Zweiter Weihnachtstag

Das neue Jahr steht unmittelbar bevor. Heute am Zweiten Weihnachtstag, der in der katholischen Tradition eigentlich Stephanustag heißt nach dem ersten Märtyrer des Christentums, dem Diakon Stephanus, dessen Steinigung laut der Apostelgeschichte der noch unbekehrte Saulus, der spätere Paulus, beobachtete, schauen wir noch deutlicher als gestern auf die Zukunft und natürlich auch auf das vor uns liegende Jahr, ja: auf das vor uns liegende Leben, für den einen länger, für den anderen kürzer, rein statistisch und nach menschlichem Ermessen natürlich. Und die Tage nach Weihnachten, „zwischen den Jahren“ (an denen man keine Wäsche waschen darf…) wie der Volksmund so treffend sagt, stürzen uns unversehens in grüblerische Zerrüttung mit einer ganzen Reihe von höchst unangenehmen Fragen. Zumeist in einer leicht verkniffenen buchhalterischen Attitüde ermüdender Berechnung und Bilanzierung: Wird das kommende Jahr gelingen? (Aber nach welchen Maßstäben?) Werden sich nach dem freudigen Fest Weihnachten zumindest einige Hoffnungen und Träume und Sehnsüchte erfüllen? Manchmal auch ganz simpel: Werde ich auch weiterhin wenigstens etwas auf meine Kosten kommen? Und manchmal ganz brutal: Werde ich lebendig das Ende des kommenden Jahres oder das nächste Weihnachten erleben? Und wünsche ich das für mich und meine Angehörigen?

Wer irgendwie an einen Gott glaubt, für den werden diese Fragen übrigens keineswegs einfacher, beantwortbarer oder gar auflösbarer, kein Gedanke! Im Gegenteil, in religiöser Glaubenssuppe lang genug gekocht, haben solche Fragen die unangenehme Eigenschaft, allmählich fast unverdaulich oder zumindest ungenießbar zu werden. Denn wer ganz einfach und quasi normal an Gott glaubt, der verbindet mit diesem Gott ja unversehens eine bestimmte Erwartung. Christlich glauben wir ja an Gott und das ewige Leben unbewußt immer in der Hoffnung auf Erlösung von Leid und Vergeblichkeit. Sonst wäre die Rede von Gott sinnlos. Aber in diesen Glauben an einen erlösenden Gott schleicht sich sehr leicht als unliebsamer Schmarotzer die Hoffnung auf Erlösung von irdischem Leid und irdischer Ohnmacht. Und sehr leicht glaubt dann der christliche Mensch: Wenn Gott mich dereinst aus dem Tod ins ewige Leben rettet, dann muß es auch jetzt und hier und heute (oder zumindest morgen oder übermorgen oder jedenfalls in diesem Jahr) spürbar und sichtbar werden. Wer an Gott glaubt, den belohnt dieser Gott. Falls nicht, dann gibt es ihn nicht. „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ benennt das etwas sperrig die biblische Wissenschaft und meint genau diese im ganzen Ersten Testament spürbare Verzweiflung darüber, daß es dem frommen und gottesfürchtigen Menschen nicht besser geht als den anderen Menschen. Das ist die große Frage im Buche Hiob. Und das war die große Frage nach dem historischen Erdbeben von Lissabon am Allerheiligentag 1755, als alle gottesgläubigen Menschen in den Kirchen der Stadt von den herabstürzenden Gewölben erschlagen wurden, während die weniger Frommen zuhause in ihren Betten mit billigen Blessuren überlebten. „Macht Gott glücklich?“ fragte vor vielen Jahren einmal der katholische Theologe Johann Baptist Metz und antwortete unverblümt: „Ich zweifle!“

Das Jahr ist noch jung genug, um sich vorzunehmen: Ich will nicht an Gott glauben um der Belohnung Willen. Und ich will nicht an die Liebe von Menschen glauben, noch sie lieben und auf sie arglos und heiter zugehen, um der Belohnung Willen oder auch nur mit dem bösartigen Wurm des Hintergedankens im Hinterkopf: Lohnt sich meine Mühe? Mein Verzeihen? Mein Nachgeben? Meine Nächstenliebe, und erst recht: meine Gottesliebe? Nein, nein, nein, Liebe und Glaube dürfen niemals unter die Räder der Bilanz und des Lohnes geraten und in die dumpfe Stube der Buchhaltung eingesperrt werden. Hat sich denn etwa die Menschwerdung in Betlehem für Gott gelohnt? Angesichts der seither von Menschen vollbrachten Gräueltaten wohl eine allzu berechtigte, wenn auch etwas ungewohnte Frage. Nein und nochmals nein: Gott liebt umsonst, buchstäblich und stets in der stillen Erwartung auf unsere liebevolle Antwort. Und glauben und lieben muß man, weil es beglückt, nicht weil es sich berechenbar lohnt. Irgendwann wird es sich dann vielleicht auch einmal gelohnt haben, wer weiß. Jedenfalls weit jenseits von Weihnachten.

Prof. Dr. Peter Schallenberg, Theologische Fakultät Paderborn