Buchtipp: Leben mit den Göttern

„Welches Buch würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen?“ Diese Frage eröffnet oft ein angeregtes Gespräch über bibliophile Notrationen für einen Ernstfall, dessen Eintreten außerhalb des Möglichen zu liegen scheint. Doch nun befinden sich viele gewissermaßen in einer solchen Insel-Situation. Das heimische Wohnzimmer wird zum Eiland. Welches Buch könnte in dieser Lage segensreich wirken?

Sachbücher für die Sofa-Insel?

Üblicherweise werden Roman-Klassiker von beträchtlichem Umfang als Insel-Lektüre empfohlen: Thomas Manns „Zauberberg“ etwa (1008 Seiten), „Krieg und Frieden“ von Tolstoi (2288 Seiten) oder gar Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (drei Bände, 5200 Seiten). Sachbücher scheinen indes nicht insel-tauglich zu sein. Das mag man bei Peter Hahnes schmalbrüstigen Auslassungen verstehen, die seit Wochen die Bestsellerlisten anführen. Auch der neue Wälzer des französischen Ökonomen Thomas Piketty ist wohl für Lesestunden auf dem heimischen Sofa wenig geeignet. Aber ich denke an Ernst Gombrichs Klassiker „Die Geschichte der Kunst“, der in einem herrlich klaren Stil zu einem reich bebilderten Gang durch mehrere tausend Jahre Kunstgeschichte einlädt. Als der junge Schotte Neil MacGregor „den Gombrich“ las, hatte er das Gefühl, „die Karte eines wunderbaren Landes erhalten zu haben“.

Wer sind wir?

Viel später sollte MacGregor, nach Jahren als Direktor der National Gallery und des British Museums, selbst ein Buch vorlegen, das ich heute für die Sofa-Insel in der Corona-See wärmstens empfehlen möchte: „Leben mit den Göttern“. Es ist allseits – von der konservativen Tagespost bis zur links-alternativen taz – begeistert aufgenommen worden. In der Süddeutschen Zeitung lobte der protestantische Theologe Johann Hinrich Claussen MacGregors „Einladung zum Staunen“, die neugierig mache, „im offenkundig Fremden eine untergründige Verwandtschaft zum Eigenen zu entdecken.“ Bereitwillig folgt man dem Meister auf seine großangelegte tour d‘horizon, die auf einer gleichnamigen Ausstellung im British Museum beruht, aber weit mehr ist als ein gut gemachter Ausstellungskatalog. Mit großem Respekt vor allen Glaubensüberzeugungen wirbt MacGregor für seine Betrachtungsweise, die sich den Religionen behutsam über ihre sichtbaren Vollzüge, über Objekte, Orte und Handlungen nähert. Diese sind im Buch durch zahlreiche prächtige Illustrationen dargestellt, die der Autor gleichermaßen aufmerksam und leichthändig vorstellt. Im Zentrum steht dabei der Wunsch, „zu verstehen, was gemeinsame religiöse Überzeugungen im öffentlichen Leben einer Gemeinschaft oder einer Nation bedeuten können, wie sie das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Staat prägen und wie sie einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, wer wir sind.“

Erstaunliche Verbindungen

MacGregor beginnt mit der Elfenbeinskulptur des 40.000 Jahre alten Löwenmenschen, den zwei Forscher kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in einer Höhle bei Ulm entdeckten. Von dort spannt er einen weiten Bogen, der religiöse Praktiken aus vielen Jahrtausenden, unterschiedlichen Kulturen und Weltregionen umfasst. MacGregor erzählt weder chronologisch noch ordnet er sein Material geographisch. Vielmehr stellt er in 30 Kapiteln von jeweils 10 bis 20 Seiten immer wieder erhellende Verbindungen und Vergleiche her, etwa zwischen dem gigantischen irischen Hügelgrab Newgrange, das um 3150 v. Chr. erbaut wurde, und dem japanischen Mythos der Sonnengöttin Amaterasu, den er anhand von Holzschnitten aus dem 19. Jahrhundert erklärt. Manchmal wählt MacGregor Zugänge, die (scheinbar) außerhalb der Religionen und jenseits ihrer Objekte liegen. So erschließt er das Wesen des Pilgerns über Chaucers Canterbury Tales und nähert er sich dem religiösen Appell zur Umkehr und dem Wesen der Verklärung über ein Gedicht von Rilke. Immer wieder bezieht MacGregor auch Phänomene der Populärkultur in seine Überlegungen ein und schlägt so Verbindungen in die säkulare Vorstellungswelt.

Wie wollen wir miteinander leben?

Mit seiner klaren und freundlichen Sprache, die ohne Fremdwortkaskaden und Schachtelsätze auskommt, führt MacGregor die staunend Lesenden durch ein facettenreiches Panorama. Wie ernst es ihm dabei mit seiner Unternehmung ist, zeigt sich noch einmal im Schlusskapitel, das den Blick auf das Zusammenleben der Menschen richtet: Hier stellt MacGregor als letztes Objekt seines Rundgangs ein buntes Holzkreuz vor. Der Schreiner Francesco Tuccio hat es 2013 aus Überresten eines vor Lampedusa gekenterten Flüchtlingsbootes gezimmert. Dann aber, fast schon im Nachklapp, schiebt MacGregor noch ein allerletztes Objekt nach und schließt so – wie es nur ein Meistererzähler vermag – den Kreis, den er mit dem Löwenmenschen begonnen hat. Anhand einer spätmittelalterlichen Schutzmantelmadonna, die wie die frühzeitliche Elfenbeinskulptur aus der Gegend von Ulm stammt, illustriert er seine Schlussbotschaft: Alle religiösen Traditionen lehrten, dass individuelles Leben am besten in Gemeinschaft gelinge. Im Zusammenleben mit anderen komme der einzelne dem Himmel so nahe wie es einem Menschen möglich sei.

© Bode-Museum

Wie kein anderes Objekt versinnbildliche die Schutzmantelmadonna diese Idee: Menschen aller Altersgruppen und Gesellschaftsschichten finden unter dem Mantel der Gottesmutter Zuflucht. Die Kirche repräsentierend, verbindet Maria sie alle mit einer großen Geschichte, und schreitet dabei gemeinsam mit ihnen voran. Mit diesem Bild knüpft MacGregor an seine These aus dem Eingangskapitel an: „Mit der Entscheidung, wie wir mit unseren Göttern leben wollen, entscheiden wir auch, wie wir miteinander leben.“ Die Entscheidung freilich nimmt uns der Autor nicht ab, und liefert so genug Stoff, über den es sich nach Abschluss der Lektüre nachzudenken und zu diskutieren lohnt.

Aus dem Englischen übersetzt von Andreas Wirthensohn und Annabel Zettel
München: C.H. Beck. 2018
542 Seiten m. farb. Abb.
39,95 €, ISBN 978-3-406-72541-8
www.chbeck.de/24087600

Bilder: Die japanische Sonnengöttin Amaterasu beim Verlassen ihrer Höhle. Utagawa Kunisada (1856), Wikimedia, gemeinfrei
Ravensburger Schutzmantelmadonna (um 1480), Michael Erhart zugeschrieben. Bode-Museum

3. April 2020 || empfohlen und rezensiert von Dr. Matthias Lehnert, Referent Forum :PGR