Die blaue Blume und die erotische Botanik des Novalis
„Die blaue Blume“ – so nannte vor einigen Jahren ein Verlag seine Buchreihe, mit denen Ausländer Deutsch lernen sollten. Ein seltsamer Titel für Arbeitshefte mit Grammatikübungen und Lerndialogen. Aber offenbar glaubte man in der blauen Blume ein taugliches Symbol für deutsche Sprache und Literatur gefunden zu haben. Die blaue Blume ist das bekannteste Motiv der Romantik und diese wiederum gilt vielen als „eine deutsche Affäre“ (Rüdiger Safranski). Der Dichter Novalis, dessen 250. Geburtstag 2022 begangen wird, hat dieses Motiv gefunden. Wie sich das zutrug?
Auch das ist schon eine romantische Geschichte. Wohl während seines Studiums in Leipzig habe Novalis den Maler Friedrich Schwedenstein kennengelernt, der sich später Friedrich Gruben nannte. Auch „Novalis“ ist übrigens ein nom de plume, unter dem Friedrich von Hardenberg seine ersten Texte veröffentlichte. Schwedenstein alias Gruben ist heute völlig vergessen. Vielleicht liegt das nicht nur daran, dass ihn die Schwindsucht schon mit 29 Jahren dahinraffte. Dieses Schicksal teilte auch Novalis, der am 25. März 1801 im Alter von 28 Jahren ebenfalls an der der Tuberkulose starb. Sie war eine Geißel der damaligen Zeit. Auch Friedrich von Hardenbergs blutjunge Verlobte, Sophie von Kühn, fiel ihr 1797 zum Opfer. Damals war Hardenberg völlig verzweifelt. Allerdings würde sich seine Trauer in der Folge als wichtige Inspiration für sein dichterisches Werk erweisen. Als sein Freund Schwedenstein vom Tode Sophies erfuhr, habe der Maler dem Dichter zum Trost ein Aquarell geschickt. Das Bild ist heute verschollen. Welke Kornblumen seien darauf zu sehen gewesen. Kornblumen sind bekanntlich kornblumenblau. Die Verknüpfung dieser blauen Blüten mit der Sehnsucht nach seiner toten Geliebten habe Novalis dann angeblich zum bekanntesten Motiv der Romantik geführt. Eine wirklich rührende Geschichte – aber wenig glaubhaft. Die Kornblume fand sich ehedem massenhaft am Feldrain. Sie mischte ihr Blau mit dem Rot des Klatschmohns und dem Goldton reifen Weizens in die Farbigkeit lichter Sommertage.
Die blaue Blume des Novalis hingegen lässt sich so leicht nicht finden. Auch ist sie, anders als die Kornblume, ein Gewächs der Nacht und des Traumes. Ihren großen Auftritt hat sie gleich am Anfang des Romans Heinrich von Ofterdingen, der 1802 postum von Hardenbergs Freund Friedrich Schlegel herausgebracht wurde. Der Roman war Fragment geblieben – wie vieles im kurzen Leben des Friedrich von Hardenberg. Zu Beginn des ersten Kapitels sinnt der Protagonist, ein Jüngling namens Heinrich, zwischen Tag und Traum der Erzählung eines geheimnisvollen Fremdlings von einer blauen Blume nach. Hier haben vielleicht thüringische Bergmannsmärchen von der Wunderblume ihre Spuren hinterlassen. Heinrich wird von Sehnsucht nach dieser Blume erfasst. Im Traum begibt er sich auf die Suche und gelangt zu einem in den Felsen gehauenen Gang, der ihn in eine Höhle mit einem phantastischen Springbrunnen führt:
„Er näherte sich dem Becken, das mit unendlichen Farben wogte und zitterte. Die Wände der Höhle waren mit dieser Flüssigkeit überzogen, die nicht heiß, sondern kühl war, und an den Wänden nur ein mattes, bläuliches Licht von sich warf. Er tauchte seine Hand in das Becken und benetzte seine Lippen […] Ein unwiderstehliches Verlangen ergriff ihn sich zu baden, er entkleidete sich und stieg in das Becken. Es dünkte ihn, als umflösse ihn eine Wolke des Abendrots; eine himmlische Empfindung überströmte sein Inneres; mit inniger Wollust strebten unzählige Gedanken in ihm sich zu vermischen; neue, niegesehene Bilder entstanden, die auch ineinanderflossen und zu sichtbaren Wesen um ihn wurden, und jede Welle des lieblichen Elements schmiegte sich wie ein zarter Busen an ihn […] Eine Art von süßem Schlummer befiel ihn, in welchem er unbeschreibliche Begebenheiten träumte, und woraus ihn eine andere Erleuchtung weckte. Er fand sich auf einem weichen Rasen am Rande einer Quelle […] Dunkelblaue Felsen mit bunten Adern erhoben sich in einiger Entfernung; das Tageslicht, das ihn umgab, war heller und milder als das gewöhnliche, der Himmel war schwarzblau und völlig rein. Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die zunächst an der Quelle stand […] Er sah nichts als die blaue Blume, und betrachtete sie lange mit unendlicher Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stengel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blütenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte. Sein süßes Staunen wuchs mit der sonderbaren Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme seiner Mutter weckte […]“
Nacht und Traum sind das Element der Romantik. Novalis lässt seinen Helden Heinrich sogar im Traum noch träumen, dass er träumt. Die Nacht gibt dem Unbewussten und Irrationalen Raum. Mit seinem großartigen Gedichtzyklus Hymnen an die Nacht betritt Novalis in vielerlei Hinsicht dichterisches Neuland. Er findet unerhörte Bilder und wagt es, das Versmaß aufzugeben. Zum Auftakt des Werkes beschreibt der Dichter seinen Abstieg in die Nacht, der ihn schließlich in sein Inneres führen wird: „Abwärts wend ich mich zu der heiligen, unaussprechlichen, geheimnißvollen Nacht. Fernab liegt die Welt – in eine tiefe Gruft versenkt – wüst und einsam ist ihre Stelle.“
Auch Heinrich steigt zu Beginn des Romans in eine unterirdische Welt hinab, wo „dunkelblaue Felsen mit bunten Adern“ auf ihn warten. Er dringt zu seinen tiefsten Sehnsüchten vor, die als deutlich erotisch geprägte Visionen beschrieben werden. Doch der Abstieg in den Bauch der Erde erinnert auch an die Lebenswirklichkeit des Friedrich von Hardenberg. Nach einem Jurastudium in Leipzig und Wittenberg war er nach Freiberg gegangen, um die dortige Bergbauschule zu besuchen. Als Protokollant bei der Inspektion sächsischer Salinen und als Teilnehmer einer geologischen Exkursion, die der Erforschung von Kohlelagerstätten diente, gewann er berufliche Praxiserfahrung. Hardenberg war alles andere als ein romantischer Träumer. Er wurde 1799 zum Salinen-Assessor und im Jahr darauf zum Amtshauptmann im Thüringischen Kreise ernannt. Damit trat er gewissermaßen in die Fußstapfen seines Vaters, der Direktor der kursächsischen Salinen Dürrenberg, Kösen und Artern war. Dessen Dienstsitz in Weißenfels war seit seinem dreizehnten Lebensjahr auch Friedrich von Hardenbergs Lebensmittelpunkt. Die unterirdische Welt der Bergleute, die er aus eigener Anschauung kannte, lieferte ihm immer wieder Motive für seine Dichtungen.
Doch Novalis schildert nicht, er erfindet. Seine Geschöpfe sind der Phantasie entsprungen. So auch die blaue Blume. Sicher ist sie nicht der Ableger einer schnöden Kornblume, selbst wenn die Geschichte von dem verschollenen Aquarell seines Freundes Gruben stimmen sollte. Die blaue Blume steht für Liebe, Sehnsucht und Unendlichkeit. Sie ist nicht welk, sondern voller Verheißungen.
Nicht der vergessene Malerfreund hat den Dichter inspiriert, sondern der Dichter selbst einen berühmten Maler. Die Rede ist von Philipp Otto Runge. Runge gehörte zeitweise zum Dresdener Romantikerkreis um Caspar David Friedrich und Ludwig Tieck. Tieck machte ihn mit den Dichtungen des Novalis bekannt. Übrigens starb auch Runge schon 1810 dreiunddreissigjährig an Tuberkulose. Eines seiner berühmtesten Bilder ist Der Morgen von 1808, das heute zum kostbarsten Besitz der Hamburger Kunsthalle gehört. Den ursprünglich geplanten Zyklus der Tageszeiten konnte Runge nicht vollenden. Das strahlende Leuchten von Runges Der Morgen drückt kongenial den Lobpreis des Lichtes aus, den Novalis an den Anfang seiner Hymnen an die Nacht stellte. Bevor der Dichter sich dort in Nacht und Traum verliert, besingt er das Licht:
„Welcher Lebendige, Sinnbegabte, liebt nicht von allen Wundererscheinungen des verbreiteten Raums um ihn, das allerfreuliche Licht – mit seinen Farben, seinen Strahlen und Wogen; seiner milden Allgegenwart, als weckender Tag. Wie des Lebens innerste Seele atmet es der rastlosen Gestirne Riesenwelt, und schwimmt tanzend in seiner blauen Flut – atmet es der funkelnde, ewigruhende Stein, die sinnige, saugende Pflanze, und das wilde, brennende, vielgestaltete tier – vor allem aber der herrliche Fremdling mit den sinnvollen Augen, dem schwebendem Gange, und den zartgeschlossenen, tonreichen Lippen. Wie ein König der irdischen ruft es jede Kraft zu zahllosen Verwandlungen, knüpft und löst unendliche Bündnisse, hängt sein himmlisches Bild jedem irdischen Wesen um.“
Die „zahllosen Verwandlungen“ scheint Runge anzudeuten, indem Putten wie in einem ewigen Kreislauf unter Pflanzenwurzeln hocken oder Blütenkelchen zu entsteigen scheinen. Das im Grase liegende Kindlein steht für den Beginn des Lebens. Es wird aber durch die verehrenden Gesten der beiden flankierenden Putten zum göttlichen Kind. In seinen geistlichen Liedern hatte auch Novalis die Geburt Jesu mit einem neuen Morgen der Menschheit verknüpft:
„Fern im Osten wird es helle,
Graue Zeiten werden jung;
Aus der lichten Farbenquelle
Einen langen tiefen Trunk!
Alter Sehnsucht heilige Gewährung,
Süße Lieb‘ in göttlicher Verklärung.
Endlich kommt zur Erde nieder
Aller Himmel selges Kind […]“
Im Zentrum von Runges Gemälde schwebt eine rätselhafte weibliche Gestalt. Sie wurde als Aurora, Venus oder Maria gedeutet. Ihrer Hand entwächst eine riesige Blüte, die einer Lilie gleicht. Frau und Blume gehen eine seltsame Symbiose ein. Der große Blütenkelch lässt wiederum Putten in himmlische Sphären hinaufschweben. Der Morgen der Welt erscheint wie eine einzige Metamorphose. Wenn „das Urspiel jeder Natur beginnt“, erfasst es auch den Menschen und sogar Gott:
„Eins in allem und alles im Einen
Gottes Bild auf Kräutern und Steinen
Gottes Geist in Menschen und Tieren […]
Und so das große Weltgemüt
Überall sich regt und unendlich blüht.
Alles muß in einander greifen,
Eins durch das andre gedeihn und reifen;
Jedes in Allen dar sich stellt,
Indem es sich mit ihnen vermischet […]“
Diese Verse sind dem zweiten Teil des Heinrich von Ofterdingen vorangestellt, der die Überschrift Die Erfüllung trägt. Sie gehören zu einem längeren Gedicht mit dem Titel Astralis. Hier kehrt der Dichter zur Vision der blauen Blume zurück, auch wenn ihre Farbe nicht erwähnt wird. Auch haben wir es nun nicht mehr mit einer nächtlichen Vision zu tun. Der Traum wird Wirklichkeit am helllichten Tag. Zudem scheint das lyrische Ich im erotischen Erleben selbst zur Blume zu werden und mit ihr zu verschmelzen.
„An einem Sommermorgen ward ich jung;
Da fühlt‘ ich meines eignen Lebens Puls
Zum erstenmal – und wie die Liebe sich
in tiefere Entzückungen verlor,
Erwacht‘ ich immer mehr, und das Verlangen
Nach innigerer, gänzlicher Vermischung
Ward dringender mit jedem Augenblick. […]
Versunken lag ich ganz in Honigkelchen.
Ich duftete, die Blume schwankte still
In goldner Morgenluft. Ein innres Quellen
War ich, ein sanftes Ringen, alles floß
Durch mich und über mich und hob mich leise.
Da sank das erste Stäubchen in die Narbe […]
Es war ein Blitz – nun konnt ich schon mich regen,
Die zarten Fäden und den Kelch bewegen.
Schnell schossen, wie ich selber mich begann,
Zu irdschen Sinnen die Gedanken an.
Noch war ich blind, doch schwankten lichte Sterne
Durch meines Wesens wunderbare Ferne,
Nichts war noch nah, ich fand mich nur von weiten,
Ein Anklang alter, so wie künftger Zeiten.[…]“
Im weiteren Verlauf des Gedichtes wird deutlich, dass im Bilde der Blume die Vereinigung des Protagonisten Heinrich mit seiner Geliebten Mathilde vorweggenommen wird. So kann Novalis auch erotisches Erleben beschreiben, ohne im Sinne der Zeit indezent zu werden. Aber in den letzten Zeilen wird klar, dass auch der vollkommensten Liebe keine ewige Dauer beschieden sein wird. „Wehmut und Wollust, Tod und Leben“ sind nicht voneinander zu trennen.
„Wer sich der höchsten Lieb“ ergeben,
Genest von ihren Wunden nie.
Schmerzhaft muß jenes Band zerreißen,
Was sich ums innre Auge zieht,
Einmal das treuste Herz verwaisen,
Eh es der trüben Welt entflieht.
Der Leib wird aufgelöst in Tränen,
Zum weiten Grabe wird die Welt,
In das, verzehrt von bangem Sehnen,
Das Herz, als Asche, niederfällt.“
Anlässlich seines 250. Geburtstags folgt die Kunsthistorikerin Dr. Elisabeth Peters den Lebensspuren des Friedrich von Hardenberg ausgehend von Halle an der Saale über Wittenberg, Wörlitz und Dresden bis nach Jena.
Herzliche Einladung, Frau Dr. Peters zu begleiten!
10. bis 15. Mai 2022 (Di.-So.)
„Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren …“
Zum 250. Geburtstag des Dichters Novalis
Ferienakademie mit Dr. Elisabeth Peters
Bildnachweis:
Blumenfotos: Elisabetn Peters
Runge: gemeinfrei
25. März 2022 || ein Beitrag von Dr. Elisabeth Peters, Kunsthistorikerin