Kirche ohne Gott? – Auf den Spuren einer radikalen Vision von Hanns Dieter Hüsch
Religiöse Nachricht von Hanns Dieter Hüsch (1925–2005)
Es ging ein wenig schnell und war auch ein wenig flüchtig – fast hatte ich den Eindruck, daß es Absicht war – als neulich die Nachricht um die Erde lief, Gott sei aus der Kirche ausgetreten. Viele wollten das natürlich nicht glauben, ist ja logisch. „Lüge, Propaganda, Legende!“ sagten sie. Bis die Oberen und Mächtigen der Kirche sich erklärten und mit einem sogenannten Hirtenbrief folgendes erzählten:
„Wir, die Kirche, haben Gott, dem Herrn, in aller Freundschaft nahegelegt, doch das Weite aufzusuchen, aus der Kirche auszutreten und gleich alles mitzunehmen, was die Kirche immer schon gestört:
Nämlich seine wolkenlose Musikalität, seine Leichtigkeit, und vor allem Liebe, Hoffnung und Geduld. Seine alte Krankheit, alle Menschen gleich zu lieben, seine Nachsicht, seine fassungslose Milde, seine gottverdammte Art und Weise, alles zu verzeihen und zu helfen – sogar denen, die ihn stets verspottet. Seine Heiterkeit und seine Komik, Großmut bis zur Selbstaufgabe, sein utopisches Gehabe, seine Vorliebe für die, die gar nicht an ihn glauben. Seine Virtuosität des Geistes über allem, allenthalben, auch sein Harmoniekonzept, bis zur Meinungslosigkeit, seine unberechenbare Größe und vor allem seine Anarchie des Herzens. Darum haben wir, die Kirche, ihn und seine große Güte unter Hausarrest gestellt – äußerst weit gelegen, daß er keinen Unsinn macht.“
Viele Menschen, als sie davon hörten, sagten: „Ist doch gar nicht möglich. Kirche ohne Gott? Gott ist doch die Kirche! Ist doch eigentlich nicht möglich – Gott ist ja die Liebe und die Kirche ist die Macht – und es heißt: die Macht der Liebe. Oder? Oder geht es nur noch um die Macht?“ Andre sprachen auch nicht schlecht: „Kirche ohne Gott – Leute, warum nicht Kirche ohne Gott? Ist doch gar nichts Neues! Gott kann sowieso nichts machen. Heute ist doch wirklich alles anders. Nee nee, Gott ist out, Gott ist out als Werbeträger nicht mehr zu gebrauchen. Und die Kirche hat zur richtigen Zeit das Steuer rumgeworfen. Kirche ohne Gott – das ist der neue Slogan.“
Doch den größten Teil der Menschen sah man hin und her durch alle Kontinente ziehen, und sie sagten: „Gott sei Dank. Endlich ist er frei. Kommt. Wir suchen ihn.“
Diesen Text trug Hanns Dieter Hüsch 1989 auf dem 23. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Berlin vor.
Gedanken zum Text von Hanns Dieter Hüsch:
Kirche ohne Gott? – Auf den Spuren einer radikalen Vision von Hanns Dieter Hüsch
„Gott sei aus der Kirche ausgetreten.“ – So beginnt Hanns Dieter Hüsch seine provokante „Religiöse Nachricht“, die er 1989 auf dem Kirchentag in Berlin vortrug. Und bis heute hallt dieser Satz nach. Hüsch, Kabarettist, Poet und frommer Zweifler, legt mit wenigen Zeilen den Finger auf eine offene Wunde: die Entfremdung zwischen Institution und Botschaft. Zwischen Kirche – und Gott.
Die Macht der Kirche und die Ohnmacht der Liebe
In seinem fiktiven Hirtenbrief lässt Hüsch die Kirche selbst zu Wort kommen. Eine Kirche, die Gott „in aller Freundschaft nahelegt“, das Weite zu suchen. Zu viel Liebe, zu viel Verzeihen, zu viel Heiterkeit, Nachsicht und „Anarchie des Herzens“ – all das habe die kirchliche Ordnung überfordert. Und so wird der, um den es eigentlich geht, ausgeschlossen. Hausarrest, auf unbestimmte Zeit.
Was auf den ersten Blick satirisch klingt, ist bei Hüsch mehr: eine tiefe spirituelle Ernsthaftigkeit, verpackt in poetische Ironie. Denn die Kritik richtet sich nicht gegen den Glauben, sondern gegen die Erstarrung religiöser Institutionen, die ihre Wurzeln zu vergessen drohen – jene radikale Liebe, die niemanden ausschließt. Nicht einmal ihre Kritiker.
„Kirche ohne Gott – das ist der neue Slogan.“
Hüsch lässt in seinem Text viele Stimmen sprechen: Empörte, Zweifler, Zyniker. Die einen beklagen den Verlust Gottes, die anderen feiern die Kirche als zeitgemäßen Konzern – flexibel, effizient, marketingorientiert. Wer braucht schon Gnade, wenn man doch gut organisiert ist?
Doch dann sind da noch die vielen, leisen Menschen. Die sich aufmachen. Über alle Kontinente hinweg. Die sagen: „Gott sei Dank. Endlich ist er frei. Kommt. Wir suchen ihn.“ Und mit einem Mal wendet sich der Blick: Weg vom System – hin zum Suchen, zum Vertrauen, zur Hoffnung. Zur Rückbesinnung auf das, was Glaube eigentlich meint: Begegnung. Offenheit. Mitmenschlichkeit.
Hüschs Botschaft heute
Mehr als 35 Jahre später hat Hüschs Text nichts von seiner Relevanz verloren. In einer Zeit, in der viele Menschen der Kirche den Rücken kehren, weil sie sich nicht mehr repräsentiert fühlen, stellt sich die Frage neu: Ist Kirche noch Raum für Gotteserfahrung – oder bloß Struktur? Trägt sie noch die Stimme der Liebe, der Gnade, der Versöhnung?
Hanns Dieter Hüsch gibt darauf keine einfachen Antworten. Aber er lädt zum Denken ein. Und vielleicht noch wichtiger: zum Suchen. Nicht nach einem perfekten Glaubenssystem – sondern nach dem Gott, der sich nicht einsperren lässt. Der sich zeigt, wo Menschen einander mit Offenheit, Mitgefühl und Humor begegnen.
„Kommt. Wir suchen ihn.“
Vielleicht ist das Hüschs stiller Appell an uns alle. Nicht aufzugeben. Nicht zu erstarren. Sondern weiterzusuchen – nach der Liebe, die alles überdauert. Und nach dem Gott, der sich nicht auf Institutionen beschränkt, sondern in jedem offenen Herzen zu finden ist.
Pia von Boeselager; Referentin Öffentlichkeitsarbeit und Marketing