dass mehrere Festnahmen erfolgt seien. Áñez beklagte via Twitter, „die politische Verfolgung“ habe begonnen. (Matthias Lehnert, Thomas-Morus-Akademie)
Über den Autor
Dr. Robert Lessmann ist Politologe und Soziologe sowie Autor der Buches „Das neue Bolivien“, Rotpunkt Verlag, Zürich (2010). Ferner ist er Mitarbeiter der Informationsgruppe Lateinamerika in Wien und deren Zeitschrift „Lateinamerika Anders“ sowie Lehrbeauftragter an der Universität zu Köln. Informationen und Texte finden sich auf seiner Internetseite.
Bilder
Indígenas schwenken die Wiphala, das traditionelle Symbol des Inka-Teilreiches Qullasuyu. Bild: OscarFloresBolivia auf Pixabay, gemeinfrei.
Der Berg Chacaltaya in der Königskordillere im Anden-Hochland. Bild: Tobias Jelskov auf Unsplash, gemeinfrei.
La Paz mit der Hochseilbahn Mi Teleférico. Bild: Snowscat auf Unsplash, gemeinfrei.
Der Río Piraí mit der Stadt Santa Cruz de la Sierra. Bild: Manuel Terceros auf Unsplash, gemeinfrei.
„Söhne der Pachamama“: Rumiñahui, Simón Bolívar, Fidel Castro, Hugo Chávez und Evo Morales auf einem Poster im kanadischen Quebec. Bild: Fightback/ La Riposte auf Flickr (CC BY-SA 2.0)
Vor der Commission on Narcotic Drugs (CND) präsentiert Präsident Evo Morales im März 2012 ein Coca-Blatt.
Der Autor bei einer Diskussionsveranstaltung mit Präsident Morales im Wiener Presseclub Concordia, 2009. Bild: Superikonoskop auf Wikipedia (CC BY-SA 3.0).
Interimspräsidentin Jeanine Áñez mit US-Vizeaußenminister David Hale, Januar 2020. Bild: Embajada de los Estados Unidos en Bolivia auf wikimedia commons, gemeinfrei.
Luis Arce als Wirtschaftsminister beim International Economic Forum Latin America and the Caribbean 2015. Bild: Julien Daniel / OECD auf Flickr (CC BY-NC-ND 2.0)
13. März 2021 || von Dr. Robert Lessmann, Politologe, Soziologe, freier Journalist und Autor