Utopien ihrer Zeit: Literarische Kindheitsentwürfe
Vom Struwwelpeter bis Pippi Langstrumpf
Kindheit – eine Lebensphase, die jeder Mensch individuell für sich bewertet, die aber auch jede Epoche der Geschichte anders definiert. Wie kommt es, dass diese vergleichsweise kurze Lebensspanne heute sorgfältig gesellschaftlich reflektiert und sogar ethisch und ästhetisch aufgewertet wird, während man die „infantia“ im Mittelalter meist ganz selbstverständlich als Vorstufe des Erwachsenendaseins betrachtet hat? Heute scheint die ideologische Entwicklung gegenläufig: Der spanische Philosoph Ortega y Gasset sagte für Europa schon Anfang des 20. Jhs. „ein Stadium der Kindlichkeit” voraus. Der Erwachsene wird vom Standpunkt des Kindes aus bewertet. “Sie sind”, schrieb vor ihm schon Schiller, “was wir waren; sie sind, was wir wieder werden sollen.”
Wie sehr das Bild von Kindheit eingebunden und eingebettet ist in die Ideen seiner Zeit, lässt sich an der Kinderbuchliteratur durch die Jahrhunderte verfolgen. Wie ein Brennglas machen „Des Knaben Wunderhorn“, Grimms Märchen, der Struwwelpeter, Pippi Langstrumpf oder Erich Kästners kleine Helden gesellschaftliche Realitäten und pädagogische Konzepte am literarischen Gegenentwurf sichtbar.
Liegt dem Traum von der Kindlichkeit des Kindes weniger das Kind selbst zugrunde als vielmehr die gesellschaftliche Utopie der jeweiligen Zeit? Welche Kontexte bieten Bücher, die über Jahrhunderte immer wieder und immer weitergelesen wurden und werden?
Die Akademietagung geht diesen Fragen auf wissenschaftlicher Ebene nach.
Samstag, 4. Februar 2023
14.00 Uhr
„Dieser Ätherschimmer, diese Erinnerungen der Engelswelt“
Zum Kindheitsbild der deutschen Romantik und der romantischen Kinderliteratur
Das Kindheitsbild der Romantik stellt eine Provokation des herrschenden Zeitgeistes der Spätaufklärung dar. Kinder seien fremde Wesen, die einer gänzlich anderen, einer vormodernen Zeit angehörten und in ihrer Andersartigkeit zu respektieren seien. Ihre Denkungsart sei mythisch, ihre Naturauffassung animistisch, ihr Gemüt zutiefst religiös. Dem hat J. G. Herders Kindheitsanthropologie vorgearbeitet. Die romantische Kindheitsauffassung findet eine programmatische literarische Umsetzung in E.T.A. Hoffmanns Märchennovelle „Das fremde Kind“ von 1817.
Prof. Dr. Hans-Heino Ewers, Germanist und Seniorprofessor Erziehungswissenschaften, J.W. Goethe-Universität Frankfurt
16.15 Uhr
Kaffee- und Teepause
16.30 Uhr
Dr. Heinrich Hoffmann und sein Struwwelpeter
Geliebt, gelobt, gescholten
Der Frankfurter Arzt Dr. Heinrich Hoffmann begründete 1844 mit dem für seinen dreijährigen Sohn geschaffenen „Struwwelpeter“ das moderne, erzählende Bilderbuch. Der 1845 erschienene Welterfolg wurde in mehr als 45 Sprachen übersetzt. Das Buch inspirierte zu Nachahmungen, Karikaturen, Satiren, Kitsch und Kunst. Der Vortrag stellt den vielseitigen Autor vor und analysiert die überzeitlichen Narrative, die seinen umstrittenen Klassiker der Kinderliteratur immer wieder für Kindergenerationen aktuell machen.
Beate Zekorn-von Bebenburg, M.A., Leiterin des Heinrich-Hoffmann- und Struwwelpeter-Museums in Frankfurt am Main
18.00 Uhr
Abendessen
19.15 Uhr
Modernismus und Anarchie
Astrid Lindgrens „Pippi Långstrump“
Mit Astrid Lindgrens unkonventionellem Kinderbuch Pippi Långstrump im Jahr 1945 begann nicht nur die internationale Karriere einer der bedeutendsten Kinderbuchautoren und -autorinnen des 20. Jhs., sondern auch eine Neubestimmung der Kinder- und Jugendliteratur in Skandinavien, die wesentlich von der Reformpädagogik und dem Modernismus bestimmt wurde. Der Vortrag konzentriert sich sowohl auf die Genese dieses ungewöhnlichen Kinderbuches und die frühe Kritik daran als auch auf die pädagogischen und ästhetischen Experimente wie literarischen Anregungen, die hier erprobt werden, um Kindheit grundsätzlich neu zu definieren.
Prof. Dr. Karin Hoff, Professorin für Neuere skandinavische Literatur am Institut für Skandinavistik der Universität Kiel
21.30 Uhr
Ende des Veranstaltungstages
Sonntag, 5. Februar 2023
ab 7.00 Uhr
Frühstück für Übernachtungsgäste
8.00 Uhr
Gelegenheit zum Besuch eines katholischen Gottesdienstes in der Edith-Stein-Kapelle
9.45 Uhr
Sorgenkinder - Wunderkinder
„Hänsel und Gretel“ als Ermutigungsmärchen unter intermedialem und internationalem Blickwinkel
„Mein Lieblingsmärchen“ – so nannte der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim das Märchen von Hänsel und Gretel. Durch die Brüder Grimm wurde dieses Märchen zu einem Klassiker, dessen Weltwirkung auf Musik und Film nicht groß genug eingeschätzt werden kann. Die Bearbeitungen dieses Märchens, etwa Engelbert Humperdincks Oper, sind so vielfältig, weil es mit vielen Facetten versehen ist, die von realer Armut bis hin zur Schauerromantik der Hexenwelt reichen.
PD Dr. Rolf Füllmann, Privatdozent und Lehrkraft für besondere Aufgaben, Institut für deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu Köln
11.15 Uhr
Kaffee- und Teepause
11.30 Uhr
Das Leitbild des erwachsenen Kindes in der Kinderliteratur des frühen und späten 20. Jahrhunderts
Von Erich Kästner bis zu Ursula Wölfel und Peter Härtling
Ende des 19. Jhs. entdeckt die Kinderliteratur die Kinder der Arbeiterschaft und der kleinen Leute als neue Zielgruppen. Die dortigen Lebensverhältnisse weichen von denjenigen im Bürgertum radikal ab: Kindern kann hier keine eigenständige Lebenswelt geboten werden; sie sind vielmehr von Beginn an eingebunden in den Überlebenskampf der Erwachsenen und zeigen damit früherwachsene Züge. Die neue Kinderliteratur ab Ende der 1960er Jahre folgt dem Leitbild des emanzipierten Kindes, das nun auch von bürgerlichen Kreisen übernommen wird.
Prof. Dr. Hans-Heino Ewers, Germanist und Seniorprofessor Erziehungswissenschaften, J.W. Goethe-Universität Frankfurt
13.00 Uhr
Mittagessen
14.00 Uhr
Ende der Akademietagung
Änderungen im Programmverlauf und in der Organisation bleiben vorbehalten.