Auf den Zusammenhang kommt es an!

Wer liest schon die ganze Bibel am Stück? Oder zumindest ein einzelnes Buch innerhalb dieser Bibel? Dabei besagt doch schon das aus dem Griechischen stammende Wort „Bibel“ (biblia = Bücher), dass es sich bei ihr um eine Bibliothek handelt. Und es spricht nichts dagegen, sie auch so zu nutzen, d. h. ein Buch „herauszugreifen“ und es von vorne nach hinten zu lesen. Aber wie bei der Lektüre eines Romans würde man um das Verstehen des Ganzen gebracht, wenn man immer nur einzelne „Häppchen“ aufnähme. Zwar ergibt die Lektüre einzelner Absätze durchaus Sinn, aber die durchgehende Lektüre z. B. eines ganzen Evangeliums bringt in jedem Fall zusätzlichen Erkenntnisgewinn. Nur so erhält man ein Gespür für die Besonderheiten eines biblischen Autors. Denn Lukas schreibt völlig anders als Markus, und Matthäus anders als Johannes – um nur die vier Evangelisten zu nennen. Und nur so sieht man, wo einzelne Abschnitte, die man eventuell aus dem Gottesdienst kennt oder einfach aus der Erinnerung im Kopf hat, eigentlich hingehören und in welchem Zusammenhang sie stehen.

Ein einziges Beispiel sei aus dem Lukasevangelium herausgegriffen.

Im 10. Kapitel findet sich die recht bekannte Erzählung von Maria und Marta (Lk 10,38-42): Jesus besucht die beiden Schwestern seines Freundes Lazarus. Während Maria sich sofort hinsetzt und zuhört, was Jesus zu sagen hat, ist Marta vollauf damit beschäftigt, dass der Gast etwas zu essen und zu trinken auf den Tisch bekommt. Man hört im Lesen geradezu das Geschirr klappern, wenn ständig von der „Besorgtheit“ Martas die Rede ist. Es überrascht nicht, dass diese allmählich sauer ist, dass ihre Schwester nicht mit anpackt. Marta beschwert sich entsprechend bei Jesus, der offensichtlich nicht nur Gast, sondern auch Autorität ist. Doch Jesus gibt Marta keineswegs Recht, hält ihr vielmehr ihre Besorgtheit vor und fügt zu allem Überfluss auch noch hinzu: „Maria hat den guten Teil gewählt.“ Bekannter ist vermutlich die Version der Einheitsübersetzung von 1980, Maria habe den „besseren Teil“ erwählt. Die veränderte Fassung von 2016 scheint die Sache in ihrer Eindeutigkeit, die kein Hintertürchen mehr offen lässt, noch schlimmer zu machen. Aber sie gibt den griechischen Text ganz korrekt wieder.

Hat Jesus also etwas gegen Hausarbeit? Oder, wie dieser Abschnitt oft ausgelegt wurde, plädiert er für ein kontemplatives Leben und gibt Frauen indirekt den Rat, in einen (Schweige-)Orden einzutreten? Dass dieser Lesungsabschnitt gerade bei vielen Frauen nicht gut ankam (und eventuell ankommt), kann man vor diesem Hintergrund verstehen. Doch allein das Gefühl der Zustimmung oder Ablehnung ist noch kein Kriterium, wie denn ein biblischer Text zu verstehen ist. Im Gegensatz zum vorhin erwähnten Roman versteht sich die Heilige Schrift eben nicht als Unterhaltungsliteratur, sondern als Gottes Wort mit eigenem, unter Umständen der bzw. dem Lesenden widersprechenden Anspruch. Es will – zumindest auch provozieren und in Frage stellen. Wie also steht es um Maria und Marta?

Wer den Evangeliumsabschnitt nur aus der Sonntagsmesse kennt, kann keine Idee davon haben, in welchem Zusammenhang er steht. Genau dieser Zusammenhang aber ist entscheidend für das, was Lukas mitteilen möchte.

Die direkt vorangehende Erzählung ist das noch berühmtere Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37): Ein Mann wird auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho von Räubern überfallen und niedergeschlagen. Ein Priester und ein ebenfalls zum Tempelpersonal gehörender Levit kommen nacheinander desselben Wegs. Die Richtung zeigt an, dass sie ihren einwöchigen Tempeldienst in Jerusalem beendet haben und sich vermutlich auf ihre dienstfreie Zeit mit der Familie freuen. Vor allem aber wollen sie sich vermutlich durch Kontakt mit dem Blut des Verletzten nicht unrein machen. Das würde aufwändige Reinigungsriten und u. U. eine Zwangspause im Tempeldienst (mit weniger Einnahmen in Form von Naturalien?) verursachen. Also wenden sie sich vom niedergeschlagenen Opfer bewusst ab und kümmern sich nicht. Ganz im Gegensatz zu einem anderen Juden, der der gesellschaftlich eher abschätzig betrachteten Gruppe der Samaritaner zugehört. Sein Weg Richtung Norden könnte ein Hinweis sein, dass er zu seinem Heiligtum auf dem Berg Garizim (bei Sichem im Norden Israels) unterwegs ist. Wie auch immer, er kümmert sich sofort um den Verletzten, verarztet ihn, führt ihn auf seinem Lasttier zur nächsten Herberge und hinterlässt beim Wirt Geld zur weiteren Pflege des Mannes.

Im Lichte dieses Gleichnisses verliert die Erzählung von Maria und Marta ihre Absolutheit: Im Gleichnis war es falsch, sich um Reinheit und Tempeldienst zu kümmern. Einzig die Besorgtheit um das Opfer wäre „der gute Teil“ gewesen, für den sich offensichtlich der so schlecht angesehene Samariter entschieden hat. Um seines positiven Beispiels wegen erzählt Jesus ja überhaupt das Gleichnis. Bei Maria und Marta hingegen war der Tischdienst das Falsche. Im konkreten Fall war einzig Zuhören angesagt. Von Hunger und Durst hatte Jesus nicht gesprochen. In diesem Sinn hat einzig Maria „den guten Teil“ erwählt und Marta tatsächlich den falschen. Kaum zufällig teilen sich die Beispiele auf die Geschlechter auf. Männer wie Frauen können die falsche Entscheidung treffen, Männer wie Frauen können den „guten Teil“ wählen.

In der Zusammenschau beider Fälle heißt das: Das Evangelium bietet uns kein Patentrezept, was im Leben zu tun ist, und es macht erst recht keinen Grundsatzvorschlag für die Berufswahl von Frauen. Es fordert auf und heraus, in jeder Situation, in jeder Begegnung mit einem Menschen neu zu fragen: Was ist jetzt „der gute Teil“? Was fromm klingt (im Gleichnis: Tempeldienst), ist nicht schon deshalb richtig. Aber auch wuselige Hilfsbereitschaft kann in einem bestimmten Augenblick fehl am Platze sein. Wie erzählte mir einmal eine Frau, die sich rührend um ihre bettlägerige Schwiegermutter in deren letzten Jahren kümmerte? Während sie das Zimmer putzte, sagte die alte Dame: „Nicht putzen, sich um mich kümmern!“

Die Entscheidung, wann was zu tun ist, nimmt einem niemand ab. Im Zusammenhang mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter gelesen, lädt aber die Erzählung von Maria und Marta ein, immer neu achtsam zu werden für Situationen, die eine solche Entscheidung verlangen – für „den guten Teil“.

Bilder
Dr. Gunther Fleischer. Bild: Erzbistum Köln/Hirschbeck
Christus im Hause der Martha. Bild von Georg Friedrich Stettner. Wikipedia, gemeinfrei
Bibliothek des Trinity College Dublin. Bild: Dmitrij Paskevic auf Unsplash, gemeinfrei
Der barmherzige Samariter. Bild von Balthasar van Cortbemde. Wikipedia, gemeinfrei

29. Juli 2020 || von Dr. Gunther Fleischer, Leiter der Erzbischöflichen Bibel- und Liturgieschule Köln