Zerbrechende Gewissheiten
Dass wir uns in eine Welt hineinbewegt haben, in der die überkommenen äußeren Gewissheiten des Lebens sich grundlegend in Frage gestellt sehen, gehört zu den neuen Sicherheiten der Gegenwart. Prozesse der Erosion sind möglicherweise noch zu lenken, aber nicht mehr zu stoppen, wenn Kipppunkte der Zerstörung überschritten worden sind. Klimawandel, Artensterben, Rohstoffknappheit sind herausragend exemplarische Beispiele dafür. Sie ziehen Folgen nach sich, die tief auch in soziale und ökonomische Prozesse intervenieren und in die Verlässlichkeit hinsichtlich all dessen, was uns als alltägliche Daseinsvorsorge vertraut ist.
Es grenzt schon an eine Binsenweisheit, dass dieser Instabilität im Äußeren nur durch innere Stabilität beizukommen sei. Doch gerade diese ist kein Selbstläufer. Sie möchte gleichsam täglich neu errungen sein und sich bestätigt fühlen – und das um so mehr, wenn die Wechselwirkungen von Außen und Innen berücksichtigt werden.
Das Wissen um mein Eigensein, meine Wertigkeit, ja um das, was ich für meine Identität halte, stabilisiert in stürmischen Zeiten. Doch das ist es nicht allein. Entscheidend scheint mir die innere Empfindung, aufgehoben in einer den Menschen übersteigenden Ordnung zu sein und damit in einem transzendenten Selbst.
Auch diese Empfindung kann sich allerdings zurückziehen, als Täuschung anfühlen oder gar völlig zerbrechen. Die inneren Räume, in denen wir uns beheimatet sahen, in denen unsere Sehnsucht ankommen konnte, wo auch die Träume eine Chance hatten, sie sind dann leer und kalt, vielleicht zerplatzt wie Seifenblasen. Da ist keine Resonanz in den transzendenten Raum hinein und keine aus diesem heraus mehr spürbar. Du bist allein, verlassen, der wahren Perspektiven beraubt.
Gerade Menschen, denen wir eine große innere Tiefe attestieren, denen Kontemplation und kontemplative Haltung beigegeben sind, kommen an dieser Erfahrung der dunklen Nacht selten vorbei. Davon zeugen etwa die Berichte derer, die wir als Mystiker bezeichnen. Diese allerdings sprechen auch dann noch von Treue, wenn sie die Beziehung nicht mehr spüren. Sie verbleiben nicht bei dem Klageruf: Warum hast du mich verlassen?
Ein befreundeter Pastor erzählte mir vor Jahren, dass ihm der Glaube abhanden gekommen sei. Jegliche überzeitliche Gewissheit habe sich aufgelöst. Wie soll er jetzt noch als Seelsorger und Liturg den Menschen begegnen? Er fühlte sich als Täuscher und Betrüger. Doch er wirkte weiter, stiller vielleicht als vorher und weniger pathetisch und wortgewandt. Er verkündete, tröstete, begleitete und feierte den Gottesdienst. Man hörte keine Bußpredigten mehr von ihm. Und er suchte mehr und mehr die Stille auf; jene Stille, die nicht betrügt, die in die Leere führen will, bevor die Zisternen der nackten Existenz sich langsam wieder füllen.
Sie werden sich wieder füllen. Doch das Wasser des Lebens bahnt sich seinen Weg eher zu den Geduldigen, zu denen, die ausharren, scheinbar wider alle Vernunft. Transzendente und auch lebensimmanente Gewissheiten fließen nur in freien Kanälen. So will ihnen der Weg immer wieder neu bereitet werden, damit sie nicht als billige Selbstverständlichkeiten und Ausfluss von oft gedankenlosen Routinen verkommen. Die Perlen im Leben rufen nach Pflege durch eine Zuwendung, die sich aus tiefer innerer Sehnsucht speist.
Wo etwas zerbrochen ist, bleiben Scherben. Fügen wir die eingesammelten Teile wieder neu zusammen, entsteht ein anderes, eigentlich ein neues Gefäß. Es wird seine Risse behalten, genau wie die Seele ihre Narben. Vielleicht mag man sich dann an die traditionelle japanische Kunst der Keramik-Reparatur erinnern, Kintsugi genannt. Die zusammengeklebten Scherben des zerbrochenen Alten werden an den Bruchlinien mit Gold überdeckt und verziert. So bleiben sie sichtbar, doch nicht als Ausdruck eines Makels, sondern einer Vollkommenheit, die nur durch das Zerbrechen des Alten entstehen konnte.
Schon mehrmals tauchte in diesem Blog das Wort Hindurch auf, das Martin Bubers Schrift „Pfade in Utopia“ entliehen ist. Es kann als Programm auch für jene Seinsphasen gesehen werden, in denen das Fundament des Lebens erodiert. Die Desillusionierung, die mit dem Hindurch einhergeht, leert den geistigen Raum, der sich neu gestaltet sehen will.
Im Zerbrechen von Gewissheiten, die sie bis hierher trugen, durchleben Menschen eine Schwächung, die wie bei einer Infektion die Voraussetzung dafür ist, dass das Immunsystem des Lebens zu neuer Stärke findet. Aktivismus, Ablenkung oder Verdrängung können das vorübergehend überspielen. Der Preis dafür ist hoch. Gezielte Begegnungen mit vertrauten Menschen, heilsame Kommunikation, kreative Achtsamkeit, das Durchbrechen von Routinen und wertschätzende Berührungen mit der Natur unterstützen demgegenüber auch im sogenannten Außen diesen inneren Prozess.
Der Beitrag erschien am 20. Mai 2021 im Blog von Claus Eurich.
30. Mai 2021 || ein Beitrag von Claus Eurich, Philosoph, Kontemplationslehrer und Professor für Kommunikation und Ethik
In seinen Veröffentlichungen und Vorträgen nuanciert er u.a. die folgende Überzeugung: „Das Erkennen des umfassenden Weltzusammenhangs sowie die Annahme der Partnerschaft mit dem Unendlichen, Transzendenten und Geheimnisvollen stellen die Grundvoraussetzung für den nächsten und notwendigen Schritt in unserer biologischen und kulturellen Evolution dar. Unser Leben heute sieht sich angesichts der radikalen Bedrohungen seiner Grundlagen vor einer Herausforderung, wie es sie in der Geschichte auch nicht annähernd gab.“ Wöchentlich erscheint sein Blog interbeing.