Annette Kolb: Deutsch-Französin, Pazifistin, Schriftstellerin
Zwischen Deutschland und Frankreich
Annette Kolb zum 150. Geburtstag
Der 150. Geburtstag der deutsch-französischen Schriftstellerin, die am 3. Februar 1870 in München zur Welt kam, verstrich fast unbemerkt. Vielleicht war das ja ganz im Sinne der Jubilarin, hatte sie doch am Vortag ihres Fünfundsiebzigsten folgenden kleinen Text veröffentlichen lassen:
Bitte, meinen Geburtstag zu vergessen
Wer sich mit meinen Schriften befaßte, weiß, daß ich eine Freundin von Namenstagen aber – allgemein gesprochen – nicht von Geburtstagen bin, ihn von Haus her nie begehen lernte und es in der Folge immer so hielt. Indessen mußte ich zwei Weltkriege erleben und wüßte heute gewiß nichts, was mir ferner läge, wie mir gratulieren zu lassen, daß ich noch da bin, und den eigenen Geburtstag zu feiern. wer also keine Notiz davon nimmt, sondern mir hilft, ihn zu vergessen, indem er mich nicht daran erinnert, dem sage ich hiermit meinen herzlichen Dank.
Überhaupt hatte Annette Kolb ihren Geburtstag immer schon mystifiziert. In einem undatierten, Gegen Geburtstage betitelten Manuskript schrieb sie: Es ist mir nicht erinnerlich in der Folge mein Alter jemals richtig angegeben zu haben. Ich griff ad libitum in die Tasten, zu hoch oder zu tief, ganz einerlei, nach Laune und wie es mir gefiel. Nur stimmen durfte es nie, weder Ort, noch Tag, noch Jahr.
Die Wortwahl erinnert an die Pianistin, die Annette Kolb beinahe geworden wäre. Sie kam aus musischem Hause. Ihr Vater, vielleicht ein illegitimer Spross Maximilian II. von Bayern, war Gartenarchitekt und brachte es zum Direktor des Botanischen Gartens in München. Daher war Annette Kolb als Mädchen in der unmittelbaren Nachbarschaft des Gartens zuhause. Sie schildert das Leben der Familie in diesem kultivierten Gärtnerhaus in ihrem autobiographischen Roman Die Schaukel. Das 1934 erschienene Buch ist bis heute ihr bekanntestes Werk. In den Figuren des Herrn Gartendirektors Lautenschlag und seiner französischen Gattin spiegeln sich Annette Kolbs Eltern. Auch ihre Mutter war Französin und hatte am Pariser Konservatorium studiert. Die Tochter berichtete später, sie habe mit Rücksicht auf die klavierspielende Mutter ihrerseits auf eine Karriere als Pianistin verzichtet. Im Roman heißt es: Frau Lautenschlag war eine so zerstreute Hausfrau, daß es schon besser war, sie komponierte. Dies auf alle Fälle. Mit dem Glauben aber, daß ihre Lieder und Klavierstücke den Wohlstand der Familie heben würden, blieb sie allein. Die prekäre finanzielle Situation der Familie, die mit Heiterkeit und Nonchalance immer wieder überspielt wird, schildert Annette Kolb im Roman mit Charme und Leichtigkeit. Es ist die vermeintlich heile Welt des kosmopolitischen Europas am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Wie Frau Lautenschlag unterhielt auch die Mutter einen Salon, in dem französische Diplomaten und Künstler verkehrten. Hier empfing Annette Kolb ihre eigentliche Bildung, wenn man sie nicht überhaupt als Autodidaktin bezeichnen sollte. Ein Internat der Salesianerinnen in Tirol hatte sie besucht, später ein privates Mädcheninstitut in München.
Mit sechs Jahren steckte ich schon in einem Kloster, das ich erst mit zwölf, beflügelten Schrittes, auf immer verließ. Der Begriff und das Hochgefühl, ja die Würde der Freiheit bestand für mich darin, daß ich nunmehr mit Klosterfrauen, spitzenbesetzten Heiligenbildern auf Tortenpapier und den frommen, aber so faden Öldrucken, vor welchen es in keinem Saale, keinem Korridor, keinem Vorplatz ein Entrinnen gab, auf immer außer Kontakt treten durfte.
Der Salon ihrer französischen Mutter erlaubte Annette Kolb einen kleinen Einblick in die große Welt. Und so sind denn auch Atmosphäre und Schauplätze im autobiographischen Roman Die Schaukel nicht eng und biedermeierlich. Eine Schlüsselszene spielt im Palais der jüdischen Baronin James, die einen kleinen Ball veranstaltet. In die Schilderung der unbeschwert tanzenden jungen Leute stiehlt sich unversehens eine düstere Vision kommenden Unheils:
Und sie tanzen da vorbei, all die Lämmer, in den hellen, den berüschten, den mit Röschen bestickten Tüll, den gerafften, den von Schleifen gehaltenen Röckchen, und so manches Band weht im Kreise mit ihnen nach. Ah -, laßt sie tanzen, die Kinder, in keine schöne Zeit wachsen sie hinein, Kriegswitwen, verlassene Bräute werden es sein. Und diese schmucken, frohgemuten, wenn auch häufig verschuldeten Leutnants, welch grimmes Mannesalter steht ihnen bevor! Gezeichnete allesamt! So manchen trifft ein bitterlicher Tod hoch oben am Chemin des Dames.
Damit klingt Annette Kolbs großes Thema an, der Widerstand gegen den Krieg. Für sie, Tochter eines deutschen Vaters und einer französischen Mutter, war der Erste Weltkrieg ein Schock.
Vom Tag an, wo das Sengen und Brennen und Schießen und Erstechen und Niederstoßen und Erwürgen und Bombenwerfen und Minenlegen anging, von dem Tag an, siehst du, bin ich eine Ausgestoßene; von einer solchen Welt bin ich geschieden; wie ein Idiot. Denn ich verstehe ja nicht. Wie ein Idiot erschrecke ich vor den Menschen und fürchte mich seitdem. Sonst so städtisch, treibt es mich seitdem in schlafende Dörfer, in unbegangene Wälder hinein, als gebe es noch eine Flucht, und als sei die Tatsache dieses Krieges nicht längs ins Weglose eingetragen und brütete nicht über das verlassendste Moor. Selbst die reinen Linien der Berge sind von ihm durchfurcht, von grauenvollem Wissen ist der Mond umhaucht; keine Alm steht mehr in ihrer Unschuld da. Was ihn erst unglaubhaft erscheinen ließ, das gemahnt jetzt alles an ihn. Auf keinen Tisch, keine Türklinke können wir die Hand unvoreingenommen legen, wie eine bittere Hefe ist er in unser Brot gebacken.
So schreibt Annette Kolb in ihren 1916 als Buch erschienenen Briefen einer Deutsch-Französin. Der hier zitierte Erste Brief war sogar schon 1914 publiziert worden. Sie war eine der wenigen, die in der ersten und fanatischen Kriegsbegeisterung, ihre Stimme gegen Europas unsterbliche Blamage, wie sie es nannte, erhob. In Dresden wurde sie 1915 während ihres Vortrages niedergeschrien und der Saal geräumt. Eine französische Übersetzung der Briefe, die von der Autorin selbst besorgt wurde, erschien als Lettres d’une Franco-Allemande 1917 in Genf. Kein Geringerer als Romain Rolland hatte die Übersetzung durchgesehen und Annette Kolb ein elegantes Französisch bescheinigt. Rolland war einer der ersten Franzosen gewesen, die sich öffentlich gegen den Krieg gewandt hatten. Annette Kolb wurde wegen ihres pazifistischen Engagements heftig angefeindet und emigrierte in die Schweiz.
Es sollte nicht ihr letztes Exil bleiben.
Schon 1933 floh sie Hals über Kopf aus ihrem Häuschen in Badenweiler, wo sie als Nachbarin ihres Freundes René Schickele lebte, über die nahe Schweizer Grenze. Anschließend lebte sie in Luxemburg, in Frankreich und zuletzt in den USA. Als Emigrantin war sie in gewisser Weise privilegiert, da sie 1936 die französische Staatsbürgerschaft erhalten hatte. Schon 1945 kehrte sie nach Europa zurück, lebt dann in Paris und ab 1961 in München. Aber vielleicht mit Ausnahme der Badenweiler Jahre war sie wenig häuslich. Sie reiste zeitlebens viel und lebte oft auf Einladung von Freunden an wechselnden Orten. Noch im Alter von 97 Jahren flog sie 1967 nach Israel. Diesmal konnte sie ihre Eindrücke nicht mehr aufzeichnen. Fast blind und zum Schreiben zu schwach blieb ihr nur noch das auswendige Klavierspiel. Im selben Jahr starb sie in München.
Annette Kolb heiratete nie, legte auch im hohen Alter Wert auf die Anrede „Fräulein“ und wirkt mit ihren unvermeidlichen Hüten auf Fotos etwas schrullig. Von mondäner Häßlichkeit, mit elegantem Schafsgesicht, so beschrieb Thomas Mann sie als Jeanette Scheurl im Dr. Faustus. Die männlichen Kollegen blickten mitunter gern auf sie herab. Sie kritisieren ihren impressionistischen Weg, wie sie selbst ihr Arbeiten nannte. Vielleicht lagen ihr strenge Komposition und ausgefeilte Sprache nicht so sehr am Herzen wie das, was sie ausdrücken wollte. Was mich trieb war, was ich dachte – kein Talent, so urteilte sie selbst über ihre Beweggründe.
Mein Leben wird letzten Endes vor allem die Geschichte eines Gedankens gewesen sein, der einer deutsch-französischen Verbrüderung, deren Zusammenbruch ich erfahren mußte, auf deren Verwirklichung aber für mich das Heil Europas, also auch der Welt beruht. Ich wüßte nicht, was ich sonst von mir erzählen sollte.
Sind Sie neugierig geworden auf Annette Kolb und ihr Werk?
Ich habe für Sie in meinem improvisierten Tonstudio zwei kurze Texte ausgewählt und eingelesen: Es handelt sich zum einen um die frühe Erzählung Zufall, die in Paris spielt. Sie war in dem 1899 auf Kosten der Autorin gedruckten und von der Kritik verrissenen Band Kurze Aufsätze enthalten. Zum anderen lese ich den kleinen Reisebericht Gesellschaftswagen, der erstmals in der Luxemburger Zeitung vom 7. Juni 1936 erschienen war. Annette Kolb beschreibt darin ihre touristische Erkundung der Stadt Köln im Jahre 1932. Beide Texte sind der mehrbändigen Werkausgabe entnommen, die 2017 in Göttingen von Hiltrud und Günter Häntzschel im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Wüstenrot-Stiftung herausgegeben wurde.
Aus der frühen Erzählung Zufall
Zum kleinen Reisebericht Gesellschaftswagen
Literaturtipps
Annette Kolb: Werke
Hg. i. A. der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Wüstenrot Stiftung von Hiltrud und Günter Häntzschel. Mit einem Essay von Albert von Schirnding, Wallstein Verlag 2017
Annette Kolb: Ich hätte dir noch so viel zu erzählen. Briefe an Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Fischer Verlag 2019
Annette Kolb: Das Exemplar/Daphne Herbst/Die Schaukel, Fischer Verlag 2017
Annette Kolb: Die Schaukel, Fischer Verlag 2007
Titelbild: E. Peters
Bilder:
Annette Kolb, Archiv S. Fischer Verlag
Annette Kolb, Kohlezeichnung von Günter Rittner, CC BY, Wikipedia
18. Juni 2020 || ein Beitrag von der Kunsthistorikerin Dr. Elisabeth Peters
Unter ihrer Leitung ist u.a. die Ferienakademie auf den Spuren von Literatinnen und Literaten durch Paris geplant (24. bis 28. Oktober 2020).