Erster Weihnachtstag
Heute ist Weihnachten, genauer: Erster Weihnachtstag, der Tag nach der Heiligen Nacht der Geburt des Erlösers. Die Kirche auf der ganzen Welt feiert aber nicht nur das Weihnachtsfest, sondern genau eine Woche oder sieben Tage später, in Erinnerung an die sieben zerbrochenen Schöpfungstage des Alten Testaments, Neujahr. Genauer gesagt: das Hochfest der Gottesmutter Maria, deren Ja zur Menschwerdung Gottes das Nein ihrer Urahnin Eva im Paradies wiedergutmachte. Damit beginnt seit einigen hundert Jahren das sogenannte bürgerliche Jahr, während das neue Kirchenjahr nach urältester Tradition mit dem ersten Advent beginnt. Wie auch immer: An Weihnachten schauen wir nicht nur auf den Anfang des Lebens Jesu, sondern ebenso auf den Anfang des neuen Jahres und damit zugleich auf den Anfang von uns selbst. Denn jeder von uns war einst ein winziges Kind wie dieser Jesus von Nazareth, mit dem Gott etwas anfangen konnte und wollte.
Wir wissen nicht, wie lang unser neues Jahr für uns selbst auf dieser Welt dauern wird. Je älter wir sind, desto größer ist – rein mathematisch – die Wahrscheinlichkeit, daß es anders enden wird, als es begonnen hat. Um es einmal milde auszudrücken. Daß es vielleicht enden wird nicht in endlosem Nichts, sondern in einer Vollendung. Denn das steckt ja noch ganz verborgen im deutschen Wort Ende: Eine mögliche Vollendung, die am Anfang noch ganz verborgen und doch schon von Anfang an da war. So wie die Buchecker, die ganz winzig und etwas schrumpelig in sich die Möglichkeit zur vollen Entfaltung als vollendete mächtige Buche trägt. Ohne Buchecker wäre nie eine Buche erwachsen, aber natürlich macht eine kleine Buchecker noch keinen Buchenwald. Viel muß zusammenkommen, um eine formvollendete Buche entstehen zu lassen, geschweige denn einen ganzen Buchenwald: Wasser und Licht, Photosynthese, wenig Schädlinge, guter Boden, günstiges Klima. Aber immerhin: Im Samen steckt zwar nicht einfach klein gefaltet die kleine Buche oder der kleine Mensch. Aber es stecken alle Möglichkeiten im Anfang drin, die zur Entfaltung kommen können – und vielleicht sogar sollen? Die Buche denkt augenscheinlich nicht über ihr Dasein nach, noch gerät sie in Verzweiflung über verpfuschtes Buche-Sein oder verpaßte Möglichkeiten der Entwicklung zur erhofften und erwünschten Buche. Glückliche Buche! Sie entsteht und vergeht nach vielleicht fünfhundert Jahren, ohne Zweifel und ohne Wehmut und ohne Verärgerung. Sie steht, einmal als Buchecker in die Erde gesenkt, auf dieser Erde und wächst fraglos und bedenkenlos, keineswegs aber ziellos. Ob sie eine ursprünglich und am Anfang gedachte und erwünschte Vollendung erreicht, geht sie nichts an. Zum Glück.
Zum Unglück ist der Mensch ein anderes Lebewesen als die Buche. Er kann nicht nur darüber nachdenken, ob sein Anfang ein glückliches Ende und eine erwünschte Vollendung nimmt, er muß es sogar. Dass ist einerseits sein Verhängnis, zumindest sein hartes Schicksal, andererseits aber auch Quelle des Glücks und der stets fiebrigen Sehnsucht nach Mehr. Der Mensch steht nicht einfach wie die Buche fraglos auf der Erde, sondern reckt sich fragend in den Himmel: Kommt noch mehr? Kommt noch was? Gibt es noch Überraschungen? Gibt es eine angelegte und dann doch unvermutete und nie ganz erahnte Vollendung? Meines Lebens, meiner Lebensgeschichte, meiner Identität, meiner Unverwechselbarkeit? Ist der Anfang des Jahres so wie der Anfang des eigenen Lebens verheißungsvoller Anfang und beglückender Beginn einer Lebensreise, deren Ende wir so wenig in der Hand haben wie einst den Anfang? Seit mindestens 13000 Jahren, als die ersten Menschen Ahnen verehrten und Tempel bauten im Norden des Zweistromlandes, denkt der Mensch nach über solche himmlische Rechenkunst und Berechenbarkeit des Lebens. Der Dichter Werner Bergengruen reimt es sich so zurecht: „Liebt doch Gott die leeren Hände, und der Mangel wird Gewinn. Immerdar enthüllt das Ende sich als strahlender Beginn.“ Wir sind keine Buche und wir sind keine Eintagsfliege. Zum Kater des Menschseins gehört dieses Grübeln, dies verdüsterte Bilanzieren, dies akribische Aufspüren von Defiziten. An Tagen wie diesen spüren manche diesen Kater noch mal etwas deutlicher – auch und gerade wenn sie nüchtern sind. Aber: Vielleicht könnten wir uns in den Tagen nach Weihnachten und am Beginn des neuen Jahres etwas einüben in diese wohltuende himmlische Rechenkunst: Der Gott, an den Christen glauben, möchte kein vollkommen gelungenes Leben von uns. Sonst hätte er ja nichts mehr zu tun… Er möchte unseren Anfang, damit er unsere Mühe vollenden kann. Und was in jedem Bewerbungszeugnis vernichtend klingt als „Er hat sich sehr bemüht“, das heißt bei Gott: Es gibt keinen Mangel vor Gott, außer den, nicht den Anfang frohgemut zu wagen in der Hoffnung auf Vollendung.
Prof. Dr. Peter Schallenberg, Theologische Fakultät Paderborn










