Ursula, Gereon, elftausend Jungfrauen … – Kölner Heilige und ihre Verehrung
„Grau die Stadt und grau is der Strom, / Blood is rut, und alt is der Dom / … Kölsch heißt Bier, katholisch is kölsch, / … Lück mit Jewesse und Lück met Jewehre, / Fremde un Türke, dr Tünnes un Schäl, / Schloppkrade, Hillije und stulze Prolete …“
Vielleicht überrascht dieser Auftakt zum Thema „Kölner Heilige und ihre Vereh-rung“, vielleicht erkennt man aber auch, worum es sich hierbei handelt: Ausschnitte aus dem Lied „Ming Stadt“ von Trude Herr. 1991 verstorben, war die Schauspielerin, Sängerin und Theatermacherin alles andere als eine kirchenfromme Katholikin. Und doch, in diesem Lied „Ming Stadt“, mit dem Trude Herr in der ihr zu eigenen, kompromisslosen Art Köln charakterisiert, sind in das farbenfrohe und kräftige Bild wie selbstverständlich verwoben die Heiligen, inmitten von Fremden, Türken, Schloppkrade – das ist unübersetzbar! –, stolzen Proleten sowie Tünnes und Schäl. Das gipfelt dann in der Aussage: „katholisch is kölsch“, wohlgemerkt nicht: „kölsch ist (ergänze: irgendwie auch) katholisch“, sondern nein: „katholisch is kölsch“, d.h. für Trude Herr jedenfalls gehört katholisch sein zum Selbstverständnis dieser Stadt. Und mit dabei sind eben nicht nur der Dom, sondern auch die Kölner Heiligen. Mit der Überschrift dieses Beitrags „Ursula, Gereon, elftausend Jungfrauen“ ist bereits angedeutet, dass diese Heiligen und dieses städtische Selbstverständnis bis weit ins Mittelalter zurückreichen. Damit sind wir bei dem Begriff der „Sancta Colonia“, des „hilligen Coellen“, den Trude Herr nur ein bisschen anders umschreibt. Tatsächlich ist der Begriff der „Sancta Colonia“ schon weit mehr als 1.000 Jahre nachweisbar, denn er kommt erstmals vor als Aufschrift auf Münzen schon kurz nach 900, und bis ins 13. Jh. wurden solche Münzen geprägt mit der Aufschrift „Sancta Colonia“. Das ist eine ziemlich geschickte und ziemlich effektive Propaganda für Köln, die sich heute die „KölnTourismus GmbH“ kaum ausdenken konnte, denn machen wir uns klar, dass die Sancta-Colonia-Pfennige als Fernhandelsmünze diese anspruchsvolle Devise in weite Teile Europas trugen, buchstäblich von Skandinavien bis nach Spanien. Selbstverständnis und Anspruch der Stadt kommen hier zum Ausdruck. Man verstand sich (und wurde verstanden) neben etwa Rom und Jerusalem als eine der bedeutenden christlichen Metropolen der damaligen Welt. Köln spielte damals tatsächlich in der ersten Liga.
Aber was hat dies mit den Kölner Heiligen zu tun? Dazu ein weiteres Zitat mit einem schönen lateinischen Text, bei dem sich gleichzeitig um einen Hexamter und einen Reim handelt: “Sancta Colonia diceris hinc, quia sanguine tincta / Sanctorum, meritis quorum stas undique cincta” – so heißt es um 1470 in einer Kölner Chronik. („Heiliges Köln wirst Du deshalb genannt, weil Du benetzt bist mit dem Blut der Heiligen und durch deren Verdienst von allen Seiten umgürtest dastehst.“) Es sind also die Heiligen, die ihr Blut im Martyrium vergossen haben, und die so die Stadt schützen. Was hier einen fast schon poetischen Ausdruck findet, präzisiert ein weiterer Text aus der Mitte des 15. Jh.: „Coellen … iss eyn hillige stat oevermytz de leive heilgen, der heyldom ind gebeyntz in Coelne iss“. Also auch hier: Die Heiligkeit der Stadt ist auf die Heiligen („leive heilgen“) zurückzuführen, deren dinglichen Überreste („gebeyntz“, also Gebeine, Knochen) als Heiltümer („heyldom“), also Reliquien, in den Kirchen der Stadt aufbewahrt und verehrt wurden. Damit wird klar: Bei den Heiligen, näherhin bei den Reliquien und ihrer Verehrung liegt ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der mittelalterlichen Stadt, der Menschen dieser Zeit und eben des hl. Köln. Von den Reliquien strömt Heil, heilende Kraft aus, daher der für uns heute etwas sperrige Begriff von den „Heiltümern“.
Das Fundament bilden, alleine schon rein zahlenmäßig, die Heiligen Gereon und Ursula mitsamt ihrer Gefährtenschaft, deren Zahlen immer weiter anwuchsen. Ohne hier die beiden Legenden ausbreiten zu können, sei doch so viel gesagt: Wir wissen heute recht genau, dass es sich um gewachsene Legenden handelt. Neben Ursula und Gereon wurden dann weitere Heilige wie die Kölner Bischöfe Severin oder Kunibert auch als Stadtpatrone verehrt. Das gleiche gilt für den hl. Petrus, dessen angeblicher Stab sich bis heute als wichtige Reliquie im Domschatz befindet, der unübersehbar im mittelalterlichen Siegel der Stadt thront, gleichzeitig auch Patron des Kölner Doms und der ganz klar nach Rom verweist; im – wohlgemerkt bürgerlichen – Stadtsiegel bezeichnet sich Köln als „fidelis filia“ (getreue Tochter) der römischen Kirche.
Der Höhepunkt der Reliquienfrömmigkeit war aber fraglos erreicht, als es dem Kölner Erzbischof Rainald von Dassel 1164 gelang, für Köln die Gebeine der Heiligen Drei Könige zu erlangen – um es neutral auszudrücken.
Und so machten sich viele, viele pilgernd auf den Weg in die heilige, weil vom Blut ihrer Heiligen getränkten Stadt („sanguine tinctum“), um die Heiltümer aufzusuchen. Hier besuchten sie die Gebeine der hl. Drei Könige, bestaunten die Reliquienmassen von St. Gereon und St. Ursula. So hatte man in St. Gereon in Dekagon und Langchor auf großen Regalen an den Kirchenwänden Aberhunderte von Heiligenschädeln als kostbare Heilumsschau effektvoll arrangiert – übrigens bis zum Zweiten Weltkrieg in Teilen erhalten. Und in St. Ursula ist die von Kölnern liebevoll genannte „Knöchelschenkammer“ bis heute erhalten, in dieser Form allerdings erst im 17. Jh. entstanden.
Neben dem Dom bildet bekanntlich die Gesamtheit der Kölner Kirchen, angeblich so viele Kirchen wie Tage im Jahr, wie es schon 1579 heißt, eine einmalige Sakrallandschaft, wie sie in nur wenigen europäischen Städten anzutreffen ist. Entscheidend waren aber nicht diese prächtigen Kirchen der Stadt mitsamt ihren Schätzen, sondern vielmehr waren die Reliquien, die Heiltümer, die eigentlichen Schätze und in ihrer Vielzahl und Qualität zugleich die Unterpfänder für die Heiligkeit der Stadt. Sie bilden gleichsam das Substrat für die Sancta Colonia.
Und so prägen die Heiligen das Stadtbild und den Alltag, strukturierten mit dem Festkalender das Jahr, bewirkten Gemeinschaft durch Wallfahrt, Prozessionen und andere Rituale.
Doch die Kölner Heiligenverehrung ist keineswegs etwas Statisches, sondern durch Brüche, Neuentwicklungen, Wandlungen geprägt, was ich hier nur andeuten kann. So wurde aus dem Heiligen Köln des Mittelalters in nachreformatorischer Zeit das katholische Köln, ja ein katholisches Bollwerk, nunmehr auch durchaus abgrenzend verstanden. Ein massiver Einschnitt bedeutete die Säkularisation des Jahres 1802, in dem in Köln mehr als 70 Klöster und Stifte von einem auf den anderen Tag verschwanden. Das weitere 19. Jahrhundert sah dann das katholische Milieu entstehen, in dem nicht zuletzt die Heiligenverehrung eine wichtige Rolle spielte. Und dann das nicht nur für Köln so wichtige Domfest 1948, nur drei Jahre nach dem Krieg, bei dem die Kölner Heiligen im Dreikönigenschrein und den anderen Reliquienschreinen aus Kölner Kirchen in einer Prozession durch die in Trümmer gesunkene Altstadt Kölns zogen! Das Domfest wurde zum Zeichen für den Le-bensmut und den Wiederaufbauwillen der Bevölkerung in weiten Teilen Deutschlands.
Und heute? Das alles hört sich ja wie aus fernen Welten an, die für uns Heutigen völlig fremd sind, und bestenfalls noch in Restbeständen existieren. In der heutigen Stadt Köln ist das kirchliche Leben mehr von Fusionen altehrwürdiger Pfarrgemeinden geprägt, von leeren Kirchen, von erschütternden Negativschlagzeilen rund um das Erzbistum und seinen Erzbischof und anderes mehr. Dazu die für uns kaum nachvollziehbaren Geschichten und Legenden um Heilige wie Ursula und Gereon. Und doch: Hier tun sich beeindruckende Traditionen von Heiligenverehrung und Gottesdienst auf, die nicht zuletzt Beheimatung schaffen können und uns so mit Christinnen und Christen längst vergangener Generationen verbinden. Und bei diesen Legenden ist die historische Echtheit letztlich zweitrangig, denn die Heiligen lenken den Blick weiter auf den, dem sie selbst im Glauben gefolgt sind: Gott und Jesus Christus. Selbst wenn es nie heilige Märtyrer mit Namen Gereon und Ursula gegeben hat, stehen sie doch für Menschen, denen ihre Gewissensüberzeugungen wichtiger waren als der persönliche Vorteil, ihr Fähnchen nicht nach dem Wind gerichtet haben, manchmal auf dem Schafott oder in der Gaskammer geendet sind. So können diese Heiligen auch heute Vorbilder im Alltag sein und ermutigen – „Lück mit Jewesse“, um mit Trude Herr zu sprechen; und solche „Lück mit Jewesse“ sind auch die, die etwa als kirchliche Angestellte ganz unerschrocken ein Interview geben, in dem die Missstände im Agieren der Bistumsspitze offen gelegt werden.
6. Januar 2023 || ein Beitrag von Dr. Joachim Oepen, stellv. Archivleiter Historisches Archiv des Erzbistums Köln