Frank Martin: eine moderne Musiksprache zu Christi Geburt
Der 1890 in eine kinderreiche, aus Montélimar stammenden Hugenotten-Familie hineingeborene und in Genf aufgewachsene Frank Martin wird schon im Schulalter mit Luthers Psalmen und mit Bachs Matthäus-Passion vertraut. Im Genfer Konzertbetrieb dominiert um 1900 deutsche Klassik und Romantik. So werden in Martins Frühwerke noch Strauss und Mahler durchschimmern, derweil die französische Moderne erst mit Ernest Ansermet in Genf Einzug hält.
Da die Eltern ihm die Berufsausbildung am Konservatorium versagen, sucht der Mittelschüler seinen aus dem Luzernischen stammenden Lehrer Joseph Lauber auf, der ihm in Privatstunden die Grundlagen der Komposition beibringt.
Mit 23 Jahren beschäftigen ihn die Fragen des Glaubens und er sinniert über die Botschaft sakraler Werke: Musik für die Liturgie oder für den Konzertsaal? Wie werden dabei Emotionen wachgerufen, selbst über moderne Klänge?
Frank Martin in jungen Jahren (gemeinfrei)
Eine erste Messe für Doppelchor a cappella, ein strahlend-flüssiges und dem Textrhythmus folgendes homophones Werk bleibt auf eigenen Wunsch in der Schublade, obwohl die Satztechnik und der Rückgriff auf Kirchentonarten schon den künftigen Meister ankündigen.
Weihnachten in Martins Musik
Seit 200 Jahren dominiert Bachs Oratorium die Musik zum Weihnachtsfest, abgesehen von wenigen Werken der Romantik (Berlioz, Saint-Saëns, Liszt).
Martins erste CANTATE DE LA NATIVITÉ von 1929 kommt nicht zur Aufführung, da Ansermet sich nicht dafür erwärmen kann. Das Werk für Chor, Kammerorchester und Orgel besticht durch die Klarheit der Artikulation, durch die Einfachheit der Struktur. Im ersten Teil (L’Avent) werden die Juden lautstark aufgefordert, dem Messias den Weg zu bereiten – eine Fünfton-Reihe gegen das dunkle Brausen der Orgel (das Chaos vor der Ankunft Christi?). Im Schlussteil (La Nativité) erzeugen seraphische Klänge eine festliche, alles überstrahlende Stimmung. Marias berühmter Gedanke des Bewahrens in ihrem Innern wird von einer chorischen Unisono-Stimme in hoher Lage vorgetragen, dazu einige sparsame und leise Orgel-Akkorde als Unterlage. – Mit einem «Gelobt sei Gott» steigert sich der Chor in jubelnde Melismen bis hin zu einer akkordischen Apotheose.
Mosaik 13. Jdt. in Santa Maria di Trastevere (gemeinfrei)
30 Jahre später – Ansermet ist inzwischen mit seiner holländischen Frau nach Amsterdam gezogen – erscheint sein grosses Weihnachts-Opus: LE MYSTÈRE DE LA NATIVITÉ, eine musikalische Umsetzung des spätmittelalterlichen Mysterienspiels «Le Mystère de la Passion» von Arnoul Gréban (15. Jhdt.). Martin entnimmt daraus die Teile Prolog, Erde, Hölle und Paradies, wobei er für die ganze Szenenabfolge ein einziges Bühnenbild entwirft und sich dabei auf byzantinische Mosaiken und gotische Kirchenfenster beruft. Die Musik soll trotz ihrer zeitgenössischen Sprache das Publikum emotional erreichen, z.B. durch viel rezitativische Deklamation mit diskreter Akkord-Unterlage, durch die Schichtung von Dur-Akkorden bei dramatischen Passagen.
Das Werk wird im «PARADIES» vom Erzengel Gabriel (Bass) eröffnet, mit einem auf der 12-Tonreihe beruhenden Gotteslob, die der «kleine Chor» homophon weiterführt. Im Abschnitt «LES LIMBES» (eine Art Wartezone auf die Erlösung) hören wir Adams (Baryton) Wehklagen, wiederum auf einer fast vollständigen 12-Tonreihe (die leitmotivisch später wiederkehren wird): «Wann endlich kommt die Stunde der Erlösung aus dieser Hölle…»?
Adams Klage (Faksimile der Originalpartitur)
Im irdischen Teil «SUR TERRE» wohnen wir der Verkündigungs-Szene bei. Die Jungfrau Maria (hier Notre-Dame genannt) verinnerlicht die Worte des Engels mit einer weiteren 12-Tonreihe als Sologesang ohne instrumentale Unterlage, leise und in engen Intervallen deklamiert (sinngemäss auf deutsch: Ich bin von tiefer Ehrfurcht berührt, so gegrüsst zu werden, doch das ungewohnte Geschehen irritiert mich.):
Maries Antwort auf die Verkündigung
Im Gegensatz zu dieser zurückhaltenden Ausdrucksweise hebt Maria beim Besuch bei der Base Elisabeth (Alt) zum jubilierenden ‘Magnificat’ an, umkränzt von einer voltigierenden Flöte.
Die Zwischenspiele «AUX ENFERS» mit dem kreischenden Gezänke des teuflischen Personals ist – wie in den mittelalterlichen Mysterienspielen üblich – für die Entspannung des Publikums gedacht.
Bei der Geburt Christi «EN BÉTHLÉHEM» erfüllen himmlische Klänge in absteigender Tonfolge (das Herabsteigen der Engel) die Szene und die lateinischen Verse (et homo factus est) erinnern an Gregorianik, die unterlegten Akkorde in ihrer Abfolge gar an venezianischen Frühbarock.
Während die Schafhirten auf dem Felde ihre Strategie gegen den Wolf besprechen und zugleich ein «Älplerfest» mit einem Rund-Tanz (mit Renaissance-Anklängen) steigen lassen, erscheint ihnen der Engel Gabriel mit der frohen Botschaft, welche die beiden Chöre mit einem jubelnden «Hosanna» in den weiten Raum hinaustragen. Vor der Krippe angekommen singen die Hirten die einfachen Worte aus ihrem bescheidenen Wissen um den künftigen König aller Menschen, wobei Martin auf die Anfänge der Mehrstimmigkeit innerhalb der Gregorianik zurückgreift, der Tropen und des Organums, wo dem Cantus Firmus eine zweite Stimme im Quarten/Quinten-Abstand parallel unterlegt wird:
«Tu es le roi de tout le monde » (2 Tenöre und Bass im Oktaven- und Quinten/Quarten-Abstand)
Eine besondere Stellung kommt in diesem ganzen Erlösungsgeschehen dem Propheten Siméon (Bass) zu, der als alter Mann sein «De Profundis»-Wehklagen über das Warten auf das Heil anstimmt, von Moll-Akkorden und einer schmachtenden Fagott-Kantilene untermalt. Im Schlussteil «LA PRÉSENTATION AU TEMPLE» hebt seine Bass-Stimme zu einer hellen, linearen Deklamation mit diskreter Dur-Unterlage an: «meine Augen haben Dein Heil gesehen…», wobei er über einem leisen, beängstigen Orgelpunkt noch seine Prophezeiung nachschiebt: «Mein liebes Kind, welch harten Weg Du noch wirst gehen müssen!»
Die Darstellung im Tempel mündet in ein brausendes «Gloria» mit allen Solisten und den beiden Chören, in einer Stufung von satten Dur-Akkorden im crescendo, bis hin zum triumphalen Fortissimo des «Hosanna! In excelsis!»
Das monumentale Werk wird am 23. Dezember 1959 in Genf uraufgeführt, mit dem Orchestre de la Suisse Romande unter Martins Freund Ernest Ansermet und später mit der gleichen Besetzung auf Schallplatte aufgenommen.
Q U E L L E N :
Bernhard Billeter, Frank Martin, Huber, Frauenfeld 1970
Bernhard Billeter, die Harmonik bei Frank Martin, Paul Haupt, Bern 1971
Maria Martin-Boeke, Souvenir de ma vie avec Frank Martin, L’Âge d’Homme, Lausanne 1990
Interview mit Maria Martin-Boeke (holländisch, englisch übersetzt)
Original-Partitur in Faksimile, Universal Edition, nicht datiert
A U F N A H M E N :
Messe für Doppelchor a cappella: Diverse Youtubes (films), 1 Youtube mit Partitur zum Mitlesen
Cantate de la Nativité: CD und davon Youtube audio
Le Mystère de la Nativité: Schallplatte und CD, s. hier oben, + Youtube (audio – klanglich sehr gut) mit derselben Besetzung, ebenfalls ein Youtube (film – klanglich weniger befriedigend) mit holländischer Besetzung
Frank Martin 1970, mit 80, im Garten seines Hauses in Naarden bei Amsterdam (aus Interview-Film des rts – gemeinfrei)
27. Dezember 2023 || ein Beitrag von Josef Zemp, Studium der Romanistik und Musikologie in der Westschweiz und in Frankreich (Doktorat). Parallel dazu Berufsausbildung am Konservatorium (Cello und Klavier) – Cello-Diplom.
Geboren in einer Familie von Amateur-Musikern. Volksmusikforschung in Madagaskar, danach Unterricht am Gymnasium (französische Sprache und Literatur, Musik). Leitung von Weiterbildungskursen für Gymnasiallehrer. Publikationen in Feuilletons und Zeitschriften zur französischen Literatur. Vortragsreihen an Volkshochschulen zu Literatur und Musikgeschichte.