Ergo bibamus! Rochus, Goethe und Corona

Schon immer war die am 16. August anhebende Oktav zu Ehren des Pestheiligen Rochus in Bingen am Rhein ein Fest, das frommes Gebaren mit dem leiblichen Wohl verband. In seiner 1817 erschienenen Schrift „Über Kunst und Altertum in den Rhein- und Maingegenden“ berichtet Goethe über einen drei Jahre zuvor abgestatteten Besuch des Rochusfests und kolportiert die Fastenpredigt eines Weihbischofs, welcher die Verbindung von katholisch-gläubig und rheinisch-frohgesinnt aufs Trefflichste zu charakterisieren vermochte. Der Bischof hatte seine Zuhörer zunächst eindringlich vor dem Missbrauch der göttlichen Gabe des Weins gewarnt, dann aber die Gnade dessen Gebrauchs durch den Missbrauch nicht ausschließen wollen. Wer beispielsweise, so der lukullische Hirte, nach zwei Maß Wein sich seiner Sinne nicht mehr sicher sei oder nach dem dritten und vierten gar seine Liebsten „als die ärgsten Feinde“ brutal behandle, der verletze selbstverständlich das Gebot der Kirche und müsse sich mäßigen. Diejenigen aber, die mit mehr Fassungsvermögen ausgestattet seien, dürften sich guten Gewissens und mit Dank ob ihres von Gott anvertrauten Talents erfreuen und auch eine oder zwei Maß mehr elevieren. Der Weihbischof höchstselbst sah sich unverdient gar der äußerst seltenen Gnade gewürdigt, ad maiorem Dei gloriam auch acht Maß trinken zu können, ohne in ungerechtem Zorn auf irgendjemanden loszufahren. Ergo bibamus!

„Spiritus sanus in corpore sana“ könnte man das Motto des doppelten Bingener Bittgangs ins Zelt der Kirche und in das des Weines nennen. Heuer, im hoffentlich vorletzten Coronajahr aber ist es dem Santo Spirito in keinem dieser Tabernaculi gestattet, der gegenwärtigen pandemischen Krise seine Stirn, noch seinen Bauch zu bieten. Denn die offensichtliche Ungleichheit der Kräfte im Kampf „Corona contra Rochus“ ließ auch die rheinland-pfälzischen Behörden den Infektionsschutz und nicht die Tradition zum Maß der Dinge nehmen. Kein geistlicher Hirte darf in diesem Jahr seiner sich vollständig auf dem Rochusberg versammelnden Herde Abwehr vor den Krankheitskeimen dieser Welt mittels Fürsprache des Heiligen und geistlicher Getränke anempfehlen. Denn heuer heißt der Coronaweg AHA. Und also wurde das auf über 350 Jahre Bestehen zurückblickende Rochusfest 2020 abgesagt. Und also mussten die Bingener Katholiken irgendwie irgendwann ein massenuntaugliches Rumpfprogramm statt der üblichen maßvollen Verkostung der Zehntausend erarbeiten.

Eine Antwort auf die Frage, wie denn ein ausgelassen-volkstümliches Treiben mit An- und Abstand zu vereinen sei, kann Altmeister Goethe geben. Während seines achttägigen Logis zum Rochusfest 1814 im Brentanohaus in Winkel ließ er nach Mitteilung der Hausherrin sich allzu gerne den 1811er Rheingauer Riesling schmecken. Die auf seinem Teller eigens aufgehäuften Speisen aber ließ er stehen. Wenn dies Gebaren auch auf den schlechten Zustand der Zähne des damals annähernd 65-jährigen zurückzuführen ist, so vermag man doch auch bei Goethe eine entschiedene innere Haltung zugunsten des stofflich gebundenen Geists (Wein) und wider die reine Materie (Essen) zu erkennen. Der alternde Dichterfürst hatte ganz ähnlich dieser adulten Haltung auf dem heute „Goethe-Ruh“ genannten Aussichtsplatz auf dem Rochusberg und mit Blick auf des Rheingaus gestreckte Hügel und weiter schauend auf die hochgesegneten Gebreiten und physisch wie gedankenflügelhaft begleitet durch seine Gastgeber ein antiwildromantisches und rheinromantisch-neuklassisches Programmpoem gedichtet: „Erst Empfindung, dann Gedanken, erst ins Weite, dann zu Schranken, aus dem Wilden hold und mild zeigt sich Dir das wahre Bild.“ Die populäre Verdichtung dieser das Allzumenschliche ins Allgemeine führenden Sentenz setzte Goethe 1823 anlässlich der Gründung des die anarchischen Elemente des rheinischen Karnevals runterregulierenden Kölner Festkomitees ins Wort: „Löblich ist ein tolles Streben, wenn es kurz ist und mit Sinn. Heiterkeit zum Erdenleben sei dem flücht’gen Rausch Gewinn“, schrieb er den bekanntermaßen ja ebenfalls im Grenzbereich des Heiligen und des Profanen sich bewegenden Kölner Karnevalisten ins Stammbuch.

Und ach ja, „das wahre Bild“! Goethe, der agnostische Protestant hatte zwei Jahre nach seinem Besuch des Rochusfests für die dort neuerbaute Kapelle ein Bildnis des Heiligen gestiftet. Die Skizze zu diesem Werk ex voto hatte Goethe eigenhändig gefertigt. Die Ausführung des ganz an der italienischen Renaissance geschulten Entwurfs lässt nun nazarenisch holde Blicke auf den jugendlichen Rochus werfen. Das Bild zeigt ihn mit lockigem Haar und einem Reisehut, welcher der Kopfbedeckung Goethes in dem berühmten Porträt des Meisters in der Campagna den Rand reichen könnte. So manch Einer vermeinte denn auch in diesem Rochus die anachronistische, dem Jungbrunnen entstiegene proteische Gestalt des mittlerweile auf die 70 zugehenden Stifters zu erkennen. Mag sein, dass dies auch so gemeint war. Denn die Ausführung des Bildes hatte er, der dem Allzuweiblichen doch immer recht konkret zugetan war, der 30-jährigen großherzoglichen Malerin Louise Seidler anvertraut. „Mögen Sie mir doch, schöne Freundin, das Maß der Leinwand schicken, die sie zu dem versprochenen Bilde anwenden können. Der hübsche Heilige wird wahrscheinlich bald seine Aufwartung machen und sich ihren liebenswürdigen Händen anvertrauen“, schrieb Goethe seiner künstlerischen Nachbarin an den Weimarer Hof, bevor er ihr seine Skizze zukommen ließ. So konnte das Sublime in der Kunst noch fern von heutigen Me Too-Debatten zur unbefangensten heterophilen Expression gelangen. Das Stürmisch-Drängerische vormaliger Jahre ins gestaltete und eingefriedete Allgemeine setzen – ließe sich Vergleichbares auch in puncto abständigen Maßhaltens für das Rochusfest 2020 entwickeln?

Pastor parochiae fecit! Markus Lerchl, der Oberhirte der Pfarrgruppe Bingen, hatte bereits im April diesen Jahres, bald nach dem lock down gegenüber Oberbürgermeister und Stadtrat ein corona-kompatibles Festprogramm entworfen. Sollte das seinerzeit geltende Gebot, dass sich immer nur dieselben zwei Personen im Chorraum bei der Feier der heiligen Messe aufhalten dürften, noch im August bestehen, so müssten diese und alle Gläubigen es hinnehmen, dass Pfarrer Lerchl, und nur dieser, wieder einmal der einzige Oktavprediger sei. Oremus! Und den Vielen, die der Eucharistiefeier somit nicht in real präsenter Gestalt beiwohnen könnten, aber auch allen anderen, würde des Weiteren eine „Rochusfesttüte“ erarbeitet werden, mit deren Inhalt ein jeder den Gang ins Weinzelt gut auf dem heimischen Balkon simulieren könne. Ergo bibamus!

Bilder
Die 1893-95 erbaute Wallfahrtskapelle auf dem Rochusberg.
© Bistum Mainz
© Martin Kraft, CC BY-SA 3.0
Louise Seidler: J. W. Goethe, 1811 (gemeinfrei)
C.C. Vogel von Vogelstein: Louise Seidler, 1820 (gemeinfrei)
Louise Seidler: Auszug des heiligen Rochus, 1816 (gemeinfrei)
J.H.W. Tischbein: Goethe in der Campagna, 1787, Ausschnitt (gemeinfrei)
Wallfahrtskapelle auf dem Rochusberg © Manfred Heyde, CC BY-SA 3.0

 

16. August 2020 || ein Beitrag des Kunsthistorikers und Germanisten Markus Juraschek-Eckstein