St. Martin neu gedacht – Teilen auf Augenhöhe
Wenn im November die Laternen leuchten, Kinder „Sankt Martin“ singen und sich lange Lichterzüge durch die Straßen bewegen, scheint alles klar: St. Martin, das ist der heilige Mann zu Pferd, der seinen Mantel mit einem frierenden Bettler teilt. Ein schönes Bild, vertraut seit Kindertagen.
Doch die Schriftstellerin Ilse Aichinger rüttelt an diesem vertrauten Bild. In ihrem Text „Nachruf“ lässt sie den Bettler sagen:
„Gib mir den Mantel, Martin,
aber geh erst vom Sattel
und lass dein Schwert, wo es ist,
gib mir den ganzen.“
Plötzlich wird die Szene unbequem. Der Bettler will nicht nur eine Hälfte. Er will den ganzen Mantel – und er will Martin nicht oben auf dem Pferd sehen, nicht mit Schwert, nicht „von oben herab“, sondern auf Augenhöhe.
Nicht von oben herab – was Teilen wirklich bedeutet
Die Aichinger-Zeilen stellen eine Frage, die mitten in unser heutiges Leben trifft: Teilen wir wirklich – oder geben wir nur ab, was uns nicht allzu sehr fehlt?
Martin zu Pferd, den Mantel über den Schultern, das Schwert an der Seite – das ist auch ein Bild von Macht und Sicherheit. Unten der Bettler, oben der Reiter. Wenn der Bettler nun sagt: „Geh erst vom Sattel“, dann ist das mehr als eine höfliche Bitte. Es ist eine klare Ansage:
- Komm herunter aus deiner Komfortzone.
- Stelle deine Rolle, deine Sicherheit, dein „Oben“ in Frage.
- Begegne mir als Mensch, nicht als Wohltäter.
Teilen auf Augenhöhe heißt: nicht aus der Distanz spenden, sondern im Gegenüber einen Menschen sehen, der dir in Würde gleich ist – auch dann, wenn er auf der Straße sitzt, friert, riecht, bedrängt oder „nervt“.
Wir sind genervt – und genau da wird es spannend
Hand aufs Herz: Viele von uns sind genervt von Bettlern.
Von der Person an der Supermarktkasse, die um Kleingeld bittet.
Vom Menschen vor dem Bahnhof, der zum dritten Mal am Tag „Hast du mal was…?“ fragt.
Ilse Aichinger bringt es auf den Punkt: Es reicht nicht, einen kleinen Teil abzugeben, um unser Gewissen zu beruhigen.
Die Frage ist: Wie viel Nähe ertragen wir? Wie viel Aufrütteln lassen wir zu?
Teilen ist dann nicht mehr nur:
- ein paar Münzen in den Becher werfen,
- alte Kleidung in den Container stecken,
- einmal im Jahr eine Spende überweisen.
Teilen wird zur inneren Bewegung:
- von oben nach unten – zurück auf Augenhöhe,
- vom Besitzdenken zum Beziehungsdenken,
- vom „Ich helfe dir“ zum „Wir gehören zusammen“.
„Was du dem Geringsten getan hast…“ – ein unbequemer Satz
Im Matthäusevangelium sagt Jesus:
„Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (vgl. Mt 25,40)
Dieser Satz ist eine stille Explosion. Plötzlich wird aus dem Bettler vor dem Supermarkt ein Christus-Bild. Aus der übersehenen, unbequemen Person wird ein heiliger Ort der Begegnung.
Wenn wir das ernst nehmen, verändert sich viel:
- Die Frage ist nicht mehr: „Verdient der überhaupt meine Hilfe?“
- Sondern eher: „Welchem Christus in Verkleidung begegne ich gerade?“
St. Martin wird so zum Symbol nicht nur für das Teilen des Mantels, sondern für eine Haltung: sehen, berührt werden, handeln – und zwar so, dass die Würde des anderen unversehrt bleibt.
Mehr als ein halber Mantel – ein Plädoyer für großzügiges Herz
„Teile, was du hast, nicht nur einen Teil“ – dieser Gedanke zieht sich wie ein roter Faden durch Aichingers Text und unsere St.-Martin-Geschichte.
Das kann ganz praktisch heißen:
- Zeit teilen – wirklich zuhören, nicht nur schnell vorbeihuschen.
- Aufmerksamkeit teilen – nicht wegsehen, wenn jemand Hilfe braucht.
- Räume teilen – Menschen einladen, denen sonst keiner Platz macht.
- Kompetenzen teilen – anderen etwas beibringen, ihnen Chancen eröffnen.
Es geht nicht darum, sich selbst aufzugeben oder auszubrennen.
Aber es geht darum, die Frage zu stellen: Wo gebe ich nur den „halben Mantel“ – und wo wäre mehr möglich?
Wir werden die Welt nicht von heute auf morgen verändern.
Aber wir können uns von der St.-Martin-Geschichte und Ilse Aichingers Perspektive inspirieren lassen – im Kleinen, ganz konkret:
- Jemanden auf der Straße ansehen und grüßen, statt wegzuschauen.
- Ein echtes „Guten Tag“ schenken, nicht nur ein schlechtes Gewissen.
- Im Gespräch nicht nur recht haben wollen, sondern wirklich verstehen wollen
- Im eigenen Umfeld fragen:
- Wer ist hier „der Geringste“?
- Wer wird übersehen, überhört, übergangen?
St. Martin ist dann nicht mehr nur ein Reiter im Laternenumzug,
sondern eine Einladung – an jede und jeden von uns:
- Steig vom Sattel.
- Lass das Schwert.
- Schau deinem Gegenüber ins Gesicht.
- Und teile – großzügiger, als du es gewohnt bist.
Vielleicht beginnt genau dort das Wunder, von dem alle Laternenfeste dieser Welt erzählen wollen.









