Thomas Morus und die Renaissance der Utopie

Die Utopie ist wieder da! Lange war das utopische Denken wenig angesagt. Schon bei kleineren Ausflügen ins Visionäre konnte es einem passieren, dass man mit dem Bonmot des Altkanzlers und Welterklärers Helmut Schmidt zum Arzt geschickt wurde. Allgemein schien man darauf zu vertrauen, dass sich nach dem wenig rühmlichen Ende der kommunistischen Systemalternative alle intellektuelle Anstrengung auf kleinere Wartungsarbeiten im kapitalistischen Maschinenraum beschränken würden. Eine kleine Gesetzesänderung hier, eine Anpassung des Leitzinses dort würden genügen, um allgemeinen Wohlstand zu sichern und zu mehren. Hitzige Systemdebatten, politische Träumereien gar, würden endgültig der Vergangenheit angehören.

Mit dem Ende des utopischen Denkens ließ sich auch eine ganze literarische Gattung beschließen und der historischen Analyse überlassen, die einst mit Thomas Morus’ Utopia ihren Ausgang genommen hatte. Ersponnene Gesellschaftsentwürfe, Idealbilder menschlichen Zusammenlebens, Visionen guter Ordnung – das alles könnte in den Bibliotheken zukünftig irgendwo zwischen „Fantasy“ und „Science Fiction“ eingeordnet werden.

Es ist anders gekommen. Die Geschichte hat bislang keinen Endpunkt erreicht, und die Menschheit steht vor Herausforderungen, die keineswegs kleiner erscheinen als die der Blockkonfrontation in den Jahren des Kalten Krieges. Den großen Fragen scheint mit den Instrumenten von Betriebswirtschaftslehre und Verwaltungswissenschaft (allein) nicht beizukommen sein.

In dieser Situation finden Intellektuelle Gehör, die ganz ohne Scheu anbieten, was lange verpönt war: Utopie. Dies spiegelt sich auch im Buchmarkt wider. In den letzten Jahren sind einige Titel zu Bestsellern geworden, die Utopien zu liefern versprechen. Zu den am meisten beachteten gehören sicherlich Rutger Bregmans „Utopien für Realisten“ (2017), Richard David Prechts „Jäger, Hirten, Kritiker. Eine Utopie für die digitale Gesellschaft“ (2018) sowie „Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen“ von Harald Welzer (2019).

Alle drei knüpfen in gleich zweifacher Weise an Thomas Morus an, dessen Namenstag die Kirche heute feiert. Zum einen stellen sie sich in die Tradition der utopischen Gesellschaftsentwürfe, die natürlich mit dem Namen des englischen Lordkanzlers auf das engste verknüpft ist. Zum anderen beziehen sie sich auch inhaltlich auf Morus als Vordenker einer Idee, die in allen drei Entwürfen von zentraler Bedeutung ist: das bedingungslose Grundeinkommen, das allen Menschen unterschiedslos und ohne Gegenleistung gezahlt werden solle.

So begrüßenswert die Aufmerksamkeit für den Humanisten des 16. Jahrhunderts sein mag, so sehr ist Vorsicht angeraten. Bei näherem Hinsehen wird nämlich deutlich, dass Thomas Morus mit seiner Utopia weder formal noch inhaltlich ein Gewährsmann der drei modernen Utopisten ist.

Der zentrale formale Unterschied ist schnell benannt. Bis heute ist umstritten, mit welcher Absicht Thomas Morus seine Utopia verfasst hat, ob er sie also tatsächlich als erstrebenswerten Ordnungsentwurf verstanden wissen wollte oder ob er sie eher als satirische Kritik an den Zuständen seiner Zeit geschrieben hat. So stellt etwa der Politikwissenschaftler Thomas Schölderle (2012, S. 19) mit Blick auf Morus nüchtern fest: „Das Rätsel um die richtige Lesart seiner Schrift hat die Nachwelt bis heute nicht losgelassen. Die Interpretationsversuche sind inzwischen Legion. Kern des Streits ist dabei fast immer, wie ernst, im Sinne eines persönlichen Ideals, der Entwurf des utopischen Staatsmodells gemeint war.“ Morus hat sich offenbar bewusst für eine solche Mehrdeutigkeit entschieden, seine Intention damit geschickt verschleiert.

Bei den drei Autoren unserer Zeit ist die Sache dagegen klar: Bregman, Precht und Welzer wollen der modernen Industriegesellschaft den Weg in eine bessere Zukunft weisen. Sie lassen keinen Zweifel daran, dass sie ihre Gesellschaftsentwürfe als wenn nicht ideale, so doch der aktuellen Ordnung zumindest eindeutig vorzuziehende Modelle verstehen. Ironische Mehrdeutigkeit scheint angesichts der ausgemachten Herausforderungen nicht mehr angezeigt. Das bedeutet freilich nicht, dass die drei Großdenker mit der nüchternen Akkuratesse eines schwäbischen Maschinenbauingenieurs zu Werke gingen. Ihre Utopien sind keine fest gefügten und bis ins Detail durchdachten Systeme, sondern gleichen eher großen Bausteinschachteln, die zum kreativen Kombinieren einladen. Welzer erklärt dies sogar zum bestimmenden Prinzip seines Ansatzes, indem er sich auf die beliebten bunten Bausteine aus Dänemark bezieht und erklärt (2019, S. 85): „Wir brauchen Bausteine für das Weiterbauen am zivilisatorischen Projekt, die unendliche Kombinationen auszuprobieren gestatten“.

Der Zielhorizont – „Weiterbauen am zivilisatorischen Projekt“ – steht dabei in einem eigentümlichen Kontrast zur gewählten Bauklötzchenmethode. Man mag das frivol oder unseriös finden, aber es lässt einen interessanten Rückschluss auf die Möglichkeit utopischen Denkens zu: Dieses ist nur noch vermittelbar, wenn es Freiräume und Variationsmöglichkeiten zulässt und das Prinzip von Versuch und Irrtum konstruktiv einschließt. More meets Popper! Als Reißbrettentwurf des sich überlegen wähnenden Weltenbauers ist Utopie nach dem Zusammenbruch des wissenschaftlichen Sozialismus nicht mehr salonfähig. Nur wenn sie das vom österreichischen Philosophen Karl Popper – dem Lehrmeister Helmut Schmidts – empfohlene Stückwerk-Verfahren nutzt, findet sie im gesellschaftlichen Diskurs Anklang. Ähnlich eklektisch gehen auch Bregman und Precht vor, indem sie verschiedene, inhaltlich nicht notwendig zusammenhängende Maßnahmen empfehlen. So tritt etwa Bregman neben dem bedingungslosen Grundeinkommen auch für die Abschaffung aller Grenzen und die allgemeine Einführung einer 15-Stunden-Woche ein.

Bei aller Lust am Spielen und Kombinieren schleichen sich aber gelegentlich Töne ein, die deutlich machen, dass es den drei Intellektuellen mit ihren Ideen bitterernst ist.

Wer etwa Welzers schwungvoll vorgetragener These, dass Arbeit und Einkommen in Zukunft entkoppelt gehören, nicht bereitwillig zustimmt, den stellt der Soziologe sogleich in die Ecke der langweiligen politischen Mitte, „wo das kleinbürgerliche Herz so intensiv die Arbeit liebt“ (Welzer, S. 254). Mit Blick auf die bevorstehenden „Zeiten der Roboterisierung von Arbeit“ seien Arbeitszeitverkürzungen „ohnehin unabdingbar“ (Welzer, S. 261). Der politische Kampf um kürzere Regelarbeitszeiten müsse auch gleich „andere Forderungen enthalten: Systemabschaltungen, Netzfreizeit. Die Leute müssen den Kopf wieder freikriegen, dann lernen sie auch wieder, Wichtiges vom Unwichtigen zu unterscheiden“ (Welzer, S. 268). So schaut’s aus! Onkel Harald hat euch eine große Schachtel bunter Steine mitgebracht, aber er sagt euch auch, wie diese zusammengefügt werden müssen.

Ähnlich beherzt geht Richard David Precht zur Sache. Zweifel an dem von ihm mit Nachdruck geforderten bedingungslosen Grundeinkommen lässt er nicht gelten: „Dass eine neue Form der Grundsicherung im Zeitalter von immer weniger Erwerbsarbeit kommen muss, darauf kann man sich schnell einigen“ (Precht, S. 128). Ach ja? Natürlich werde das Grundeinkommen kommen, so Precht weiter, „und zwar spätestens dann, wenn die Zahl der offiziellen Arbeitslosen die Vier- oder Fünf-Millionen-Grenze übersteigt“ (Precht, S. 148). Dass diese Marke schon in naher Zukunft erreicht sein wird, gilt dem Philosophen angesichts des technischen Fortschritts als ausgemacht. Damit blendet er freilich eine breite Diskussion innerhalb der Wirtschaftswissenschaften aus, in der zahlreiche Argumente gegen die populäre These vom massenweisen Arbeitsplatzverlust vorgebracht worden sind.

Im Utopisten-Trio tritt der junge Niederländer Rutger Bregman am charmantesten auf. Er bietet zahlreiche Beispiele aus allen Ecken der Erde an, die den Nutzen eines Grundeinkommens belegen sollen: Von Steinbrucharbeitern im Westen Kenias über die Einwohner der kanadischen Kleinstadt Dauphin bis zu dreizehn Londoner Obdachlosen und einem Stamm der Cherokee-Indianer in North Carolina – sie alle hätten von bedingungslosen Einkommenszahlungen profitiert.

Wenngleich Bregman schwungvoll argumentiert, lässt auch er keinen Zweifel aufkommen: „Nie zuvor war die Zeit derart reif für die Einführung eines universellen, bedingungslosen Grundeinkommens“ (Bregman, S. 53). Auch Bregman verleiht seinen Positionen Dringlichkeit, indem er auf die Roboter verweist, die schon bald selbst gut ausgebildete Menschen arbeitslos machen könnten. Auf den etablierten Sozialstaat setzt er keine Hoffnung. Der sei „zu einem widernatürlichen Ungeheuer degeneriert, das die Menschen kontrolliert und erniedrigt“ (Bregman, S. 52). Dass das Grundeinkommen nicht schon längst Realität sei, führt Bregman auf die „krankhafte Besessenheit von der Erwerbsarbeit“ (S. 100) zurück, die den Kapitalismus wie den Kommunismus auszeichne.

Welzer, Precht und Bregman vermitteln also den Eindruck, dass es zum bedingungslosen Grundeinkommen schon in naher Zukunft keine Alternative mehr geben werde. Anders als der Utopie-Urahn Morus machen sie damit den Diskursraum sehr eng und übertragen das in ihrer Gegenwartsanalyse natürlich zurückgewiesene Todschlagargument der Alternativlosigkeit („there is no alternative“) ins Futur: „There will be no alternative!“ Solchen Zwangsläufigkeiten passen indes nicht zur suggerierten Offenheit des utopischen Denkansatzes.

Auch auf inhaltlicher Ebene ist Thomas Morus kein geeigneter Gewährsmann für das bedingungslose Grundeinkommen. Wenn Bregman schreibt, Thomas More habe in seiner Utopia vom Grundeinkommen geträumt, dann macht er damit nur deutlich, dass er das Buch entweder nicht gelesen hat oder eine sehr breite Definition von Grundeinkommen verwendet.

Wenngleich Morus immer wieder als Vordenker des Grundeinkommens herangezogen wird und etwa eine bei Suhrkamp erschienene Anthologie von Grundlagentexten zu diesem Thema anführt, so macht ein nüchterner Blick in sein Buch deutlich, dass es auf der Insel Utopia nichts gibt, was auch nur halbwegs den heutigen Vorstellungen von einem bedingungslosen Grundeinkommen entspricht.

Zwar kennen die Utopier ein sozialistisch anmutendes System der Bedarfsdeckung, bei dem alle Familien ohne Gegenleistung bekommen, was sie zum Leben brauchen. Auf einem allgemeinen Markt hole jeder Familienvater, „was er und die Seinen nötig haben, und nimmt es ohne Geld und ohne irgendwelche Gegenleistung an sich.“ (Morus, S. 114). Allerdings besteht auf der Insel Utopia auch ein ausgefeiltes System des Arbeitszwangs. Alle Utopier müssen eine bestimmte Anzahl an Stunden arbeiten, wobei Wachleute darauf achten, dass niemand untätig herumsitzt. So gebe es „gar keine Gelegenheit zum Müßiggang, keinen Vorwand zum Faulenzen“ (Morus, S. 121). Wenn der Grundeinkommensbefürworter Ronald Blaschke Thomas Morus „als Begründer der repressiven Armutsbekämpfung“ bezeichnet, dürfte er der Wahrheit eher entsprechen als jene, die den Humanisten zum Vorläufer ihrer Grundeinkommensphantasien stilisieren.

Nun könnte man den neuen Utopisten zugutehalten, dass sie die in der Utopia des Thomas Morus lediglich angelegten Ansätze gedanklich weitertreiben, aktualisieren und konsequent zu Ende denken. Da ist etwas dran. Morus fände den Gedanken, allen Menschen ungeachtet ihres Lebenswandels ein Einkommen ohne Gegenleistung zu gewähren, sicher völlig abwegig, man könnte auch sagen: utopisch. Heute wird er sehr ernsthaft diskutiert und sogar von den wissenschaftlichen Diensten des deutschen Finanzministerien untersucht.

Und doch beschleicht einen das Gefühl, dass der alte Lordkanzler zumindest in einem Punkt radikaler, utopischer denkt als es sich unsere drei Bestseller-Utopisten erlauben. Morus beantwortet nämlich eine Frage, die weder Bregman, noch Precht und Welzer auch nur adressieren: Wem gehören die Roboter? Allgemeiner und im alten Marxistischen Vokabular gesprochen könnte man auch fragen: Wem gehören die Produktionsmittel? Diese Frage war Kern des Systemwettbewerbs, der erst die politische Debatte und dann die politische Realität des 20. Jahrhunderts prägte.

Die drei neueren Utopien stellen die Eigentumsfrage nicht und scheinen sich stillschweigend mit dem Umstand abzufinden, dass einige (wenige) über privates Eigentum an Produktionsmitteln verfügen, während die meisten dies nicht tun. Ihre zentrale Forderung eines bedingungslosen Grundeinkommens ändert zumindest an dieser Vermögensungleichheit: nichts. Bregman, Precht und Welzer konzentrieren sich allein auf die von den Robotern erwirtschafteten Einkommen, lassen also die Roboter selbst außen vor. Die Einkommen werden möglicherweise besteuert, vielleicht aber auch nicht, wenn man an Prechts Finanztransaktionssteuer denkt.

In den modernen Utopien erhalten die berühmten 99 Prozent ein monatliches Grundeinkommen, während das verbliebene Prozent die Roboter besitzt, die dieses Grundeinkommen erwirtschaften. Preisfrage: Wer wird in diesen erdachten Gesellschaften das Sagen haben? Die vielen Grundeinkommensempfänger oder die wenigen Besitzer des Industrieparks, der das Grundeinkommen erwirtschaftet?

Thomas Morus hat sich über solche Fragen schon Gedanken gemacht. Sein Raphael Hythlodäus befürwortet die Abschaffung jeglichen Privateigentums, während Morus selbst in der Utopia für dessen Bewahrung und – so hat es zumindest des Anschein – für seine Verteilung eintritt. Hier könnte sich ein gedanklicher Weg andeuten, der weder zur vollständigen Vergesellschaftung der Produktionsmittel, noch zu deren Konzentration in den Händen weniger führt.

Dieser Weg nimmt seinen Ausgang an der alten Überlegung des Morus, dass es dem allgemeinen Wohlergehen förderlicher sein könnte, wenn nicht alles allen gemeinschaftlich gehörte und kollektiv verwaltet würde. Er führt sodann zu der Frage, ob es nicht sinnvoll wäre, dass alle zumindest einen gewissen Anteil an den Produktionsmitteln und damit an ihren Erträgen hätten. Eine große Umverteilung der Kapitaleinkünfte würde sich idealiter erübrigen.

So besehen erscheint Thomas Morus viel eher als ein früher Vertreter des Distributismus wie ihn seine katholischen Landsleute G. K. Chesterton und Hillaire Belloc im frühen 20. Jahrhundert vertreten haben, denn als Vordenker des Grundeinkommens. Hier lohnt es sich in weiterzudenken. Gut möglich, dass diese von Thomas Morus inspirierte Überlegung zu utopischen Gesellschaftsentwürfen führt, die viel radikaler ausfallen als es sich Bregman, Precht und Welzer zu denken getrauen. So liefern Thomas Morus und seine Utopia auch für unsere heutigen Debatten wichtige Anregungen.

Literatur

Bregman, Rutger (2017): Utopien für Realisten. Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das bedingungslose Grundeinkommen. Rowohlt Taschenbuch.

Morus, Thomas (1516/1992): Utopia. ‎ Übersetzt von Hermann Kothe. Insel Verlag.

Precht, Richard David (2018): Jäger, Hirten, Kritiker: Eine Utopie für die digitale Gesellschaft. Goldmann Verlag.

Schölderle, Thomas (2012): Geschichte der Utopie: Eine Einführung. UTB Böhlau.

Welzer, Harald (2019): Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen. S. Fischer Verlag.

Bildnachweise

Makis E. Warlamis: Utopien 04 (2007) via Wikipedia (CC BY-SA 3.0)

Hans Holbein der Jüngere (1527): Thomas Morus als Kanzler des Herzogtums via Wikimedia commons, gemeinfrei

Harald Welzer (2015). Bild: Martin Kraft via Wikimedia commons (CC BY-SA 3.0)

Richard David Precht (2015). Bild: Amanda Berens / Verlagsgruppe Random House via Wikimedia commons (CC BY-SA 3.0 DE)

Rutger Bregman (2015). Bild: Victor van Werkhooven via Wikimedia commons (CC BY 3.0)

Ambrosius Holbein (1518): Titelblatt für Thomas Mores Utopia. Biblioteca nacional de Portugal via Wikimedia commons (CC BY-SA 4.0)

Charlie Chaplin in Modern Times (1936). Bild: Jim Forest auf Flickr (CC BY-NC-ND 2.0)

18. Juni 2022 || ein Beitrag von Akademiereferent Dr. Matthias Lehnert