Vom Kommen, Gehen, Bleiben – Poetische Reflexionen zum Advent 2020

„Adventus“ heißt Ankunft. Vor der Ankunft steht die Erwartung. Wo bleibst Du, Trost der ganzen Welt, darauf sie all ihr Hoffnung stellt? (Friedrich Spee von Langenfeld) Kommt er, oder kommt er nicht? O komm und errette den Menschen (Antiphon „O rex gentium“), eile und schaffe uns Hilfe! (Antiphon „O Immanuel“).

Seit einigen Tagen ist klar: Er kommt – der Coronaimpfstoff! Eigentlich werden es mehrere sein und eigentlich müsste man sie Anti-Impfstoffe nennen. Aber egal. Hauptsache er (oder sie) kommt (kommen)! Es ist nur noch eine Frage der Zeit und eine Frage des Für-wen-zuerst. Zwar wird er (oder sie) nicht alle schützen. Aber 70 bis 95 Prozent Wirksamkeit sind in der Medizin fast schon so viel wie Für-alle. O Schlüssel Davids: o komm und öffne den Kerker der Finsternis und die Fessel des Todes (Antiphon „O clavis David“)! So dürfen wir uns also auf diesen Retter wie auf Weihnachten freuen.

Aber ach, Weihnachten! Da kommst du nun, du altes zahmes Fest, und willst, an mein einstiges Herz gepresst, getröstet sein. Ich soll dir sagen: du bist immer noch die Seligkeit von einst und ich bin wieder dunkles Kind und tu die stillen Augen auf (Rainer Maria Rilke). Immer neue behördliche Schutzvorkehrungen gegen das Virus lassen weniger den Retter unser als uns als Retter des Fests erscheinen. Statt Niklaus stehen heuer Beschränkungen des geschäftlichen und familiären Feierns ins Haus. Auch das Geld sitzt bei vielen im Coronajahr nicht mehr so locker. Mit Kurzarbeitern zählen Arbeitslose schon zweieinhalb Millionen (Rolf Hochhuth).

Vielleicht sollten wir uns deshalb heuer mit der Eigenankunft begnügen und einfach bei uns selber einkehren. Das Zuhausebleiben haben wir ja schon im Frühjahr geübt. Oh, süßer Weihnachtsvorgeschmack: Mit einem neuen Bücherpack, der mich zu toller Neugier reizt, komm ich nachhaus und mache Licht. So heimlich wars seit Jahren nicht! Aufs alte Sofa ich mich flack und schmökre erst in Schnick und Schnack (Eugen Roth). Aber Lesen ist nicht eines jeden Sache. Und dann gibt es noch diejenigen, die uns querdenken lehren wollen und sagen, dass es gar nichts gäbe, was da wäre, und folglich auch nichts kommen könne, um dem, das nicht da sei, zu gehen heiße. Die wildgewordenen Scheibenwischer putzen nur Glas, doch öffnen keinen Ausblick (Rolf Hochhuth). Was also tun? Wie können wir im Advent 2020 die Weihnacht angehn? Kommt er, dessen Ankunft uns verheißen ist?

In einem großen freien Land auf dieser Welt ist es so, dass, wenn der Eine kommt, der Andere geht. Gemeint sind die USA. In diesem Jahr ist es aber so, dass, wenn auch der Neue und Ältere bereits erwählt, sich aufgemacht und zur Ankunft anschickt, es nicht sicher ist, ob der unwesentlich jüngere Alte nicht doch bleiben möchte. Dabei sind die Erwartungen auf die Wiederkehr des Alten, der schon einmal zu Seiten eines Großen saß, sehr hoch. Es wird eine Rute aufgehen und ein Zweig aus seiner Wurzel, auf welchem wird ruhen der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rats und der Stärke (Jes 11, 1-2). Nun ja, der Text aus dem Jesaja ist ein starker Vergleich, ein zu starker. Doch wie viele haben nicht nach all dem Lügengekrächz und den Disruptionen des amtierenden Anti-Geists die Nachricht von dessen Sturz aus dem Weißen Elysium als Erlösung empfunden. Die Nachricht, wer hörte sie nicht? Die Dunkelheit ruft sie ans Licht. Licht antwortet der Dunkelheit. Die Nachricht schreit über alle Zeit. Aufregende Nachricht. Die Nachricht, wer nimmt sie an? Wer schlägt die Dämonen in Bann? Wer tritt aus dem Dunkel ins Licht? Wer glaubt das: Fürchte dich nicht!? Aufregende Nachricht (Rudolf Otto Wiemer).

Advent ist Neuanfang. Egal ob der eine geht oder der andere kommt – mit dem Advent beginnt das Kirchenjahr. Advent ist Neujahr. Ein ganzes Jahr beginnt, im Zyklus guter Hoffnung und Geburt und Sterben, Auferstehung Aller Seelen Toten Sonntag und dann wieder aufs Neue das Alte Ewige Immer Anders Gleich (Johann Fischrath). Bleiben kann demnach keiner, aber wiederkehren. Einer aber ist unter uns, der neu ist, und von dem zu fürchten ist, dass er bleibt: der Klimawandel. Wo ist der Schnee jetzt: die alten Bilder sind Bilder mit Schnee (Jürgen Becker). … Und natürlich war früher alles anders: Es treibt der Wind im Winterwalde die Flockenherde wie ein Hirt, und manche Tanne ahnt, wie balde sie fromm und lichterheilig wird (Rainer Maria Rilke). … Selbst das Immergrün war einst trotz Abholzung und Vertreibung aus dem Waldesparadies in hoffnungsvoller Freude … doch heut: Hautfahl wie unrasierte Wangen die Äcker unterm Regen. Agonierendes Land, dem selbst der Schnee ausbleibt – wie einem Sterbemüden nicht der Tod kommt (Rolf Hochhuth).

Vielleicht hilfts, bevor der Text in Defätismus sinkt, den anderen Glück-in-abendliche-Häuser-Bringer, der angeblich auch in jedem Jahr aufs Neue kommt, nun anzurufen: Lieber guter Weihnachtsmann, weißt Du nicht, wies um uns steht? Schau dir mal den Globus an. Da hat einer dran gedreht. Alle stehn herum und klagen. Alle blicken traurig drein. Wer es war, ist schwer zu sagen. Keiner wills gewesen sein. Lass den Christbaum und die Nüsse diesmal, wo der Pfeffer wächst. Kommen sollst du, aber bloß mit Stock und mit der Rute. (Und nimm beide ziemlich groß.) Breite deine goldnen Flügel aus und komm zu uns herab. Dann verteile deine Prügel. Aber, bitte, nicht zu knapp. Ziehe denen, die regieren, bitteschön, die Hosen stramm. Komm, erlös uns von der Plage, weil ein Mensch das gar nicht kann. Ach, das wären Feiertage! Lieber, guter Weihnachtsmann (Erich Kästner). Doch leider gibt’s den Weihnachtsmanne nicht. Er ist eine Erfindung von Coca-Cola (womit auch in diesem Beitrag eine unserem Kulturkreis weihnachtstypische, allerdings nicht honorierte Produktwerbung platziert wäre).

Sollten wir uns also statt von jener Chimäre ausschließlich mit den Gaben des Geistes, die ja im Unterschied zum Weihnachtsmann nicht sichtbar, aber wegen ihrer apostrophierten Wahrhaftigkeit wirklich sind, beschenken und nun endlich mal und lediglich den echten Geist der Weihnacht bei uns Einkehr halten lassen? Wenn es auf Weihnachten geht, kehren die Dichter zu ihren tüchtigen Frauen zurück. Ach, was sind sie das ganze Jahr über die Erde gelaufen, was haben sie alles gehört, was nachgedacht, ihre Zeitungen geschrieben, durch Fabriken gestiegen, den Kartoffeln brachten sie menschliche Umgangsformen bei. Sie verschärften den Klassenkampf, meditierten über das Abstrakte bei Fischen, bis eines Tags durch ihre dünnen Mäntel die Kälte kommt, Sehnsucht nach einem wirklichen Fisch in der Schüssel sie jäh überfällt und Erinnerung an die Frau, die sich am Feuer gewärmt hat. Da bleibt der Zorn in den großen Städten zurück, sie kommen mit seltsamen Hüten für ihre Kinder, spüln sogar Wäsche, spielen Klavier, bis sie es satt haben, nach Neujahr, da brechen sie Streit vom Zaun, gehen erleichtert weg in den Handschuhn von unterm Weihnachtsbaum (Sarah Kirsch). … Da waren die Erwartungen zu groß …

… vielleicht hilft die Umkehrung, eine Art Dialektik des Ankommens: Nicht ER kommt, sondern wir gehen! Diese Idee ist so alt wie die Erzählung von der Geburt in einem armen Stall. Es begab sich aber zu der Zeit, da die Bibel ein Bestseller war, übersetzt in mehr als zweihundert Sprachen, dass alle Welt sich fürchtete: Vor selbstgemachten Katastrophen, Inflationen, Kriegen, Ideologien, vor Regenwolken, radioaktiv, und Raumschiff-Flotillen, die spurlos verglühn. Als die Menschenmenge auf dem Weg war, ungeheuer sich vermehrend, hinter sich die Vernichtungslager der Vergangenheit, vor sich die Feueröfen des Fortschritts, als alle Welt täglich geschätzet und gewogen wurde, ob das atomare Gleichgewicht stimmt, hörte man sagen: Lasst uns nach Bethlehem gehen (Armin Juhre).

(Die kursiv hervorgehobenen Zitate wurden Gedichten zum Advent der genannten Autoren*innen sowie den lateinischen vorweihnachtlichen O-Antiphonen entnommen.)

Titelbild: pxhere, gemeinfrei

28. November 2020 || ein Beitrag des Kunsthistorikers und Germanisten Markus Juraschek-Eckstein