Heiligabend
Wie eine Schifffahrt dachten sich die alten Griechen vor 3000 Jahren das menschliche Leben. Rings um die Ägäis lebten sie und mit ihren Schiffen schaukelten sie auf dem Meer ohne wirklich zureichende nautische Instrumente. Trotzdem: Von der Schifffahrt hatten die alten Griechen immerhin rudimentäre Kenntnisse und wußten, worauf es ankam: Man muß den sicheren Hafen verlassen, sonst fängt man nichts oder kann keinen Handel betreiben. Man muß das Ziel kennen, sonst segelt man im Kreis oder dümpelt ergebnislos vor sich hin. Man muß die Gefahren der Fahrt kennen, die Untiefen und Sandbänke und ja, auch die Sirenenklänge, die ziellose Verwirrung stiften. Und schließlich muß das vorgegebene und angesteuerte Ziel der Fahrt so attraktiv sein (und bleiben), daß man auf manchen berauschenden Landausflug verzichtet um der zügigen Weiterfahrt Willen, dem Ziel entgegen. Das ist das Leben des Menschen, so die alten Griechen. Aber sie dachten noch mehr. Sie dachten auch darüber nach, daß der Mensch nicht aus eigenem Entschluss eines Tages entschieden hatte, ins Leben zu treten und auf Lebensfahrt gehen zu wollen. Niemand von uns Menschen hat sich ja selbst gezeugt oder geboren, wir wurden gezeugt und geboren, und unsere deutsche Sprache erinnert noch daran, wenn sie davon spricht, daß ein Kind von der Mutter empfangen wurde. Passivisch beginnen wir, aktivisch müssen wir das Beste aus dem von uns vorgefundenen Dasein machen. „Wir sind aufs Meer des Lebens wider Willen geworfen“ sagen manche griechischen Dichter der Antike. Und der große Held der griechischen Sage, Odysseus, wird zum Symbol des Menschen und seiner Lebensfahrt schlechthin: Er, der nach dem zehnjährigen trojanischen Krieg unverdrossen die Heimreise per Schiff antritt, um zu seiner geliebten und lang entbehrten Ehefrau Penelope auf der Insel Ithaka zurückzufahren und dabei die sprichwörtliche Odyssee erlebt. Wer wie Odysseus weiß, daß er sehnsüchtig erwartet wird, der kann den widrigen Winden und den vergänglichen Verlockungen trotzen in der Aussicht auf den Horizont, an dem irgendwann nach mühseliger Fahrt auf schwankender Planke Ithaka und die liebe Penelope auftauchen wird. Und selig, wer den geliebten Menschen antrifft wie Odysseus seine Penelope: Alle drängenden heiratswilligen Schwindler abwehrend in der sicheren Erwartung: Odysseus kommt zu mir zurück.
Die frühen Christen übernahmen dies Bild gern für die Fahrt des Menschen auf dem bewegten Meer des Lebens, und noch heute sprechen wir ja bildhaft von Er-Fahrung: Der Mensch darf glauben, daß er von Gott aufs Meer des Lebens geworfen wurde, um jetzt die Fahrt zum Ziel, zu Gott, zu wagen und zu riskieren. Zu Gott, der ihn – Penelope gleich – erwartet voll Sehnsucht. Und der an Gott glaubende Mensch weiß zugleich: Die Fahrt ist in den Augen Gottes schon gelungen – wenn wir sie nur wohlgemut und getrost beginnen und durchstehen, und sei es auch, daß wir zerfetzt und auf morscher Planke ans Ufer der Ewigkeit gespült würden. Und die frühen Christen erinnerten sich auch an König David im zweiten Buch Samuel der Bibel, der Gott ein Haus aus Stein anstelle des Zeltes bauen will. Woraufhin Gott den David recht unwirsch belehrt, er, Gott, werde David ein Haus, nämlich das Haus des Lebens bauen, nicht umgekehrt. Und der ihm tatsächlich schließlich das Haus vor den Toren von Betlehem, der Stadt Davids, baut. Ein Haus? Ach was – einen Stall samt Krippe und Ochs und Esel! Weit besser als irgendein prächtiger Palast oder ein pompöser Tempel. Mit jedem Kind baut Gott ein neues Haus, eine neue Krippe, seit er damit anfing im Stall von Betlehem. Denn Gott baut uns unser Haus des Lebens, seit Zeugung und Geburt, damit wir darin wohnen und auf große Fahrt gehen können, beschenkt von Gott mit dem Anfang und mit seiner Verheißung: Du wirst landen am Ufer der Ewigkeit.
David im Alten Testament und Maria und Joseph im Neuen Testament erkennen das fundamentale Beschenkt-Sein von diesem großzügigen Gott. An einen solchen Gott glauben die Christen: Gott, der uns losschickt und abfahren läßt und uns ein schwankendes Haus als Nußschale auf dem Meer des Lebens schenkt und uns ein Haus, besser gesagt: eine Wohnung in der Ewigkeit vorbereitet. Das entlastet und tröstet: Nicht wir müssen uns und unseren Hausgöttern Häuser bauen, die ohnehin der Tod (oder die Erben) einsammeln. Gott sorgt für uns und unser auskömmliches und wohnliches Haus, ganz in seiner Nähe.
Prof. Dr. Peter Schallenberg, Theologische Fakultät Paderborn



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