Mapping the Collection im Museum Ludwig
Neu gelesen und neu kartiert: Mapping the Collection im Museum Ludwig
Asco, Vito Acconci, Ruth-Marion Baruch, T.C. Cannon (Kiowa/Caddo), Barbara Chase-Riboud, Edward Curtis, Dan Graham, David Hammons … Sharon Hayes, Robert Indiana, Pirkle Jones, Corita Kent (Sister Corita), Sherrie Levine, Roy Lichtenstein, Morris Louis, Gordon Matta-Clark, Ana Mendieta, Senga Nengudi, Louise Nevelson, Kenneth Noland, Claes Oldenburg, Adam Pendleton, Howardena Pindell, Adrian Piper, Yvonne Rainer, Robert Rauschenberg, Martha Rosler, Carolee Schneemann, Leon Polk Smith, Andy Warhol, Hannah Wilke, David Wojnarowicz …
Einleitung
Kennen Sie all diese Namen? Die Kuratorin Janice Mitchell hat sich mit dieser Ausstellung im Museum Ludwig in Köln ein ehrgeiziges Ziel gesetzt. Es geht um nicht mehr, aber auch um nicht weniger als das neue Lesen einer Sammlung, welche die Kölner schon zu kennen glauben. Wer an das Ludwig denkt, hat die amerikanische Pop Art im Kopf, Künstler wie Andy Warhol, Roy Lichtenstein oder Robert Rauschenberg. Pop empfinden die meisten Besucher als leicht zu konsumierende Kunst, die mit Ironie die Klischees unserer Massenkultur und die ästhetischen Prinzipien des Banalen verwendet – und parodiert. Schon in den vergangenen Jahren hat sich allerdings im Ludwig durch eine neue Hängung herauskristallisiert, dass Pop Art politisch war. Wenn Andy Warhol einen „roten Rassenaufstand“ (Red Race Riot) in den Südstaaten als Siebdruck zeigte, ist dies ein politischer Akt. Dasselbe gilt für Arbeiten von Ed Kienholz wie sein tragbares, antipatriotisches Kriegerdenkmal oder für Wolf Vostells blutbefleckte Miss America. Die 1960er Jahre waren ein Jahrzehnt politischer Umbrüche – oder des Hoffens darauf.
Gezeigt wurden im Haus bislang meist dieselben Namen, die durch die Struktur des Kunstmarktes und des Museumswesens in den 1960er bis 1980er Jahren den Weg in die Ausstellungen fanden: weiße Männer der Mittelschicht. Feministinnen, Schwarze, amerikanische Ureinwohner, lateinamerikanische Künstler und Künstlerinnen – alle diese Menschen haben auch bedeutende Kunst geschaffen. Es ist Kunst, die im gegenwärtigen Reden über Politik eine besondere und wichtige Stimme hat.
Wer das nicht ganz einfach zu lesende Beiheft verwendet, durchläuft einen Schnellkurs amerikanischer Geschichte der Jahre von 1955 bis 1975. Trotzdem lohnt die Lektüre. Man bringt als Mitteleuropäer gewöhnlich eben nicht das historische Hintergrundwissen mit, um die Werke einordnen zu können. Die ästhetisch verhaltene Präsentation der Ausstellung selbst erinnert oft eher an ein historisches Museum als eine Ausstellung in einem Kunstmuseum. Das ergänzend ausgestellte Material hilft aber, die auf den ersten Blick nicht einleuchtende Brisanz mancher Werke zu erhellen.
Dazu kommt im Beiheft ein Exkurs in gendergerechter Sprache mit all den ästhetischen Verwerfungen und den Verzwergungen der deutschen Sprache, die diese Form des Redens mit sich bringt. Es lohnt sich, das gendergerechte und auf Ethnien bedachte Formulieren einmal durchzuexerzieren, da es ein grundsätzliches Nachdenken über die der Sprache eigene Hierarchie bewirkt. Die Frage ist, ob diese ‚Gesellschaft‘ tatsächlich abbildet. Eine Falle des Genderns ist, dass sich die Kategorien in den vergangenen Jahren verfeinert haben. Neben den binären Kategorien männlich / weiblich haben sich in den vergangenen Jahren eben auch Positionen zwischen den Geschlechtern bemerkbar gemacht. Und doch: Sprache als System kann der Komplexität des Lebens und der Vielfalt politischer Forderungen nie gerecht werden. Sie vereinfacht. Zudem unterscheiden Sprachwissenschaftler zwischen grammatischem Geschlecht und biologisch oder gesellschaftlich definiertem Geschlecht.
Zu fehlen scheinen mir im Konzept der Ausstellung künstlerische Fragen, die mit Kritik am Kunstbetrieb und deshalb mit den wirtschaftlichen Aspekten von Kunst und Kunstmarkt zu tun haben. Mitchell fragt zwar nach Ethnie und Geschlecht, aber nicht nach Klasse. Es kann durchaus sein, dass jemand vom Kunstbetrieb vergessen wird, nicht weil er schwarz oder sie weiblich etc. ist, sondern da diese Person der falschen Schicht angehört. Gesellschaft ist meist schwieriger strukturiert, als Geisteswissenschaftler sie nachzubauen versuchen. Dass z.B. Mäzenatentum eben auch bedeuten kann, dass Kunst korrumpiert wird, sprechen einige Objekte im Museum an, zum Beispiel Werke von Hans Haacke und Andrea Fraser.
Was tut Janice Mitchell konkret? Sie wählt Schlüsselwerke der zwei heroischen Jahrzehnte der amerikanischen Kunst aus und setzt sie in Beziehung zu Künstlern und Positionen, die ihr bislang zu fehlen scheinen. Teils findet sie diese im Depot der unermesslichen Kölner Sammlung, teils wurden Kunstwerke ausgeliehen, die eine Ergänzung bedeuten, sodass sich ein wesentlich vollständigeres Panorama der hier ausgestellten Zeitspanne in den Vereinigen Staaten als bisher ergibt.
Es werden u.a. Werke von T.C. Cannon, einem Native American gezeigt, schwarze Künstler wie David Hammons oder Künstlerinnen wie Barbara Chase Riboud, die sich als Frau und Farbige auf dem Kunstmarkt durchsetzen mussten. Neben spezifisch feministischen Statements finden sich Objekte, die im Zusammenhang der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre gesehen werden müssen, es finden sich aber auch im letzten Teil der Ausstellung Persönlichkeiten wie Robert Rauschenberg oder David Wojnarowicz, die als queere Künstler ihr Unwohlsein am gesellschaftlichen Status Quo formulierten.
Als die Ausstellung vorbereitet wurde, konnte niemand wissen, was in den vergangenen drei Monaten in den U.S.A. geschehen würde und es blitzt auf, wie sehr die Black Lives Matter- Bewegung fortschreibt, was Ende der 1960er Jahre geschah und dazu gesagt wurde. In einer Videoarbeit liest die Tanzperformance-Künstlerin Yvonne Rainers einen Text vor, der sich auf das Ersticken eines Schwarzen durch die Polizei und sein flehentliches Rufen bezieht: „I can’t breathe“ – „Ich kann nicht atmen…“. Diese Worte wurden schon vor Jahren vorgelesen, lange bevor George Floyd ermordet wurde. Das Blut stockt dem, der diesen Film sieht. Es ist unheimlich, wie sich Situationen zu wiederholen scheinen und sich dabei steigern. Ein „second coming“, W.B. Yeats apokalyptische Wiederholung katastrophaler Ereignisse scheint sich anzudeuten.
Momentaufnahmen
Zielscheiben – Kenneth Noland, Jasper Johns
Beginn und ungefähres Ende der Ausstellung werden durch zwei Zielscheiben gebildet, eine von dem Hard Edge-Maler Kenneth Noland, eine von Jasper Johns, einem Vorläufer der Pop Art. Während die Hard Edge– Maler in den 1950er Jahren mit einfachsten, fast geometrischen Setzungen Farbwirkungen auf den Raum untersuchten, führt Johns eine unterschwellige Politisierung dieser Kunst ein. Johns war als homosexueller Künstler in der Zeit der Hexenjagd des konservativen Senators McCarthy sicherlich auch potentielle Zielscheibe und arbeitete ab Mitte der 1950er Jahre nicht von ungefähr mit Bildzeichen wie der amerikanischen Fahne, die unpatriotisch kühl von ihm verarbeitet wurden.
Native American
Ein Seitenkabinett wartet mit einem relativ großformatigen Gemälde von T.C. Cannon auf, das sich auf das Massaker von Wounded Knee bezieht. Hier wurden kurz nach Weihnachten 1890 hunderte wehrlose Menschen verschiedener Sioux-Stämme von einem Kavallerieregiment ermordet. Cannon, aus dem Stamm der Kiowa aus Oklahoma, verarbeitet das Trauma in einer Komposition mit dunstigen Andeutungen, Umrissen, Buchstaben und Pfeilen auf unfolkloristische Art und Weise. Ein Problem der Kunst indigener Künstler war und ist, dass durch die Käuferschicht bestimmte klischeehafte Erwartungen die Produktion lähmen können. Cannon arbeitete dagegen mit Bildideen, die an Rauschenberg oder Larry Rivers, also Vertreter der Pop Art erinnerten. Die Kuratorin setzt das Gemälde in Bezug zu einem Werk von Lichtenstein, das einen roten Schuppen zeigt, wie man ihn überall in ländlichen Gegenden, gerade in Neu-England findet. Oft brachten skandinavische Siedler diese Architekturen mit, die heute für ein ganz bestimmtes, scheinbar typisches Bild des ländlichen Nordamerikas stehen. So stehen Eindringlinge und Ureinwohner in diesem Raum einander gegenüber.
Wie es sein mag, jung, Frau, schwarz und Künstlerin zu sein
Young, gifted and black
We must begin to tell our young
There’s a world waiting for you
This is a quest that’s just begun
(Nina Simone / Donny Hathaway)
Der erste größere zentrale Raum stellt eine lange nicht gezeigte Plastik von Louise Nevelson, der ältesten Künstlerin der Ausstellung vor. Nevelson hatte zunächst als Frau eines reichen Unternehmers eine privilegierte Stellung, bis sie sich von ihrem Mann trennte und ein Leben ganz für die Kunst anstrebte. Zunächst als Malerin ausgebildet, eroberte sie sich autodidaktisch eine neue Welt von Skulpturenassemblagen. Gefundene Gegenstände, etwa Baluster, Teile von Musikinstrumenten, von Möbeln des 19. Jahrhunderts wurden auseinandergesägt und zu neuen Architekturen zusammengesetzt, die ab den 1940er Jahren zu in den Raum greifenden Environments wurden. Lange vor den Pop Art-Künstlern schuf sie also begehbare künstlerische Welten und ist damit eine der Pionierinnen der Kunst Amerikas. Oft, wie im Falle der hier gezeigten Arbeit, sind die Werke durch barocke, vergoldete Altarretabel Mexikos oder New Mexicos beeinflusst. Erst spät gelang es Nevelson wirklich, von ihrer Kunst zu leben, was auch an der Unterschätzung von Künstlerinnen in der Galerienszene dieser Zeit liegt.
Eine gewisse visuelle Ähnlichkeit besteht zu den Plastiken von Barbara Chase Riboud, einer der Doppelbegabungen dieser Schau. Chase-Riboud wurde 1979 international bekannt durch den Roman über Sally Hemings, eine Sklavin Thomas Jeffersons, die im Schatten dieses amerikanischen Präsidenten lebte und vergessen wurde, obwohl sie sein Bett lange teilte. Neben der Tätigkeit als Autorin ist Chase-Riboud eine engagierte Bildhauerin, die eine ganz neue Formgattung erschuf. An ihren reliefartigen Arbeiten der 1960er Jahre störte sie das Problem des Sockels, den sie durch eine rockartige oder robenartige textile Struktur ersetzte. Dadurch erhalten die Skulpturen einen schwebend leichten Charakter und erinnern in ihrer Mischung aus hartem Kopf und weichem Schweif an Masken in Kombination mit einem Kostüm. Ende der 1960er entstand so eine erste Statue zu Malcolm X, die einige Jahrzehnte später in eine erneute Serie mit demselben Namen mündete, als Memoria „…für etwas, das wir 1865 hätten erledigen sollen“, so die Künstlerin.
Die kubanisch-nordamerikanische Künstlerin Ana Mendieta wiederum nimmt sich in einer frühen Arbeit die Geschlechteridentität vor. In einer Performance, die durch Fotos dokumentiert wurde, klebte sie sich einen Bart an, den sich ein Freund parallel dazu Stück für Stück abnahm. In kleinen Schritten verwandelt Ana Mendieta sich nicht in einen Mann, aber sie versucht, in eine andere Haut zu schlüpfen und sich in eine Rolle hineinzufühlen, die eine andere Körpersprache, eine andere gesellschaftliche Wirkung und einen dadurch hypothetisch veränderten Status bedeutet. Mendietas Kindheit spielte sich in einem katholischen Milieu ab, bis sie 1960 durch die politischen Verhältnisse bedingt elternlos in die U.S.A. katapultiert wurde. Dieses Ausgeliefertsein als Teenager mag als wichtige Hintergrundfolie für den angeklebten Bart und die damit verbundene Sehnsucht nach männlicher Trutzigkeit verstanden werden. Gleichzeitig geht Ana Mendieta ironisch mit dem Klischee des machistischen Schnäuzerträgers um.
Wie es sein mag, alles und doch gar nichts politisch erreicht zu haben
Ein wesentlicher Teil der Ausstellung widmet sich den Kämpfen der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren. Dabei erscheinen Arbeiten der 60er Jahre zusammen mit Werken, die nicht vor allzu langer Zeit entstanden sind. David Hammons beispielsweise wurde erst spät von der Kunstszene registriert. Bekannt wurde er durch das Verkaufen von Schneebällen im Central Park in New York 1983 (einer Aktion, die in einem Gemälde Henry Taylors auf der vergangenen Biennale in Venedig wiederholt wurde), sowie einer Version des weiß geschminkten Bürgerrechtlers Jesse Jackson 1989, die das „black facing“ in amerikanischen Varietés parodierte. Die hier gezeigten Arbeiten sind zum Teil durch Abdrücke seines Körpers entstanden, teils virtuos gezeichnet und verbinden vom künstlerischen Prozess her die ursprünglichsten Formen von Kunst – eine Körperspur – mit höchstem Raffinement. Hammons bildet sich selber vor der amerikanischen Fahne mit dem Spruch „Feed Folks“ ab. Nach den Errungenschaften der 1960er Jahre setzte trotz allem ein wirtschaftlicher Niedergang für viele Afroamerikaner ein und die Gleichstellung im Lohnsektor lässt bis heute auf sich warten, bis hin zum Hungern inmitten einer eigentlich reichen Gesellschaft.
Adrian Piper wiederum, Philosophieprofessorin, Künstlerin, Schriftstellerin und Yoga-Expertin, eine komplexe, eindrucksvolle Persönlichkeit, fotografiert ein kleines schwarzes Mädchen von einem oben liegenden Blickpunkt aus und bedeckt die weiße Fläche dahinter mit patzig-autoritären Aussagen von Erwachsenen, die wir alle schon einmal gehört haben. Immer wieder geht es in diesen Sprüchen darum, dass Berichten zu Diskriminierung und Einschüchterung nicht geglaubt wird aus der Erwachsenensicht. Es ist schwer für ein Kind, Selbstbewusstsein zu entwickeln, wenn es stets von solchen verkleinernden Aussagen begleitet wird. Wer einmal mit amerikanischen Polizisten, Polizeibeamten oder auch Krankenhauspersonal zu tun gehabt hat, weiß, wie autoritär dieser Ton sein kann und welches Ostinato der amerikanischen Gesellschaft er abgibt. Er ist aber natürlich auch in Deutschland spürbar.
Logisch ist der nächste Schritt der Schau in die Zeit der politischen Demonstrationen ab ca. 1955. Werke von Robert Indiana und Sister Corita prägen diesen Bereich visuell mit ihren leuchtend bunten Plakaten in hypnotisierender Typografie. Wenn die Nonne Corita Kent sich dazu entschied, in leuchtenden Farben ein Newsweek-Titelblatt zum Vietnamkrieg nachzudrucken, dann war dies ein provokanter politischer Akt, der bei der kirchlichen Obrigkeit nicht gut ankam. Corita Kent, Andy Warhols „Lieblingsnonne“, war älter als die anderen Vertreter der Pop Art und hat eine Reihe von Pop-Künstlern mit ihrer Experimentierfreudigkeit entscheidend geprägt. Gerade sie ist eine jener Schlüsselfiguren, die dem größeren Publikum erst bekannt gemacht werden müssen, was gerade mit einer Ausstellung in Innsbruck geschieht. In der plakativen Wirkung sehr ähnlich ist eine Graphik von Robert Indiana, der Mississipi als das „Hinterteil Amerikas“ präsentiert, da dort die Aufhebung der Rassentrennung mit am schleppendsten umgesetzt wurde. Diesen Bereich begleitet die Kuratorin mit Dokumentationen zu politischen Aktionen dieser Jahre, den Freedom Rides – Busfahrten gegen die Segration im Reisebus und den Chicago 7, einer Protestaktion während eines Parteitags der Demokraten.
The name of this tune is Mississippi goddam
And I mean every word of it
Alabama’s gotten me so upset
Tennessee made me lose my rest
And everybody knows about Mississippi – goddam …
(Nina Simone)
Wie es sein mag, jung, queer und Bohemien zu sein
Ein Teil des letzten großen Raums in der Schau beschäftigt sich mit Künstlern, die ihre Sexualität abseits des vermeintlich Normalen zum Thema machen. Eine frühe Installation von Robert Rauschenberg, entstanden wohl in der Zeit seines Coming Outs, zeigt einen leicht gerupften Gockel, der auf einer kitschig-plüschig austapezierten Kiste thront. Diese steht auf einem wackeligen Pfeiler inmitten eines Kissens; die ganz Struktur wird über kurz oder lang fallen. Collagen bedecken die Außenwände, Motive, die klassische Rollenbilder von Männern und Frauen wiederholen: der Cowboy, der Torero, der (Platz-) Hirsch … die Großmutter, das Fotomodell, die ehemalige Verlobte Rauschenbergs als blaue Silhouette…. Rauschenberg hinterfragt also das klassische Rollenmodell von Mann und Frau und stellt es als brüchig dar – 1955, lange bevor die Emanzipationsbewegung z.B. in Deutschland Fahrt aufnahm. Rauschenbergs Odaliske, so der Titel, stößt eine Diskussion an, die damals weit über sein eigenes Coming Out hinausging und zeigt, wie sehr Kunst zeitlich vor der Politik als Seismograf gesellschaftlicher Verwerfungen fungieren kann.
David Wojnarowicz lebte zwanzig Jahre nach Rauschenberg in derselben Stadt, in New York und gehörte der Generation nach 1968 an, die vieles experimentell ausleben konnte und dann tragisch in der AIDS-Welle nach 1982 unterging. Er war Fotograf, letztendlich Konzeptkünstler, aber auch Schriftsteller. In seinen Arbeiten erforscht er auf provokant offene Weise seine Sexualität. Der junge Fotograf zog durch die Orte der queeren Subkultur im Big Apple, den Times Square, Abbruchhäuser, Orte, wo flüchtige sexuelle Kontakte geknüpft wurden oder mit Drogen experimentiert wurde und fotografierte sich selbst oder seinen Partner. Er trug dabei eine Maske mit dem Gesicht des französischen Dichters Arthur Rimbaud, der einhundert Jahre früher ein ähnliches Leben als Ausgestoßener, als Bohemien und „Poète Maudit“ geführt hatte. Während Rimbaud jedoch ein viel beachtetes junges Talent inmitten einer noch relativ luxuriös-elitären Kunstszene war, erscheint Wojnarowicz inmitten verödeter, schmuddeliger und menschenfeindlicher Orte einer Stadt im Niedergang. Er entlarvt den Mythos des glänzenden Außenseiters als Talmi. Die Bohème hat eben auch immer ihre billig-schäbige Seite. Wojnarowicz zeigt einen wegen seiner Sexualität aus dem Raster fallenden Menschen auf eine verzweifelte Suche nach einem Vorbild. Es ist eine Suche, die nicht funktioniert, er wird in dieser Metropole verloren gehen – etwas, was Wojnarowicz dann tatsächlich widerfuhr.
Auch hier erscheint in der Ausstellung Mapping the Collection das Motiv einer Wiederholung von Geschichte. Rimbaud war eine Figur der Jugendrevolten in Europa um 1890 und war trotzdem – mit einem Jahrhundert Abstand – Vorbild für einen jungen Mann. Die Ausstellung spricht indirekt über die Jahre um 1968. Es geht ihr aber auch um das Hier und Jetzt im Jahr 2020. Es geht ihr um politische Fragen, die jede Generation neu stellen wird und muss – und die Amerika im Zeitalter Trumps gerade besonders bewegen.
Bildrechte:
Titelbild: rba_d053366_07, Installationsansicht Mapping the Collection, Museum Ludwig, Köln 2020
Foto: Rheinisches Bildarchiv Köln / Nina Siefke
rba_d053366_05, Installationsansicht Mapping the Collection, Museum Ludwig, Köln 2020
Foto: Rheinisches Bildarchiv Köln / Nina Siefke
Die anderen Bilder im Beitrag wurden von Dr. Till Busse aufgenommen. Bildrechte: Museum Ludwig
28. Juli 2020 || ein Beitrag des Kunsthistorikers Dr. Till Busse.
Mit dem Kunsthistorikers Dr. Till Busse sind auch die Erkundung “Süße Südstadt” in Köln am 20.8.2020 sowie die Ferienakademie nach Valencia (28.10-2.11.2020) geplant.